#AfD

Demokratie ohne überzeugte Demokraten

von , 22.9.17

War das eine Wahl. Die Linke kommt im Reichstag auf 54 Sitze, die Rechte auf 124. Die Liberalen holen statthafte 70 Sitze. Dazwischen klebt eine „große Koalition“ mit 226 Mandaten, die sich wechselnde Mehrheiten besorgt und vier Jahre später endgültig weggespült werden wird.

Klingt ein bisschen nach 2017 unter Ausnutzung der demoskopischen Schwankungsbreite. War aber die Wahl 1928.

Und jetzt hören wir bitte endlich alle auf zu sagen, wir seien nicht Weimar.

Ich hatte vor einem Jahr den schmutzigsten Wahlkampf der Nachkriegszeit vorhergesagt. Der ist es nicht geworden. Wir hatten überhaupt keinen Wahlkampf. Die Union hatte es nicht mehr nötig, die SPD aus unerfindlichen Gründen offenbar noch nicht. Die AfD sorgte für die vorhersagbaren Skandale und bekam das vorhersagbare Medienecho. Daneben machte die FDP in einer Art österlichen Vorfreude ihre eigene Show. Bei den Grünen war man nicht sicher, ob vielleicht noch die Plakate von 1986 hingen.

Ich habe mich in meinem Studium an der Uni Heidelberg ausführlich mit Weimar befasst – unter politischen, vor allem aber unter historischen Gesichtspunkten. Ich war immer ein Vertreter von „Bonn ist nicht Weimar“ und ich habe immer daran geglaubt, dass unsere Demokratie stark genug ist. Aber das setzt ein gewisses Interesse voraus.

Wir sind nicht Weimar. Wir haben keinen Krieg hinter uns und stehen vor der Vollbeschäftigung statt vor einer tiefen Rezession. Und doch sind wir eine Demokratie ohne überzeugte Demokraten. Wir haben hunderttausende von Immigranten verloren, die mit unserem System nicht mehr oder nie etwas anfangen konnten. Wir haben eine gesellschaftliche Schicht, die sich in einem Maße abgehängt und verraten fühlt, das rationale Grade weit übersteigt. Wir haben keinerlei gesellschaftliche Instanzen mehr und einen Bundespräsidenten, der so still ist, dass man sich um seine Gesundheit sorgt.

Und wir haben ausgerechnet über die sozialen (!) Medien ein Klima von Hass, Verrat, Hetze und Lüge geschaffen, das bei vielen Themen keine Diskussion mehr zulässt. Die über Jahrtausende gepflegte Spielregel, dass sich im Disput irgendwann die besseren Argumente durchsetzen, dass es so etwas wie objektiv belegbare Fakten gibt, zerrinnt uns zwischen den Fingern.

Ich fahre durch mein Heimatdorf und erschrecke, weil die AfD dort auf Augenhöhe plakatieren kann – ohne Sorge, dass jemand die Plakate abreißt. Mein Vater kann meine Argumentation nicht nachvollziehen und findet es verstörend, dass Vandalismus ein politisches Ausdrucksmittel sei. Mein Vater, der in den 80ern im Gemeinderat ein halbes Dorf spaltete, weil er mit ein paar aufrichtigen Freunden darum kämpfte, einen Friedhof für Zwangsarbeiter-Kinder nicht einfach einzuebnen und dem vor der Dorfwirtschaft Prügel angedroht wurden.

Ich stehe beim x-ten Bier mit Freunden auf dem Balkon und wettere dagegen, sich die Mittel der Rechten zu eigen zu machen und selbst zur Gewalt zu greifen. „Wenn wir ihre Sprache sprechen, haben sie gewonnen.“ Und ertappe mich tags drauf dabei, wie ich ein Essay von quartz.com verschlinge, in dem die Begrenztheit gewaltloser Opposition analysiert wird.

 

Viele Hauptstadtjournalisten werden sich über deftige Zeilen freuen und über Debatten, bei denen endlich wieder hitzig gesprochen wird. Aber da passiert mehr als das. Da löst sich etwas auf. Da werden Wunden geschlagen, die zu Geschwüren werden können.

 

In der nächsten Legislaturperiode könnten Linke und AfD zusammen auf schlimmstenfalls ein Drittel der Sitze kommen. Jeder dritte Abgeordnete gehört damit einer Fraktion an, die das Grundgesetz nicht vollständig teilt und in erheblichen Punkten vom Gründungsgedanken dieser Republik abrückt. (Damit will ich keineswegs die ausländerfeindliche AfD und die systemkritische Linke inhaltlich auf eine Stufe stellen.)

Ich erinnere mich an stöhnende Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg, die aus dem parlamentarischen Alltag mit Reps berichteten. Selbst im Verkehrsausschuss sei keine Debatte mehr zu überlasteten Autobahnen möglich gewesen, ohne einen Rep zu ertragen, der meinte: „Schiebt endlich die Ausländer ab, dann sind die Fahrbahnen wieder frei.“ Und ich erinnere mich an den Streit in der Nachrichtenredaktion, als wir darauf bestanden, immer von den „sogenannten Republikanern“ zu sprechen. Jetzt werden wir diesen ganzen Mist im Bundestag erleben.

Und wir werden uns Mut machen und sagen, dass die Demokratie das aushalten müsse. Dass es eine demokratische und unabhängige Wahl war. Dass der Volkswille Volkswille sei. Ja, wie 1928. Und ein paar Jahre später stand dann die SA Spalier, als das letzte Häuflein bürgerlicher Abgeordneter mit vollen Hosen in den Plenarsaal einzog.

Wem Argumente und Fakten nicht passen, der erfindet jetzt einfach neue Fakten. Er darf das sogar offen so nennen. Es gibt keinen Aufschrei mehr. Auch nicht, wenn Gauland Hitler und die Wehrmacht lobt. Wir stehen unter einem permanenten „Man wird doch noch mal..“ und wagen schon nicht mehr zu fragen, WAS genau man noch mal…

Wir haben uns in diese Sprachlosigkeit vielfach selbst hineinmanövriert. Als Medienverantwortlicher in Diensten der katholischen Kirche sage ich: Vielfach haben wir verlernt, mit Menschen zu sprechen. Wir verschanzen uns hinter pastoralen Worthülsen und kämpfen um unsere Pfründe in einer sich radikal wandelnden Lebensrealität. Und die Politik macht nichts anderes. Eine der trostlosesten Szenen im politischen Fernsehen bleibt der Kameraschwenk über die Zuschauerränge bei einer Plenardebatte.

Die Schreckgespenster Schönhuber und Schill sind an uns vorbeigeflogen, ohne dass die etablierte Politik auch nur irgendeine Lehre daraus gezogen hätte. Populisten wählen einfache Wahrheiten, einfache Sätze und – ganz wichtig – es gibt immer einen Schuldigen. Das sind erst die Ausländer. Und wenn die alle weg sind, sind es die Andersgläubigen. Und wenn die weg sind, sind es die Christen. Und wenn die weg sind… Populismus kann nur in einem „wir hier – die dort“ funktionieren, über ab- und ausgrenzen. Auch die CSU funktioniert in einer Art demokratie-affinen Variante so und spielt mit dem „wir hier in Bayern“ häufig hart am Wind. (Man wird doch noch mal „Neger“ sagen dürfen.)

Kirche soll sich aus der Politik heraushalten, erst recht aus der Tagespolitik. Dagegen werde ich mit meinen Möglichkeiten ankämpfen. Alle, denen an der Existenz dieses Sozialstaats gelegen ist, müssen sich jetzt einschalten. Der Parlamentarismus liegt am Boden, der Journalismus hechelt, die Lunte brennt.

Ja, die Probleme sind in Frankreich oder Ungarn weit größer. Alle zwei Staaten haben allerdings auch andere wirtschaftliche Probleme. Ich mag mir nicht ausdenken, was bei uns abgeht, wenn wir in eine ähnliche ökonomische Situation geraten.

Ich werde am Sonntag wählen gehen. Und ich werde meine Tochter mitnehmen und ihr erklären, dass hier etwas ganz wichtiges geschieht. Und dass Mama und ich und ganz viele Freunde von uns gerade alles tun, damit die bösen Menschen nicht gewinnen.

Dann werde ich die erste Hochrechnung sehen und meine Tochter wird mir alle Schimpfwörter vorhalten, die ich ausspreche. Ich werde mit Freunden diskutieren und trauern und trinken. Und dann?

Hätte der Bundestag nicht in letzter Minute die Geschäftsordnung geändert, wäre der neue Bundestag mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Altnazi eröffnet worden. Möglicherweise beziehen AfD-Abgeordnete die Büros der Bündnisgrünen, die nicht mehr im Bundestag vertreten sind.

Viele Hauptstadtjournalisten werden sich über deftige Zeilen freuen und über Debatten, bei denen endlich wieder hitzig gesprochen wird. Aber da passiert mehr als das. Da löst sich etwas auf. Da werden Wunden geschlagen, die zu Geschwüren werden können.

Demokratie muss wehrhaft sein. So mahnten uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes. Der Feind saß damals irgendwo außen, vorzugsweise im Osten. Jetzt ist er mitten unter uns und greift die eigene Seele an. Das geschieht mit Vorankündigung und niemand soll sagen, wir seien nicht gewarnt worden.

Und trotz alledem: Ich glaube immer noch an das Florett statt an den Degen. Denn noch ist es erst 1928.

 

 

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