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Town Hall vs. Duell? Ein Sender- und Parteienklüngel entscheidet über die TV-Debatten

von , 13.5.09


Mit dem Zusammentreten der Bundesversammlung beginnt nun endgültig die große Wahlsaison des Jahres 2009 – und überraschend früh startet das traditionelle Gezänk um Art und Ablauf des un-heimlichen Höhepunktes im Fernsehwahlkampf: das TV-Duell der Spitzenkandidaten wirft seine Schatten voraus.

Ein erster Impuls kommt dabei aus Köln, wo bereits am Sonntag der Privatsender RTL Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Town Hall Meeting empfängt. Prompt irrlichtern Politiker, Medien- und Kommunikationsexperten ob der Sinnhaftigkeit des Formats um die Wette, Guido Westerwelle darf sich in der FAZ als leidgeprüfter Ausgesperrter inszenieren und von hinter den Kulissen hört man das Zähneknirschen der Verhandlungspartner, die sich um Duell-Details balgen.

Beinahe all dies war vorhersehbar, denn die nur in Deutschland brachial als „Kanzlerduell“ bezeichneten Fernsehdebatten leiden seit ihrer Einführung 2002 an einem Geburtsfehler: es gibt keinerlei schlichtende Instanz, die den formalen Rahmen des letzten politischen Hochreichweitenformats der „alten Medien“ organisiert. Die Ausgestaltung der Debatten liegt auch bei der dritten Auflage in den Händen der Hauptbeteiligten – den marktbeherrschenden Sendern und Netzwerken ARD, ZDF, RTL und ProSiebenSAT.1 sowie den einstmals „großen“ Volksparteien CDU und SPD.

Die Argumente für und gegen die beim Publikum äußerst populären Debatten liegen schon lange auf dem Tisch. Die „Duelle“ gelten in Deutschland jedoch nicht in erster Linie als notwendiges Element des Wahlkampfs mit positiven Folgen für Wählerinformation und Wahlbeteiligung, sondern vor allem als Vehikel für die Darstellung der Spitzenkandidaten und als Quotengarant für die Sendeanstalten.

Mit Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung und den politischen Bildungswert der Veranstaltung ist der seinerzeit gestellten (und in 2005 wiederholten) Diagnose der „Kommission zu den Kanzlerdebatten“ nicht viel hinzuzufügen – leider ist die 2002 veröffentlichte Erklärung des damals beim Grimme-Institut angesiedelten Gremiums nicht mehr online verfügbar. Die Analyse aus dem Jahr 2005 findet sich auf den Seiten des Instituts für Medienpolitik, das die Federführung für die zweite Auflage der Debatten übernommen hatte.

Zu berichten wäre allenfalls über die zwischenzeitliche Etablierung des Debattenformates bei Landtagswahlen, mit Höhe- und Tiefpunkt in Hessen: die Auseinandersetzung zwischen Roland Koch und Andrea Ypsilanti 2008 markierte einen für die Maßstäbe der Landespolitik erheblichen Publizitätsgewinn, kontrastiert von der Debattenblockade zugunsten einer chaotischen Allparteienrunde und kaum messbaren Einschaltquoten im Folgejahr (mehr dazu hier).

Der immer wieder gerne bemühte Vergleich zu den Presidential Debates in den USA bleibt viel zu oft an der hochglanzpolierten medialen Oberfläche hängen – zwar wird durchaus auf die Systemunterschiede zwischen präsidialer und parlamentarischer Demokratie hingewiesen, nicht aber auf die grundsätzlichen Konstruktionsmerkmale des US-amerikanischen Debattenwesens. Durch die Einschaltung der Commission on Presidential Debates, einer eher kleinformatigen Nichtregierungsorganisation, entsteht nämlich eine „Triple Agenda“ (Alan Schroeder), ein koordinierter Trialog zwischen Politik und Medien unter Einbeziehung der Öffentlichkeit.

In Deutschland existiert lediglich eine „Doppelte Agenda“, die durch die Vereinnahmung des Formates durch Politik und Medien zu charaktersieren ist: keine unabhängige Instanz hat Einfluss auf die Rahmenbedingungen oder die inhaltliche wie formale Gestaltung. Die Rolle der Wählerschaft wird auf die eines passiven Publikums reduziert, das heimliche Schachern der Unterhändler aus Politik und Medien weist auf einen Abschottungsreflex gegenüber der breiten Öffentlichkeit hin. Transparenz sieht anders aus.

Und nun also ein Town Hall Meeting, das am Sonntag unter dem sperrigen Titel „2009 wir wählen. Zuschauer fragen – Bundeskanzlerin Merkel antwortet“ ab 21.45 Uhr aus dem RTL-Hauptstadtstudio gesendet wird. Im strengen Sinne handelt es sich dabei eher um eine politische Informations- und Interview-Sendung mit Elementen, die dem US-amerikanischen Modell der Town Hall-Debatte entliehen sind. Eine erste Abweichung ist bereits die Solovorstellung von Angela Merkel, denn das amerikanische Referenzformat ist eingebettet in den Debattenzyklus der Präsidentschaftswahl und steht gleichzeitig beiden (1992 sogar drei) Hauptbewerbern um das Weiße Haus offen.

RTL möchte sein „Bürgertreffen“ gerne auch mit anderen Spitzenpolitikern durchführen, mindestens wohl mit Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier, aber nicht unbedingt mit allen Spitzenkandidaten – so RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel kürzlich im Rahmen des Trendforum TV. Dass auch Guido Westerwelle auf eine Einladung hofft, ist dem recht einseitigen Gespräch in der FAZ zu entnehmen.

Wie wird das Town Hall Meeting Marke RTL nun aussehen? Etwa einhundert „ganz normale Bürger“ (RTL-Programmankündigung) erhalten Gelegenheit, ihre Fragen an Angela Merkel zu richten. Auch die anderswo etwas vorschnell vermissten „2.0-Elemente“ finden bei der Vorbereitung ihren Platz, denn möglich ist auch die Online-Einsendung von Frage-Videos, angelehnt an die populären CNN/YouTube-Debates aus dem vergangenen US-Wahlkampf.

Die Auswahl und das dramaturgische Arrangement der Fragen obliegt RTL, das somit die inhaltliche Linie der Sendung bestimmt. Der Ablauf der Sendung wird durch eine Doppelmoderation strukturiert, an der Seite von Peter Kloeppel steht Spiegel-TV-Moderatorin Maria Gresz. Das Moderationsduo leitet Themenblöcke ein und steht für Nachfragen an die Kanzlerin parat, sollte das Studiopublikum zu zaghaft agieren.

Darüber hinaus sollen auch einzelne Fragesteller per Einspielfilm vorgestellt werden, spätestens an dieser Stelle weicht das Town Hall Meeting von der ursprünglichen Formatidee ab. Zwar werden auch bei der US-Variante die Fragesteller gecastet (in der Regel durch ein „unabhängiges“ Meinungsforschungsinstitut, die eine an demografischen Merkmalen orientierte Auswahl unentschlossener Wähler vornimmt), doch beschränkt sich deren Rolle auf den unmittelbaren Vortrag ihrer „persönlichen“ Frage an die Kandidaten.

Im Zuge der Wahlberichterstattung begleitet RTL ausgewählte Bürger durch das „Superwahljahr“ und setzt deren individuelle „Geschichte“ in einen Bezug zu den größeren Themen des Wahlkampfs – nun auch im Town Hall Meeting. Dagegen ist zwar prinzipiell nichts einzuwenden und für die Dramaturgie der Sendung mag es durchaus dienlich sein, nur verwischt diese Vorgehensweise vollends die Idee der mehr oder weniger offenen „Bürgersprechstunde“. Auch wenn RTL selbst auf ein Live-Feedback (Call-In, Zuschauer-Chat etc.) zu verzichten scheint, bleibt abzuwarten, inwiefern das Publikum bereits von US-amerikanischen Vorbildern gelernt hat. Im vergangenen Jahr verzeichneten Live-Blogs während der Debatten große Aufmerksamkeitserfolge, und über Twitter meldeten sich unzählige Instant-Kommentatoren zu Wort.

Ein echtes Konkurrenzformat zum etablierten „Kanzlerduell“ ist das Town Hall Meeting schon durch den „Alleingang“ von RTL nicht, eine Auswirkung auf die Gestaltung der quasi-offiziellen Formate im Herbst scheint unwahrscheinlich. Voraussichtlich im September, nach der Dreifach-Wahl in Sachsen, Thüringen und dem Saarland, dürften ein bis zwei Debatten im klassischen Press Panel-Format mit mehreren Fragestellern arrangiert werden. In den USA gilt die umständliche Lösung längst als antiquiert und ist vom Modell des Single Moderator verdrängt worden. Dem Vernehmen nach streben die vier Sender wie im Jahr 2002 ein Splitting in eine „öffentlich-rechtliche“ und eine „private“ Debatte an, damit jeder Sender zumindest die Hälfte des Interview-Tischs mit einer Ankerperson besetzen kann.

Immerhin – die RTL-Initiative bringt Bewegung in die Diskussionen um die Rolle hervorgehobener Debattenformate im Wahlkampf und vielleicht auch in die komplexer gewordene, digital aktivierte Medienlandschaft. Angesichts der verfahrenen Situation, die von undurchsichtigen Absprachen zwischen Politik und Medien gekennzeichnet ist, darf man sich darüber durchaus freuen. Auch wenn die tatsächliche Ausführung wenig mit der eigentlichen Debattenform zu tun haben dürfte, könnte das „Townhallmeeting“ (RTL-Programmankündigung) Anregungen für den weiteren Verlauf des Wahljahres geben.

Für eine unmittelbar bevorstehende Wahlentscheidung kommt der Impuls aber in jedem Fall zu spät: im Vorfeld der Wahl des Bundespräsidenten wären eine oder mehrere Debatten, durchaus auch als Town Hall Meeting, eine interessante Variante gewesen. Problematisch ist hierbei zwar die Tatsache, dass mit der wahlberechtigten Bundesversammlung eigentlich nur eine sehr begrenzte „Zielgruppe“ existiert, die von den Kandidaten nur schwer adressiert werden kann. Doch im Sinne einer politischen Bildungsveranstaltung hätte eine kleine, aber feine Debattenserie sicherlich gute Dienste zur Popularisierung von Amt und Kandidatenfeld geleistet. Denn wer kennt schon den Namen des vierten Kandidaten?

An diesem Beispiel zeigen sich zugleich die strukturellen Probleme von TV-Debatten im parlamentarischen System: kleine Parteien, respektive deren prominentere Vertreter geraten angesichts der Fokussierung auf die so genannten „Kanzlerkandidaten“ in den Hintergrund. Die Fernsehsender mit ihrem Interesse an der großen Quote verstärken diesen Effekt und werden zum Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik: „Duelle ohne Kugeln“ lassen sich viel besser vermarkten als die vielschichtigeren Debattenformate und -serien, die dem unübersichtlicher gewordenen Parteiensystem der Bundesrepublik gerecht werden könnten.

Weiterführende Materialien zu den Fernsehdebatten hat der Autor in seinem Weblog Internet und Politik zusammengestellt.

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