#AfD

Rechtsextremismus – Es gibt wohl schon kritische Massen

von , 20.9.18

 

„Mach die Augen zu,
was du dann siehst,
gehört dir.”

Aus: „Die Herkunft der Wahrheit“ von Günter Eich

 

Geht etwas richtig politisch schief im Land, wird rasch gefragt, ob wir auf dem Weg nach Weimar seien. Auch vor und nach den Verfolgungsjagden und den Ausschreitungen in Chemnitz war das so. Die Vermutung, wir seien auf dem Weg nach Weimar, wird, wie könnte es anders sein, aus der Rückschau geäußert. Wir wissen, wie Weimar ausging und was folgte. Unser Gefühl folgt dem Epilog aus Bertolt Brechts Arturo Ui:

 

„Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.”

 

Wir landen aber nicht in Weimar. Wir werden selbst dann kein zweites Weimar erleben, wenn es noch öfter so zugeht, wie zuletzt in Chemnitz. Die heutigen Verhältnisse sind völlig andere als die während der zwanziger Jahre. Das Treiben der heutigen Rechtsextremisten und Nazis kann nicht verdrängen, dass die große Mehrheit der Menschen in Deutschland zum Grundgesetz und zu den Bürgerrechten steht. Die Bundesrepublik Deutschland ist zudem eingebettet in eine europäische Rechtsgemeinschaft. Straßenschlachten, Angriffe auf den Bundestag, Abschaffen von Bürgerrechten – dies würde nicht hingenommen werden. Die Bundesrepublik ist auf so vielfältige Weise eingebunden und damit so verletzlich, dass eine Abschaffung des politischen Systems der Republik, wie es dem AfD- Sprecher Gauland vorschwebt, im puren Chaos enden würde. Und das käme ja nicht über Nacht über die Deutschen.

Aber diesseits solcher Szenarien kann ich mir einen gesellschaftlichen Zustand vorstellen, der unerträglich ist. Das wäre ein Zustand mit einer schier endlosen Abfolge von Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und einer wachsenden Zahl rechter Extremisten. Weder die Staatsmacht wäre in der Lage, solche gewalterfahrenen, kommunikationstechnisch versierten und vernetzten Extremisten völlig von der Straße zu schaffen noch diese Extremisten wären imstande, Staat und Gesellschaften wesentlich zu beeinträchtigen. Das wäre ein schlimmer Zustand, der als unerträglich empfunden würde. Es gibt in Südamerika Länder, in denen es Jahrelang ähnlich zuging. Dilma Rousseff, die aus dem Amt verdrängte, frühere brasilianische Präsidentin hat es am eigenen Leib erfahren. In Italien gab es phasenweise und regional beschränkt Verhältnisse, die dem beschriebenen Zustand nahe kamen, in Griechenland ebenfalls. In der Türkei ist es so.

Aus der Perspektive der Opfer, Schwacher und Behinderter, Obdachloser, die von Zerstörern des politischen Systems verachtet und auch getötet wurden; aus der Sicht der 200 000 Juden in Deutschland, von denen manche angegriffen und beleidigt werden; auch aus der Sicht vieler Flüchtlinge, deren Übergangsheime angezündet, sie selber beleidigt und attackiert werden – aus all derer Sicht rückt Weimar aus der Vergangenheit kommend rasch näher. Auch da sollte es keinen Zweifel geben.

Die auf der anderen Seite wissen genau, was sie tun: Zuerst wird den Leuten in die Ohren geblasen, in Deutschland dürfe man nichts sagen, was dem politischen Establishment nicht in den Kram passe; dann heißt es mit Blick auf Meinungen und Berichte anderer: alles Lüge; dann wird gebrüllt „Volksverräter“. Einige AfD -Spitzenleute finden das vordergründig zwar nicht so schön und daher brüllen sie nicht mit, aber bestätigt fühlen sie sich schon, wenn im Nazijargon geblökt wird. Es endet dann – vorläufig mit „unser Schlachtruf heißt Töten, Töten!

Jetzt wird untersucht: Die „Ossis“, die „Wessis“; wo geht’s schlimmer zu, wer ist schlimmer beleidigt worden, wer hat wem was zu verdanken? Es ist leider eine typisch deutsche Debatte.

Was zählt? Es zählt der Anstand. Nichts rechtfertigt das Verhalten von Frauen und Männern, die mit Rechtsextremisten gehen und zusammen mit denen „Volksverräter“ schreien. Nichts rechtfertigt „Ausländer raus“, nichts rechtfertigt Zusammenrottungen, die anderen Furcht und Entsetzen einflössen. Unsere Umgangsformen müssen sich wieder auf Gewissheiten stützen und nicht auf irgendwelche Vermutungen oder irgendwo „Aufgeschnapptes“; das sind dann Umgangsformen, die aus der Achtung gespeist werden. Ich weiß, dass das altmodische Ratschläge sind.

Das folgende Beispiel ist kein Plädoyer für Dankbarkeit oder Stille sein. Es ist aber durch Gewissheit definiert: In den Jahren zwischen 1990 und 2015 sind rund zwei Billionen Euro netto von West nach Ost geflossen, um dort im Osten die materiellen Verhältnisse zu verbessern. Netto heißt: Steuern und Abgaben, die in den neuen Bundesländern eingesammelt worden sind, sind bereits abgezogen. Gleichzeitig sind im Westen Kommunen mit ihren äußeren, materiellen Bedingungen zurück gefallen. Dieser durchaus gewaltige Prozess ist von der politischen Klasse organisiert und durchgesetzt worden, die auf Demonstrationen des Volksverrats bezichtigt wird. Ein Wort aus dem Volksgerichtshof der Nazis. Entscheidend ist übrigens nicht das Netto oder Brutto solcher Prozesse. Entscheidend ist, dass solche Leistungen verbinden – die etwas davon haben und die, die leisten können. Es ist nach meiner Vorstellung eine Art Patriotismus, über den wir reden, auch streiten sollten.

Aus den Berichten von Freya Klier und anderen wissen wir, dass bereits in der DDR eine braune und auch gewalttätige Szene bestanden hat, die von der damaligen Staatsmacht nicht aufgelöst worden ist, aus welchen Gründen auch immer. Diese Szene ist über die Jahre gewachsen, sie hat sich vernetzt, hat sich in der sich ausdünnenden Gesellschaft der neuen Länder eingenistet, hat sich nützlich zu machen versucht, hat sich in Wort und Ton eine eigene Sphäre geschaffen, hat intellektuelle „Blasen“ gebildet, Angsträume erzeugt, Investoren abgeschreckt und sich mittels Leistungen des Sozialstaats über Wasser gehalten. Möglicherweise hat sie sich an manchen „sonnigen Ecken“ des Wohlwollens neuer Schlapphüte im Dienst der neuen Staatsmacht bedienen können. Wir wissen es nicht.

In der Rückschau wundert mich nichts mehr. In Sachsen wurde von der Landesregierung Ende des vorigen Jahrzehnts beschlossen, die Zahl der rund um die Uhr besetzten 72 Polizeireviere auf 41 zu reduzieren. Zudem sollte die Zahl der Polizeibediensteten in den Polizeidirektionen und nachgeordneten Revieren von 10.850 Stellen im Jahre 2010 auf 8.646 Stellen bis 2025 gesenkt werden. So ist es jedenfalls einer Darstellung der Grünen zu entnehmen. Ich schätze, in anderen östlichen Ländern war es nicht viel anders. Die vormalige Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Iris Gleicke (SPD), sagte am 2. Oktober 2017: Wo der Staat nicht mehr präsent ist, werden die zwangsläufig entstehenden Lücken von Kräften besetzt, die nichts Gutes im Schilde führen.“

Lücken? Schulen verschwinden, Bürgerdienste ziehen sich zurück wie Schnecken in ihre Häuser. Es fehlen die Leute, die im Nachbarschaftsbereich „etwas löten können“, es fehlen simple Bildungsmöglichkeiten, weil die öffentlichen Büchereien der Stellenverlagerung in die Zentralen folgen, es werden Streifenwagen und Praxen vermisst. Der deutsche „Dorfpapst“ Professor Gerhard Henkel schätzt, dass im Verlaufe der vergangenen 20 Jahre über 100 000 ehrenamtliche „Amtspersonen“ auf dem Land verschwunden sind, weil Verwaltung zentralisiert wurde. Die Kirchen folgen diesem Trend. Gewerkschaften, Verbände. Und all das spielt sich auch in einer Region ab, in der die Menschen bis 89 als Teile eines historisch bedingten Kollektivs gewertet worden sind und sich ab dann als eigenverantwortliche Individuen durchs Leben schlagen sollten. Bessere gesellschaftliche Brandbeschleuniger kann man sich kaum vorstellen.

Das hat dennoch grandios gut geklappt. Ein Parameter ist die Beschäftigung. In den östlichen Ländern wohnen – Berlin nicht mitgerechnet – 12,6 Millionen Menschen. Die Beschäftigungsquote ist gemessen am Durchschnitt aller deutschen Länder hoch – was auch daran liegt, dass viele Menschen in den Westen pendeln um zu arbeiten, im Osten jedoch als Beschäftigte gezählt werden. Wie man es dreht und wendet: Die Leute dort sind offenkundig fleißig. Die heute über 50-Jährigen haben einen wirtschaftlichen Zusammenbruch mitgemacht, für den die Masse der DDR- Bürgerinnen und Bürger nicht verantwortlich gemacht werden kann. Nach dem krachenden Zusammenbruch kamen der Schock der Privatisierung und dann der harte Crashkurs in Sachen Markt über sie. Das haben auch die Jüngeren an sich erfahren. Und mit dem Einrücken der Belegschaften in die internationalen Ketten der Wertschöpfung begann die nächste große Umwälzung. Eine Umwälzung nach der anderen. Es ist praktisch nichts so geblieben, wie es war – und zwar in dünn besiedelten Landstrichen mit nur einigen großen Städten darin. Eine vergleichbare städtische Struktur mit solchen sozialen und ökonomischen Potenzialen wie zwischen Duisburg und Koblenz längs des Rheines oder um Stuttgart gab es und gibt es in der DDR nicht.

Aber täuschen wir uns nicht. Gewalt hockt nicht nur um die Seenplatten des Ostens oder auf den Wanderfelsen der sächsischen Schweiz. Eine Rätselfrage soll uns weiter helfen. Am 26. Oktober 2014 hatten sich in einer Stadt mehr als 2000 gewaltbereite Leute eingefunden, überwiegend Männer – darunter viele Rechtsradikale, um ihrem Lieblingsthema zu frönen: Dem Kampf gegen fundamentalistische Muslime. Ab 14 Uhr an diesem Tag bis in die Abendstunden lieferte sich diese Menge Kämpfe mit der Polizei: 45 verletzte Polizeibeamter, ein Polizeiwagen zerstört, der Bahnverkehr Am unterbrochen, eine City im Ausnahmezustand. Der zuständige Landesinnenminister sprach damals von „exzessiver, teils eruptiver und nicht vorhersehbarer Gewaltanwendung gegenüber Polizeibeamten”. Er meinte aber auch, dass der Kräfteansatz von 1300 Beamten grundsätzlich angemessen gewesen sei. Wissen Sie noch, wo das war? Dresden? Berlin? Irgendwo im deutschen Osten, wo sich Kameradschaft X und die aus Y gute Nacht sagen?

Es geschah in Köln. Also tief im Westen und nicht im deutschen Osten. Die Reaktion des damaligen Landesinnenministers Jäger (SPD): Es war schlimm, aber wir waren angemessen da, die ist auch nicht besonders schlau gewesen.

Eine Einschränkung ist hier notwendig. Köln war nicht akzeptabel. Es war eine Niederlage von Staat und Gesellschaft. Aber im Westen und im Süden oder Norden des Landes haben sich noch keine kritischen rechtsextremistischen „Massen“ gebildet. In einigen Teilen Ostdeutschlands scheint das anders zu sein. Es herrschten ja auch günstige Bedingungen. Da sind Rechtsextremisten, ausgewachsene Nazis und die Partei-Formation der AfD Bünde eingegangen. Die „Kameraden“ um Chemnitz und von anderswo her sorgen dafür, dass sich die AfD-Champs mit steifem Rücken und mit dicken Hosen durchs Parlamentsviertel bewegen; und die „Champs“ sorgen dafür, dass die Kameraden was zu protzen haben – so wie der Fan mit dem Torjäger seiner Mannschaft protzt.

So kann sich lokal eine „kritische Masse“ bilden, die weitere Reaktionen auslöst. Eine ganze Region hierfür in Haft zu nehmen, ist hingegen verheerend.

Anstand zeigen, Achtung vor anderen aufbringen, als unangenehm Empfundenes ertragen (können) und mehr politische Bildung – all das reicht leider hier nicht mehr; obgleich mehr politische Bildung, zum Beispiel

  • eine Woche gutgemachte politische Bildung für alle Abiturienten statt eine Tour zu den Sehenswürdigkeiten einer Stadt in Europa;
  • tarifvertraglich oder gesetzlich abgesicherter, regelmäßiger politischer Bildungs-Urlaub für Beschäftigte

nötig wäre. Es ist wohl so, dass der Staat in manchen Ecken unseres Landes repressiv vorgehen muss. Jeden Tag und wo immer ein Mob um die Ecke guckt.

 

 

Like what you see? Hier CARTA bei Facebook liken.

Was Sie tun können, um CARTA zu unterstützen? Folgen, liken und teilen Sie uns auf Facebook und Twitter. Unterstützen sie uns regelmäßig über die Plattform steady oder spenden Sie an den CARTA e.V.

 

 

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.