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Was auf dem Spiel steht

von , 27.8.13

Viele, etwa der Soziologe Christoph Butterwegge, rechnen mit der schlechtesten Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl seit dem letzten Weltkrieg.

Schon die letzte Wahl gab genug Aufschluss darüber, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen von ihrer Mitwirkung an der parlamentarischen Demokratie weitgehend verabschiedet. Dies betraf, wie auch Butterwegge feststellt, vor allem sozial benachteiligte Schichten. Wer mal Sozialstruktur und Wahlbeteiligungskarten übereinander legt, wird in der Tat eine erschreckende Übereinstimmung feststellen. Wer die Demokratie retten will, muss die soziale Spaltung überwinden – so könnte eine Lehre aus diesen Studien lauten.

Bei dieser Wahl könnte noch ein Phänomen hinzutreten: die massenhafte Nichtwahl politisch interessierter Mittelschichtsangehöriger. Die Anzeichen dafür mehren sich auf der Rechten (etwa mit Gertrud Höhler oder Peter Sloterdijk), aber auch in linkeren Kreisen. Die großbürgerlich-konservative Kritik entzündet sich in der Regel am vermeintlichen Einknicken Merkels – etwa bei der Eurorettung, dem Mindestlohn, Steuersenkungen oder der Frauenquote. Überall müssten, so die Kritiker, viel härtere Maßnahmen ergriffen werden.

Nichtwählende des linken Spektrums äußern sich ebenfalls. Zumeist sind mangelnde Alternativen zur herrschenden Politik das entscheidende Argument. Es fehle die Wechselstimmung, schreibt Ulrich Horn. Das Fehlen klarer Alternativen zum Bestehenden bemängeln selbst Parteimitglieder, wie die Grüne Katrin Rönicke. Aber auch das Fehlen zukünftiger Herausforderungen wie Wachstumskritik oder Ökologie im Wahlkampf wird angemahnt, z.B. durch den schillernden Professor Harald Welzer.

Rot-Grün zuist kein mobilisierendes Projekt. Einerseits haben die Regierungsjahre dieser beiden Parteien langwährende Spuren im Wähler_innengedächtnis hinterlassen, andererseits wirkt der aktuelle Zustand der alten Tante SPD auf viele nicht vertrauenerweckend.

Denn erwartet wird von vielen ein großer Wurf, eine umfassende Reformperspektive, ein radikaler Schnitt für praktisch alle Lebensbereiche. Trotzdem: unter diesem Entwurf macht man es nicht. Unterhalb dieses Entwurfs, in den ermüdenden Details und Zwängen widerstrebender Interessen, wird Politik für viele fade, beliebig, austauschbar und technokratisch.

Dieser Widerspruch zieht sich auch durch den derzeitigen Wahlkampf: der große Aufbruch, der erwartet wird, der in den Augen vieler einfach notwendig und „dran“ ist, auf der einen Seite; die Lethargie, die grundlegende Veränderungen in einer komplexen, vermachteten Gesellschaft als aussichtlos erscheinen lässt, auf der anderen. Und dann diese Parteien: sinnlos in den Augen vieler, weil vor allem auf die eigenen Interessen bedacht, unflexibel, altbacken und mit immer geringeren Spielräumen. Parteien, so denken viele Politikinteressierte, sind eher Teil des Problems, als Teil der Lösung. Warum, so fragen sie sich, sollte man die auch noch durch eine Wahl legitimieren?

Ja, was denn sonst? Ist es völlig egal, wie Parlamente zusammengesetzt sind?

Die Kritik ist berechtigt: Die Spielräume der Parteien werden immer enger, und trotz vieler Fortschritte besteht immer noch genug innerer Modernisierungsbedarf, etwa im Hinblick auf Mitbestimmungsmöglichkeiten und Kommunikationswege. Eine Partei ist aber nur eine unter vielen Gruppen gesellschaftlicher Akteure. Wer sich für ein politisches Ziel engagieren will, kann das heute an vielen Stellen tun: in NGOs, Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen, Jugendverbänden, Bürgerinitiativen, als Netzaktivist …

Parteien sind mehr denn je in ein Geflecht von Interessengruppen eingebunden. Angesichts ihrer sinkenden mitgliedschaftlichen Verankerung sind sie sogar darauf angewiesen, Input, Informationen und Expertise von außen zu bekommen. Zivilgesellschaft und politische Öffentlichkeit differenzieren sich aus, manche sagen, sie zersplittert. Dazu kommt die immer stärkere Verflechtung der politischen Ebenen, von der Kommune bis zu den Vereinten Nationen. Die großen Kämpfe unserer Zeit finden nicht mehr im Kontext des Nationalstaats statt. Keine gute Zeit für große Entwürfe, die dann auch praktisch umgesetzt werden sollen.

Auf der anderen Seite begrenzen Verwaltungen und Bürokratien die Handlungsmöglichkeiten: Sie besitzen in der Regel das Wissen und die Erfahrung, die Parteien und Fraktionen aus vielerlei Gründen nicht haben können. Oftmals ist die Frage, wer eigentlich wen im Griff hat.

Das verweist auf die immer noch bestehende substanzielle Funktion von Parteien, ihren Fraktionen und Amtsträgerinnen und –trägern: sie sitzen an einer entscheidenden Stelle. Sie bilden das Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und staatlicher Verwaltung. Sie legen die großen Linien des öffentlichen Geldeinnehmens und Geldausgebens fest. Ihre Kompetenz besteht im besten Fall darin, verschiedene Interessen anhand von Werten gegeneinander abzuwägen und zu Kompromissen zu gelangen. Dies gilt auch für SPD, LINKE und Grüne, von denen besonders die ersten beiden eine äußerst heterogene Wählerschaft haben.

Parteien als Scharnier sind nicht mehr die Plattform für große, alles umfassende, detaillierte Zukunftsentwürfe und radikale Lösungen. Diese bleiben Sachbuchautorinnen und –autoren überlassen – anregend, aber zumeist unterkomplex und nicht selten interessengeleitet.

Parteien hingegen sollen glaubwürdig Werte vertreten und diese in praktische Politik in Gesetzgebung und Verwaltung umsetzen. Je nach Situation sind hier mal kleinere und mal größere Schritte möglich, mal radikalere und mal weniger radikale. Parteien sollten dabei sicher mutiger und ehrlicher sein. Sie könnten umfassender und weiter in die Zukunft gerichtet denken. Sie sollten mehr gestalten wollen und Machtauseinandersetzungen mit Interessengruppen nicht scheuen. Und sie sollten eigene Wege erdenken, die sonst niemand auf dem Schirm hat. Es gilt aber auch: je mehr Bewegung in der Gesellschaft, umso mehr Bewegung in der (Partei-)Politik.

Klare Konfliktlinien würden viele Wählerinnen und Wähler wahrscheinlich honorieren, weil sie die Unterschiede deutlicher machen. Andererseits dürfen sie es aber auch nicht übertreiben, denn lauter Parteienstreit liegt beim Politikzuschauer auf der Wegzappskala ganz weit oben.

Wählerinnen und Wähler haben die Möglichkeit, alle vier Jahre diese Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft mit Personal zu besetzen. Das ist nicht die einzige, aber eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu gestalten und zu verändern. Wahlentscheidungen sind schwierig, weil die Wählenden auch sich selbst begegnen, wie Benjamin Stuckrad-Barre das schön beschreibt:
 

„Wenn man darüber nachdenkt: Was meine ich eigentlich mit meiner Stimme? Was ist besser für das Land? Was ist besser für mich: 38 Jahre alt, eine Frau, ein Kind? Und kann, was schlecht für mich ist, gut fürs Land sein – und umgekehrt?“

 
Der alte Kalauer, „Wahlen ändern nichts, sonst wären sie verboten“, stimmt insofern, als dass erst die durch Wahlen Legitimierten in den entsprechenden Mandaten und Ämtern etwas ändern können. Und dass diese auch nicht alles, sondern nur das in ihrem Einflussbereich liegende ändern können. Sie vertreten Interessen, manche von Arbeitslosen, manche von Konzernen, manche von Frauen, manche von Männern, manche von Anlegern, manche von Niedriglöhnern. Diese Interessenvertretung ist dann ein Prozess, in dem es nicht nur auf Überzeugung und Glaubwürdigkeit, sondern auch auf Kompetenzen öffentlicher Kommunikation, die Bildung von Netzwerken und den Austausch mit ebenjener Zivilgesellschaft ankommt – das berühmte Webersche „Bohren dicker Bretter“.

Niemand setzt sich heute auf ein Fahrrad namens Mehrheit und kann vollkommen in die andere Richtung fahren. An diesem Fahrrad zerren ganz verschiedene Kräfte. Wer das Ganze praktisch durchspielen will, verfolge die Debatte zum Thema Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Oder den Lernprozess der neuen Piratenfraktionen in den Landtagen.

Die Begrenzungen des Parlamentarismus, große Gesellschaftsentwürfe zu entwerfen und umzusetzen, sind also bekannt, auch und besonders denjenigen, die in ihm arbeiten. Aber rechtfertigen sie eine Wahlenthaltung? Würden wir nicht auch für viel kleinere Veränderungen in unserem Umfeld etwas tun? Würden wir nicht Nachbarn helfen, vielleicht eine Initiative unterstützen, Zeitung lesen, Petitionen mitzeichnen oder den Müll trennen? Aber ausgerechnet das Wahlkreuzchen würden wir zur Disposition stellen?

Es ist doch für jeden und jede was im Parteienspektrum dabei: Newcomer, die alles anders machen wollen, genauso wie Etablierte, die gar nichts anders machen wollen. Parteien, die für Geld, und Parteien, die für Menschen Politik machen. In den Positionen und Programmen ist das Spektrum sehr weit gestreut. Manchen wollen Dauerregierung sein, andere das Salz in der Suppe der Herrschenden.

Nichtwählen wird faktisch, egal wie es gemeint ist, als Zustimmung zur herrschenden Politik wirken. Die Merkelsche CDU setzt geradezu auf Postdemokratie als Wahlkampfstrategie. Sie hat kein mobilisierendes Element im Wahlkampf. Die CDU spricht nicht über die vor uns liegenden Herausforderungen und Entscheidungen. Aber sollte man ihr das durchgehen lassen? Wer nicht wählen geht, trifft keine Aussage, wie sich Partei X oder Y verändern sollte, damit sie wieder wählbar ist.

Auf dem Spiel steht dabei, dass die Veränderungsfähigkeit des Gemeinwesens von den gegenseitigen Impulsen lebt. Reißt der Lernprozess ab, den Parteien durch gute Wahlergebnisse anderer Parteien („Abstrafen“) durchmachen, geht es auch nicht vorwärts.

Oder es geht sogar rückwärts. Die Ablehnung des „Systems“ ist heute vom organisierten neofaschistischen Spektrum in die Mitte gerückt. Sarrazins Pamphlet „Deutschland schafft sich ab“ ist eines der meistverkauften Sachbücher seit 1945, die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“ die aktivste Partei bei Facebook. Der anfangs angesprochene rechte Reflex erstreckt sich nicht nur auf Euro-Kritik, sondern zieht sich über die von Sarrazin und anderen befeuerten deutschtümelnden Grundmotive durch die ganze Gesellschaft. Diese Entsolidarisierung der Mittelschichten ist vielfach untersucht – auch in ihren Ursachen in der wirtschaftsliberalen Politik der letzten Bundesregierungen.

Hier geht es um eine Kehrtwende. Demokratische Wahlen und die Debatten um die Zukunft der Gesellschaft, die in ihrem Umfeld geführt werden sollten, sind ein Fanal gegen die Ohnmacht, die Verängstigung und den Hass aus der Mitte der Gesellschaft.

Ein echtes Umsteuern, ein Politikwechsel, eine Stärkung von sozialstaatlichen Ausgleichsmechanismen, direkter Demokratie und ihre Modernisierung für eine heterogene Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, ein soziales Europa wird ohne progressive und reformierte Parteien kaum möglich sein. Neben der lange fälligen Ausweitung direkter Demokratie und der zu forcierenden Entwicklung und Nutzung digitaler Partizipationsmöglichkeiten bleibt ein großer Raum zu gestalten. Parteien werden weiter Macht abgeben, aber sie werden nicht überflüssig. Sie werden gebraucht zur Vermittlung und zum konkreten, institutionellen Handeln.

Parteien, wenn sie unter gesellschaftlichem Druck stehen, könnten ein Korrektiv zu den Kapitalanlegern und den Märkten auf der einen und den Bürokraten auf der anderen Seite sein, die „anderen“ Herrscher in unserer Gesellschaft. Durch Nichtwählen wird dieser Prozess des Umsteuerns und Unter-Druck-Setzens von Parteien jedoch nicht eröffnet, sondern beendet. Politik, die nicht gewählt wurde, aber handelt – eine beängstigende Vorstellung.

 
Tobias Schulze ist Referent der Linksfraktion für Forschung und Innovation. Er bloggt auf www.prager-fruehling-magazin.de und www.digitale-linke.de

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