#Bundestagswahl

Einstimmung auf die Zeit der Koalitionspolygamie?

von , 2.9.09

Wahl paradox: Selten zuvor war die CDU an einem Wahltag gleich dreimal stärkste Partei, so wie bei den Landtagswahlen Ende August in Sachsen, Thüringen und im Saarland. Und dennoch war sie der gespürte Verlierer. Zwar mit weiterhin deutlichem Vorsprung vor der SPD, doch was mehr zählt, sind offensichtlich die unklarer werdenden Machtoptionen. Geht am 27. September Schwarz-Gelb? Oder muss sich auch die einzig noch verbliebene Volkspartei CDU/CSU auf das Zeitalter ständig wechselnder Koalitionen einrichten? Nicht die Wähler sind wichtig. Viel bedeutender werden die anschließenden Bündnisverhandlungen, die bei annähernd gleichen Parteistärken morgen das Ergebnis von gestern völlig auf den Kopf stellen können.

Denn der Ländertrend ist nun auch in den Bund eingefallen: Noch vor sechs Jahren wählten 80 Prozent der Bundesbürger eine der beiden großen Parteien. Bei der Wahl am 27. September können beide froh sein, zusammen die 60-Prozent-Marke zu knacken. Im Osten liegen Union und SPD nur noch bei rund 50 Prozent: Die Großen sind klein, die Kleinen groß geworden. Zweierkoalitionen eher die Ausnahme. Und die Kleinen spielen die Rolle des Königsmacher, die ihnen aufgrund ihrer Wähleranteile im Grunde nicht zusteht. Links sei Dank.

Die wichtigste Botschaft aus Dresden, Erfurt und Saarbrücken ist die „neue Unübersichtlichkeit“. Ist die schöne Zeit der stabilen Zweierkoalitionen oder gar die des Alleinregierens vorbei? Wird nun von den Parteien und von den Wählern ein Höchstmaß an Flexibilität bei der Regierungsgestaltung und -bewertung gefordert? Steckt Deutschland bereits mitten im „Toyota-Fieber“: Nichts ist unmöglich? Bricht nun das neue Zeitalter der Koalitionspolygamie an?

Indem sich ausgerechnet der klare Wahlverlierer SPD (schlechteste aller Zeiten an der Saar, in Thüringen unter 20 Prozent, in Sachsen gerade mal 10 Prozent) strategisch ein Stück Macht zurück erobert? Denn trotz bemitleidenswerter Resultate hat die SPD ihre Chancen für den Bundestag verbessert. Keine Partei spielt so virtuos auf der Koalitionsklaviatur: Schließlich sind die Sozialdemokraten derzeit irgendwo mit jeder demokratischen Partei verbandelt.

Ein Grund der herben Verluste für die Union in Thüringen und an der Saar ist das in Krisenzeiten veränderte Wirtschaftsbild der Wähler. Mit ihrer alten Wirtschaftskompetenz gelingt es der CDU immer weniger, zu punkten. Das Wissen um das Wärmebedürfnis der Wähler ist bei der Union weiterhin wenig ausgeprägt. Wirtschaft ist in Zeiten der Entsolidarisierung nicht mehr nur das Herstellen eines guten Wirtschaftsklimas. Sondern mit gleicher Wertigkeit auch das Social-Charta-Denken, also das gleichzeitige Einfordern sozialer Mitarbeiterverantwortung nach dem Modell des Rheinischen Kapitalismus. Die „gute“ Wirtschaft bewertet beide Teile der sozialen Marktwirtschaft gleichwertig. Dies wird von Teilen der Union längst nicht so gesehen. Eine wachsende Zahl von Wirtschafts-Protestwählern ist die Folge.

Kann man sich angesichts von Globalisierung und demografischer Entwicklung allein auf Wachstum und Aufschwung verlassen? Oder sind Reichensteuer, Erbschaftssteuer, Schutzschirme und Manager-Restriktionen doch die besseren Alternativen? Schon oft hat die Polemik die Logik besiegt.

Der 30. August geht in die Politikhistorie möglicherweise auch als Renaissance einer Politik der klaren Kante ein. Und da leiden die beiden Großen unter der „neuen Beliebigkeit“ ihrer Bundesparteien: Deren Politik ist für viele Wähler ohne erkennbaren Markenkern. Während die Kleinen mit eindeutigen Botschaften: „Wir sind gegen alles“ (Linke) – „Steuern runter“ (FDP) oder „Wirtschaft ökologisieren“ (Grüne) –  in Verbindung gebracht werden, wissen die Wähler längst nicht mehr, wie sich die sozialdemokratisierte CDU im Einzelfall entscheidet. Und wer bei der SPD das Sagen hat. Deren inzwischen etwa 60 Prozent Linken – oder die in die Minderheit abgerutschten Schröderianer?

Die Widerstände, mit Links an die Macht zu kommen, sind zumindest auf Länderebene offenbar kleiner als befürchtet, ausgerechnet während der größten Rezession der letzten Jahrzehnte. Das Ypsilanti-Debakel war also nicht das Zusammengehen mit den Knallroten, es war die Unaufrichtigkeit der Spitzenkandidatin.

Waren also die Landtagswahlen typisch und damit richtungsweisend für den 27. September?

Nur in Sachsen herrschte Normalität. Dort wurden Kompetenz, die Persönlichkeit der Ministerpräsidenten seit Biedenkopf, die guten Kennwerte bei PISA, Staatsverschuldung oder Wirtschaftskraft gewählt. Und Schwarz-Gelb. In Sachsen, dem Bundesland mit dem größten Anteil an Wählern, die stolz auf ihr Land sind, zählen noch Inhalte und Wirtschaftsoptionen. Und nicht persönlicher Ehrgeiz, Koalitionen und Demonstrationen.

Untypisch dagegen sind die Wahlen in Thüringen und an der Saar. In Erfurt ging es nicht um inhaltliche Auseinandersetzung, zwei völlig situative Themen spalteten die Wähler: Die eigenartige Außendarstellung von Ministerpräsident Althaus, der zum zweiten Male hintereinander deutlich – diesmal 12 Prozentpunkte – verlor. Zudem die Frage: Geht das – Nicht Koch, sondern Kellner als Ministerpräsidenten – nachdem SPD-Kandidat Matschie nur drittstärksten Kraft geworden war. Kann es einen SPD-Ministerpräsidenten unter linker Duldung geben?

Dass Thüringen wirtschaftlich sogar Sachsen überholt, in Bildungsrankings oben und infrastrukturell gut ist, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Die Thüringer waren ganz einfach Althaus-überdrüssig, nachdem er seinen Skiunfall zur politischen Inszenierung nutzte und die Partei wie eine Ikone an ihm festhielt.

Auch an der Saar spielten Macht und Möglichkeit, nicht politische Inhalte, die wahlentscheidende Rolle. Wie kann man als kleiner Mann besser seinen Frust gegen die Etablierten zum Ausdruck bringen, als durch die Wahl des angesehenen Alt-Ministerpräsidenten und CDU- und SPD-Hassers? Das allerdings zeigt, dass von Lafontaines linkem Wahlerfolg, dem ersten in einem westlichen Bundesland, nur ein geringes Signal für Berlin ausgeht. Sein neuer Rekord, 19 Prozent in einem Bundesland, ist zum großen Teil der spezifischen Situation in einer Region geschuldet, die gerade mal über gut einem Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung verfügt.

Denn auch das ist die Wahlwirklichkeit 2009, wenn auch nur im Saarland: Nicht die stärkste, nicht die Katapult-, nicht die Rekordminuspartei, ausgerechnet die mit 5,9 Prozent seltsam schwachen Grünen, die erst nach einer Zitterpartie in den Saarbrücker Landtag einzogen, sind zum Königsmacher geworden. Ausgerechnet der mit Abstand schwächste Kleine könnte, falls es nicht doch noch zur “Großen” kommt, in Koalitionsverhandlungen das Maximum aushandeln.

Wie die SPD deutliche Niederlagen zu gespürten Siegen hochstilisiert, sollten die politischen Gegner nun damit rechnen, dass sich die SPD nicht mehr länger der Koalition mit der Linken verschließen wird: Sie thematisiert ihre neue Machtoption sogar deutlicher denn je. Die Genossen sehnen Rot-Rot herbei, gerade weil Schwarz-Gelb deutlicher denn je das rot-rote Schreckgespenst stigmatisiert, das nun auch nach Westen expandiert. Mit ungewissem Ausgang.

Landtagswahl war gestern. Heute zählen die Auswirkungen auf dem 27. September, wo sich die wie Blei um die 25 Prozent liegende SPD eventuell doch noch der 30-Prozent-Marke nähern könnte. Drei Faktoren können nach sechs konstanten Vorwahlmonaten nun doch noch die Bundestagswahl beeinflussen:

  • Die nach Saar und Thüringen nicht unrealistische Dämonisierung der bislang wahrscheinlichen schwarz-gelben Koalition: Schafft Steinmeier, wie einstmals Schröder, das Schreckgespenst des kalten neoliberalen Sozialabbaus an die Wand zu malen? Gewinnt die SPD mit ihrem Strategiewechsels an Boden? Oder geraten die Sozialdemokraten nur noch stärker in die Bredouille, weil sie dadurch bereits weit vor dem Wahltag nicht mehr auf eigenen Sieg, sondern auf die Niederlage der Anderen setzen? Viel hängt davon ab, ob die Spitzen von Union und SPD den Wählern die Angst vor einem Sozialabbau nehmen können.
  • Schafft die SPD angesichts zweier roten Verbesserungs- und schwarzen Verschlechterungsbalken doch noch die Stimmungswende? Gelingt es ihnen, allein aus der Tatsache, dass die CDU natürlich nicht das Traumergebnis 2004 halten konnte, den Last-Minute-Swing zu thematisieren? Ist eine hohe CDU-Niederlage bereits ein SPD-Sieg? Selbst wenn sie in völlig atypischen Politikumfeld zustande kamen?
  • Wie entwickelt sich die Angst vor Rot-Rot, das nun auch im Westen möglich erscheint? Muss die SPD weiterhin mit der Wählerwut rechnen – oder leitet sie damit auch im Westen die Normalisierung ein?
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