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Weiterhin hohe Barrieren für öffentlich-rechtliche Internetangebote

von , 2.7.17

Anfang Juni haben die Rundfunkreferenten der Länder zu einer Online-Konsultation zu einer Neuformulierung des Telemedienauftrags für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Rundfunkstaatsvertrag aufgerufen. Diese beansprucht, eine „zeitgemäße Fortentwicklung“ zu sein. Der Entwurf liefert allerdings bloße Retuschen, weitere Einschränkungen und beschädigt letztlich die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien.

Ein „Sendungsbezug“ von Online-Medien wird der Medienentwicklung nicht gerecht

Im Referentenentwurf erscheint § 2 (2) 19, der bislang den prinzipiellen Bezug von Online-Inhalten zu linearen Sendungen in Hörfunk und Fernsehen festschrieb, in völlig neuer Form. Diese Definition ist nun verschwunden und durch eine allgemeinere Telemedien-Definition ersetzt. Das heißt allerdings nicht, dass auf das Kriterium des Sendungsbezugs verzichtet wird. Der neu formulierte § 11d kennt nun als Telemedien „insbesondere“ Sendungen mehrerer Kategorien und zusätzlich sogenannte „zeit- und kulturgeschichtliche Archive“. In § 11d (7) wird der Sendungsbezug dann explizit aufgegriffen:

Der Bezug zu einer Sendung besteht nur bei Telemedien, die der Aufbereitung, Dokumentation oder Aktualisierung einer bestimmten Sendung einschließlich Hintergrundinformationen dienen, soweit dabei auf für diese Sendung genutzte Materialien und Quellen zurückgegriffen und diese Sendung dadurch thematisch und inhaltlich unterstützend vertieft und begleitet wird und die Rundfunkanstalt im Einzelfall diesen Bezug zu einer Sendung in ihrem Telemedienangebot eindeutig und leicht auffindbar ausweist.

Telemedien werden nur beauftragt, wenn sie überwiegend diese Bedingungen erfüllen. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber Online-Medien nach wie vor als „Annex des linearen Programmrundfunks“ versteht, wie es der Rechtswissenschaftler Albert Ingold formuliert hat. Selbst wenn durch das „überwiegend“ impliziert ist, dass ein gewisser Anteil von Telemedien produziert werden darf, die nicht diesem Kriterium unterfallen, ist diese Regelung im Grundsatz abzulehnen. Dafür sind zwei Gründe maßgeblich:

  1. Eine starke Bedrohung für den Bestand des öffentlich-rechtlichen wie auch des privaten Rundfunks in Deutschland bilden globale audiovisuelle Plattformen wie Amazon, Netflix, Spotify und iTunes. Sie präsentieren ein reichhaltiges Inhaltsangebot, mit dem gerade öffentlich-rechtliche Lizenznehmer nicht mithalten können. Die Angebote sind nicht auf Konserven beschränkt, sondern umfassen auch Live-Streaming, zum Beispiel bei Amazon von Spielen der amerikanischen NFL. Ebenso handelt es sich nicht nur um US-amerikanische Inhalte. Zunehmend werden „regionale“ Filme und Serien produziert, und der Erwerb von europäischen Sportrechten scheint nicht ausgeschlossen, so dass auch der direkte Wettbewerb mit deutschen Fernsehanbietern gegeben ist. Im Hörfunkbereich hat sich in Deutschland Spotify als ernstzunehmender Wettbewerber um die Gunst und die Nutzungszeit von Popmusik-Fans etabliert, die der engen Rotationslogik der deutschen Radiosender entkommen möchten. Neben den Inhalten dieser globalen Anbieter ist auch die Form entscheidend. Abonnenten und andere Nutzer dieser Plattformen adaptieren non-lineare Mediatheken als Normalform von Medienangeboten. In dieser Logik ist der Live-Stream (den wir bislang schlicht als „Fernsehen“ oder „Hörfunk“ bezeichnen) eine Sonderform, die durchaus auch gepflegt werden kann, soweit sie den Nutzerwünschen entgegenkommt. Online-Mediatheken, die auf allen digitalen Endgeräten funktionieren, sind allerdings nicht nur Abspiel-, sondern auch Kommunikations-Plattformen, auf denen Anbieter sorgsam in direkter und indirekt-algorithmischer Dialogform die Bedürfnisse ihrer Kunden ermitteln und mit ihnen den Austausch pflegen. Gegen diese Plattform-Logik können Rundfunkanstalten, die noch an der Logik der linearen Programmverbreitung festhalten, auf Dauer nicht bestehen. Nach dem Ende von Watchever gibt es mit Maxdome nur noch eine kommerzielle deutsche Video-on-demand-Plattform, deren Abonnentenzahl inzwischen weit hinter Amazon Prime und Netflix zurückhängt. Die öffentlich-rechtlichen Mediatheken sind zersplittert, ihre Inhalte sind unübersichtlich, und zumindest die bisherige Verweildauerpraxis macht ihre Nutzung zu einem Lotteriespiel. Der Aufbau einer öffentlich-rechtlichen Online-Plattform für non-lineare Angebote – mit Links auch zu den Live-Streams ­selbstverständlich – ist seit langem überfällig und verdient die erste Priorität in den Unternehmensstrategien und Strukturreform-Debatten.
  2. Wenn das im Referentenentwurf in § 11f (1) nun ausdrücklich erwähnte Angebot von Telemedien „außerhalb des eingerichteten eigenen Portals“ durch die Verpflichtung des überwiegenden Sendungsbezugs gleich wieder eingeschränkt wird, kann der Aufbau von nachhaltigen Vertrauensbeziehungen zu großen Online-Nutzergruppen nicht gelingen. Dabei handelt es sich nicht nur um jüngere Mediennutzer, sondern auch um Angehörige der weniger gebildeten und einkommensschwächeren Schichten, die vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk nur in geringem Maße erreicht werden, jedoch durchaus intensive Online-Nutzer sind, vor allem von Social-Media-Plattformen wie Facebook und Instagram. Der letztlich einer Marketing-Logik für lineares Programm entsprechende überwiegende Sendungsbezug ist für diese Gruppen nicht attraktiv. Das Zielgruppen-Angebot WDRforyou, das der WDR in vier Sprachen auf Facebook für Flüchtlinge betreibt, zeigt beispielhaft, wie die Kombination von intensiver und persönlicher Kommunikation mit Video-Formaten (auch live) Vertrauen in dieser speziellen Zielgruppe und allmählich auch Reichweiten aufbaut. Wenn der Funktionsauftrag der öffentlich-rechtlichen Medien unter den gewandelten medialen Verhältnissen erfüllt werden soll, kann das nicht unter den Bedingungen eines antiquierten „Sendungsbezugs“ geschehen.

Fragwürdig ist die zitierte einengende Definition des Sendungsbezugs auch aus der Perspektive der journalistischen Praxis. Im aktuellen Nachrichtenfluss und in der Recherchearbeit tauchen ständig neue Quellen auf, deren redaktionelle Darstellung in Online-Medien relevant zur Meinungsbildung ist, auch ohne oder bevor ein passendes lineares „Sendungs“format dafür bereitsteht. Das gilt auch für die (multimediale) Kommunikation von Redaktionen in Sozialen Netzwerken.

 

„Presseähnlichkeit“ ist ein medienwissenschaftlich unhaltbares Kriterium

Der Begriff der Presseähnlichkeit von Online-Angeboten ist im Referentenentwurf für die Novelle des Rundfunkstaatsvertrags in § 2 immer noch unbestimmt definiert:

(2) Im Sinne dieses Staatsvertrages ist […]

  1. ein presseähnliches Telemedienangebot nicht nur elektronische Ausgaben von Printmedien, son­dern alle journalistisch-redaktionell gestalteten Angebote, die nach Gestaltung und Inhalt gedruckten Zeitungen oder Zeitschriften entsprechen.

In § 11d (7) soll dann in verschachtelter Formulierung die Presseähnlichkeit zusätzlich an den Sendungsbezug gekoppelt werden. Nicht zulässig sind Telemedienangebote mit „Telemedien, die überwiegend Text und Bild enthalten“ (das ist wohl „Presseähnlichkeit“), und keinen Bezug zu einer Sendung aufweisen, wenn sie innerhalb des Gesamtangebots „die Medien überwiegen, die

  1. einen Bezug zu einer Sendung aufweisen,
  2. überwiegend Ton, Bewegtbild oder internetspezifische Gestaltungsmittel enthalten oder
  3. Angebotsübersichten, Schlagzeilen, Informationen über die jeweilige Rundfunkanstalt und Maßnahmen zum Zweck der Barrierefreiheit darstellen.“

Die Unbestimmtheit der Definition ergibt sich aus den nicht genannten Kri­terien, die es ermöglichen, Online-Angebote zu identifizieren, die nach „Ge­staltung und Inhalt“ Zeitungen oder Zeitschriften entsprechen.

Der Rechtswissenschaftler Karl-Heinz Ladeur macht auf einen immanenten Widerspruch in der Definition aufmerksam:

Der Gesetzgeber geht offenbar zunächst selbst davon aus, dass die Internetangebote je­denfalls der Presseunternehmen i. e. S. der „Presse“ und damit dem Schutz der Pressefrei­heit zuzuordnen sind. Dann ist aber der abgrenzende Rekurs auf die „Ähnlichkeit“ von Internetangeboten zwischen Presse und Rundfunk wenig sinnvoll.

Auch die Präzisierung des Referentenentwurfs in § 2, wo jetzt von „gedruckten“ Zeitungen und Zeitschriften gesprochen wird, hebt diesen Widerspruch nicht auf. Obwohl sich mediengerechte Online-Produkte von Zeitungen und Rundfunkanstalten möglicherweise weitgehend gleichen, wird auch den nun gar nicht mehr sonderlich „presseähnlichen“ Presse-Derivaten das Privileg der Pressefreiheit automatisch zuerkannt, den Online-Auftritten des Rundfunks jedoch nicht der verfassungsmäßig gleichwertige Schutz der Rundfunkfreiheit.

Sowohl Druckerzeugnisse als auch elektro­nische Ausgaben von Printmedien unterliegen einem technischen und gestalterischen Wandel. Die elektronischen Ausgaben von Printmedien sind in den letzten Jahren den Printausgaben immer unähnlicher geworden. Beispielsweise gibt die FAZ vier verschiedene Online-Ausgaben heraus. Nur die E-Paper-Ausgabe ist auf einer ihrer Gestaltungsebenen (wenn auch nicht in der Nutzung) einer Zeitung ähnlich. Außer in der E-Paper-Ausgabe sind in allen Varianten auch Audio- und Video-Angebote ent­hal­ten, die von der FAZ selbst produziert oder in Lizenz angeboten wer­den. Alle FAZ-Versionen – auch das E-Paper, das eine zweite Gestaltungsebene einschließt – streben hauptsächlich an, die digitalen Geräte- und Nutzungsumgebungen und das durch Forschung ermittelte Nutzerverhalten optimal zu berücksichti­gen. So enthält die App „F.A.Z. Der Tag“ keine „Long Reads“, weil sie die schnelle Versorgung mit den wichtigsten Informationen beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit anstrebt – ganz ähnlich wie die App „DLF 24“ des Deutschlandfunks.

Macht allein schon die sichtbare Verschiebung der publizistischen Priorität vom Print- auf den Online-Sektor die Bestimmung von „Presseähnlichkeit“ zum Problem, so wird durch die hohe Dynamik der Entwicklung der digita­len Angebotsformen jegliche kategoriale Festlegung unmöglich.

Das gilt für beide Elemente der Presseähnlichkeit, die der Staatsvertrag nennt: Gestaltung und Inhalt.

Die Gestaltung von Presseerzeugnissen unterliegt seit jeher zunächst den technischen Möglichkeiten und Gegebenheiten von Layout-, Satz- und Druckverfahren, darüber hinaus der Entwicklung von Geschmack und Anfor­derungen des Marktes. Die intramediale, zunehmend jedoch auch die inter­mediale Wettbewerbssituation (Zeitung und Fernsehen, Zeitung und Internet) hat die Entwicklung der Gestaltung deutlich geprägt, selbstverständlich nicht ohne Einflüsse auf den Inhalt. Die formale Kennzeichnung einer Pressepublikation etwa als Kombination von Texten (mit den Elementen Überschrift, Untertitel, Fließtext usw.) und Bildern (Grafiken, Fotos usw.) ist für die Regulierung von Online-Präsentationen kaum hilfreich, es sei denn, es kämen willkürliche Mengen- und Größenangaben hinzu.

Hierfür gibt es tatsächlich ein, wenn auch nicht nachahmenswertes, Beispiel: Die Konzession des Schweizerischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks schreibt seit 2013 für Online-Beiträge fest: 75% der Texte müssen mit Audio-/Video-Inhalten direkt verknüpft sein, ein Sendungsbezug ist zu deklarieren, Texte ohne Sendungsbezug für News, Sport, Lokales/Regionales dürfen maximal 1000 Zeichen umfassen.[1]

Das Problem der Bestimmung des inhaltlichen Elements erinnert an frühere amtliche Versuche, Pressepublikationen zu definieren. Die 1981 erschienene Postzeitungsordnung legte beispielsweise fest: Zeitungen „müssen nach Art, Form, Umfang und Verbreitungsweise der im Verkehr üblichen Auffassung von einer Zeitung entsprechen“. Diese Bedingung ist dann gegeben, wenn die Beiträge Aktualität, Publizität, Kontinuitä̈t (Periodizität) und Mannigfaltig­keit (Universalität) aufweisen.[2]

Diese inhaltlichen Zeitungsmerkmale stimmen mit denen von Fernsehnach­richten vollständig überein. – Letztere werden häufiger als nur einmal täglich aktualisiert und haben den Zeitungen hinsichtlich der Periodi­zität und Aktualität etwas voraus. Da es inzwischen an einem durchschnittli­chen Werktag 14 Ausgaben von Tagesschau und Tagesthemen sowie ohnehin den Infokanal tagesschau24 gibt, ist die durchgängige Aktualisierung der Ta­gesschau-Online-Angebote auch in der Logik des „Sendungsbezugs“ vollkommen legitim.

Die Online-Versionen der Tagesschau gehören nicht zu den erfolgreichsten deutschen Nachrichten-Apps. Sie haben etwa soviele Zugriffe wie die Ange­bote der FAZ und deutlich weniger als diejenigen von n-tv. Bild, Welt, Spie­gel, Focus und eine Reihe anderer Presse-Apps sowie Nachrichten-Portalsei­ten wie T-online. Diese haben weitaus mehr regelmäßige Nutzer und Besuche, ge­rade auch im mobilen Bereich. Dass die Tagesschau-App Audio und Video anbietet, ist kein Vorteil im Wettbewerb. Studien ergeben, dass bis zu 85% der Nutzer auf ihren Smartphones den Ton abschalten, wenn sie unterwegs Videos rezipieren.[3] Das hat dazu geführt, dass vor allem bei Facebook profes­sionell aufbereitete Videos mit Untertiteln oder Texttafeln versehen werden.

Da ohnehin nur „nichtsendungsbezogene presseähnliche Angebote“ unzu­lässig sind, können sich weitere Auslegungskonflikte ergeben. Produziert beispielswei­se ein Auslandskorrespondent ein umfangreiches, bebildertes Dossier zum ge­schichtlichen Hintergrund eines aktuellen kriegerischen Konflikts, der fast täglich in den Nachrichten erwähnt wird, kann nur bei einer sehr engen Aus­legung des Kriteriums ein Sendungsbezug nicht zugeordnet werden – weil z. B. der Text nicht wortwörtlicher Bestandteil einer Sendung war. Diese enge Auslegung wird allerdings weder von Fachjuristen noch von Zeitungsverle­gern vertreten. Ergänzende und vertiefende Textinformationen zu einem Ra­dio- oder Fernsehbeitrag werden von fast allen Branchenvertretern für akzep­tabel gehalten.[4]

Der BGH entschied in seiner Zurückweisung des ersten Urteils des OLG Köln: Bei der Prüfung der Presseähnlicheit käme es nicht darauf an, ob einzel­ne Beiträge des betreffenden Angebots als presseähnlich anzusehen sind. Ent­scheidend sei vielmehr, ob dieses Angebot in der Gesamtheit seiner nichtsen­dungsbezogenen Beiträge als presseähnlich einzustufen sei. Das sei der Fall, wenn bei diesem Angebot der Text deutlich im Vordergrund stehe. Das OLG Köln stellt dann in seiner revidierten Entscheidung fest: Insgesamt ständen Texte und Standbilder bei der Gestaltung im Vordergrund. Dies sei nach den Vorgaben des Bundesgerichtshofs als presseähnlich zu qualifizieren.[5]

Nun sind auf Startseiten aller Nachrichtenanbieter Texte und Standbilder (die allerdings durch Tipp und Klick den Start von Videos oder Audios er­möglichen können) im Vordergrund. Anders wäre eine Orientierung der Nutzer über das Angebot schlicht unmöglich. Das OLG stellt ferner fest, dass nachgelagerte Seiten, die „geschlossene Nachrichtentexte“ darstellten, aus sich heraus verständlich und mit Standbildern illustriert seien. Da vertiefende Texte zur Nachrichtenlage andernorts von Zeitungsvertretern nicht moniert werden, und ohnehin nicht, wenn sie sendungsbezogen sind, bleibt die Defi­nition und der Nachweis des Sendungsbezugs als letzter rational zu diskutie­render Punkt im Raum.[6] Das Gericht möchte sicher nicht so verstanden wer­den, dass unvollständige und unverständliche Beiträge publiziert wer­den sollten.

Sowohl die Einlassungen der Zeitungsverleger als auch die genannten Ur­teile erweisen sich als medienfremd bzw. an Begriffen und Denkweisen einer Medienwelt orientiert, die aus Presse und Rundfunk bestand. Das Internet ist nun hinzugekommen, und ergänzt – medienwissenschaftlich gesehen – die Medienwelt nicht einfach um eine weitere Säule, sondern beweist täglich zu­nehmend sein Potential als „Medium aller Medien“. Dieser Situation der Me­dien werden die gesetzlichen Bestimmungen und die zitierten Gerichtsent­scheidungen nicht gerecht. Websites und Apps sind weder im Hinblick auf ihre Materialität noch auf ihre inhaltlichen Elemente presseähnlich oder rundfunkähnlich, sondern neue Kombinationen unterschiedlicher medialer Traditionen, medialer Komponenten und Gestaltungsmöglichkeiten. Die dy­namische Verknüpfung von Text, Ton und Bild, Standbild, Bewegtbild, Au­dio, Video, Links, Blogs und Nutzerbeiträgen entziehen sich einer Interpreta­tionsmöglichkeit nach den Maßstäben des herkömmlichen Presseformats oder des herkömmlichen Rundfunkformats. Grundsätzlich ist allerdings dem Rechtswissen­schaftler Thomas Vesting zuzustimmen, der das Fehlen eines pu­blizistisch-institutionellen „Intermedienkollisionsrechts“ moniert, das der dy­namischen Entwicklung des neuen Netzwerks der Medien Rechnung trägt.[7]

Bis mit einer mediengerechten neuen Gesetzgebung eine solche rechtliche Brücke im Sinne eines „Intermedienkollisionsrechts“ gebaut ist, kann nur eine Präzisierung der Bestimmungen im Rundfunkstaatsvertrag aufwändige Rechtsstreitigkeiten eindämmen. Karl-Heinz Ladeur weist in seinem eingangs zitierten Beitrag darauf hin, dass im Extremfall unter Anwendung des Begriffs der „Presseähnlichkeit“ jegliche Tagesberichterstattung über die audio-visuel­le und textliche Wiedergabe von Nachrichtensendungen hinaus als unzulässig erklärt werden könnte. Dagegen spricht nach seiner Auffassung jedoch:

Man mag […] die gewählte Form der Abgrenzung der Aufgaben von Presse und Rund­funk für ungeeignet und damit nach den Kriterien der Verfassungsmäßigkeit der „Ausge­staltungsgesetzgebung“ für verfassungswidrig halten. Dafür spricht in der Tat ei­niges.[8]

Die seit den 1990er Jahren unaufhörlich geführte Diskussion des Rundfunk­begriffs zeigt im wesentlichen dessen Unangemessenheit und Blindheit gegen­über der beobachtbaren Entwicklung der digitalen Medien. Die multimediale, interaktive und kommunikativ vernetzte Online-Welt lässt eine Unterschei­dung von presseähnlich oder rundfunkähnlich grundsätzlich nicht mehr zu. Die zu Beginn des Jahres 2017 von der LfM in NRW erhobene Forderung nach Rundfunklizenzierung eines Twitch-TV-Kanals[9] (PietSmiet TV), der ge­legentlich auch Live-Zugriffe ermöglicht und dessen Server eine Kapazität für mehr als 500 gleichzeitige Nutzer hat, zeigt, dass die Rundfunkgesetzgebung von inzwischen überholten technischen und sozialen Verhältnissen geprägt ist.

Die Durchsetzung der bestehenden staatsvertraglichen Regeln auf diesem Gebiet würde die Einrichtung eines umfassenden Monitoring voraussetzen. Ein anderer Twitch-Kanal bewies beispielsweise im Dezember 2016 seine Leistungsfähigkeit, als es bei einem 12-stündigen Live-Spielemarathon bis zu 90.000 gleichzeitige Zugriffe gab (wobei u. a. 20.000 Euro Spenden für den Bundesverband Deutsche Tafel eingesammelt wurden).[10] Auch auf Websites von Verlagen gibt es gelegentlich zu aktuellen Anlässen Live-Videos, die von Landesmedienanstalten nicht moniert werden.

Die Antwort auf das Dilemma der unangemessenen rechtlichen Strategien bei der Interpretation der Rundfunkfreiheit und der Medienverhältnisse kann nicht in einer Ausweitung der Rechtsbegriffe des Rundfunkrechts – und auch des Presserechts – auf Online-Medien bestehen. Sofern und solange allerdings die öffentlich-rechtlichen Medien noch Programmrundfunk veranstalten und das Internet im wesentlichenals Verbreitungsmedium für lineares Programm oder seine Bestandteile benutzen, sind zwei parallele Regulierungs-Regimes unvermeidbar.

Mit der Entwicklungsdynamik der digitalen Medien halten Anpassungen des Regulierungskatalogs, die sich an den Begriffen der traditionellen Medien orientieren, nicht Schritt. Der Dreistufentest und das Konzept der „Presse­ähnlichkeit“ sind Zugeständnisse an die selbst im Umbruch befindlichen Pres­semedien. Anstatt bei Online-Angeboten von Rundfunkmedien weiterhin mit der Vermutung eines Rundfunkbetriebs anzusetzen, sollte der Rundfunkbe­griff perspektivisch selbst einer grundlegenden Revision unterzogen werden. Konsequent wäre letztlich der vollständige Verzicht auf diesen Begriff zuguns­ten einer klaren Definition von journalistisch-redaktionellen Telemedien, de­ren Sonderfall der lineare Rundfunk sein kann und voraussehbar sein wird. Dies entspricht dem Vorschlag, der im Gutachten von Winfried Kluth und Wolfgang Schulz[11] enthalten ist. Damit erübrigen sich gleichzeitig auf zwei Feldern aufwändige Nachforschungen, Diskussionen und Rechtsstreitigkeiten – nämlich die Frage, ob (neue) Angebote in ihrer massenkommunikativen Wirkung klassischen Rundfunkangeboten gleichkommen (wie sie noch von Papier und Stadelmaier 2010 gestellt wurde[12]) und die Frage nach der Bestim­mung der Kriterien presseähnlicher Online-Angebote. Mit den noch festzule­genden – und möglicherweise zu zertifizierenden – journalistisch-redaktionel­len Eigenschaften (nach Kluth/Schulz) wäre die Entwicklungsoffenheit aller journalistisch-redaktionellen Online-Angebote als Telemedienangebote einer regulatorisch privilegierten Kategorie gegeben. Der heutige Rundfunk wäre in dieser Umgebung in seiner Existenz und seinen von der Verfassungsgerichts­barkeit anerkannten Aufgaben gesichert, ohne dass die Differenz linear/non-linear und die „Sendungsbezogenheit“ dann noch eine Rolle spielten.

 

Rundfunkarchive und Mediatheken verdienen einen umfassenden Auftrag

Die im Referentenentwurf zu § 11d (2) 4 nun verwendete Formel zur Beauftrgung von Telemedienangeboten

Der Auftrag nach Absatz 1 umfasst insbesondere …

4. zeit-und kulturgeschichtliche Archive mit informierenden, bildenden und kulturellen Telemedien

bedarf einer Klärung. Sie bezeichnet hier die inzwischen von al­len Rundfunkanstalten betriebenen Mediatheken, die eine willkürliche Auswahl von Sendungen in einem bestimmten (nicht immer verständlichen) Ordnungs­system online zum Abruf anbieten. Archive im traditionellen Sinn sind diese Mediatheken nicht. Sie geben keine sonderlich systematische Auskunft über das täglich variierende Angebot und vor allem nicht über die nicht angebotenen, gleichwohl aber vorhandenen Produktionen, die in den eigentlichen Archiven zurückgehalten werden. Die Gründe der Zurückhaltung sind vielfältig: Bei älteren Produktionen gibt es einen großen Anteil von nicht vorhandenen und nicht geklärten Rechten zur Online-Darbietung. Sie sind zu einer Zeit entstanden, als Online-Medien als Verwertungsoption noch nicht existierten. Sie könnten dennoch angeboten werden, wenn potentiellen Rechteinhabern erklärt würde, dass sowohl die Bereitschaft zur Abgeltung wie auch die zum sofortigen Rückzug eines Archivstücks aus dem öffentlich zugänglichen Angebot bestünde. Dieser Vorschlag ist mit gewissen, aber bestimmt überschaubaren, finanziellen Risiken verbunden. Ein großer Teil auch der aktuellen Produktionen der Rundfunkanstalten erscheint regelmäßig nicht in Mediatheken, weil auch für diese die Online-Rechte nicht erworben werden. Vielfach handelt es sich dabei um Koproduktionen oder Verwertungsverträge mit der Audio- oder Filmindustrie. Zumindest bei den europäischen Produktionen ist ein entsprechendes Telemedienangebot nach § 11d (2) 2 gestattet und der Rechteerwerb möglich, wie das Beispiel der Arte-Mediathek zeigt.

Grundsätzlich sollte die Weiternutzung von Eigen- und Koproduktionen in Online-Mediatheken Vorrang vor anderen Nachnutzungen und Verwertungsformen haben und darf nicht von diesen be- oder verhindert werden. Ein Beispiel aus dem Hörfunk: Ein bedeutender Teil der etwa 300 jährlich von ARD-Anstalten und dem Deutschlandradio neu produzierten Hörspiele steht in Mediatheken nicht zur Verfügung. Statt dessenwerden Hörspiele und Lesungen von kommerziellen Partnern auf Speichermedien oder als Streams angeboten. Somit haben interessierte Beitragszahler nur sel­ten die Chance, ein nicht zufällig linear angehörtes Hörspiel dieser Kategorie kostenfrei zu hören. Angesichts der ohnehin hohen Zahl der Produktionen ist eher deren Reduktion als der Entzug der freien Nutzung vertretbar. Für viele Hörspiele, Lesungen und Features, die kulturgeschichtlich wertvolle künstle­rische Dokumente darstellen, kommt nur eine unbefristete Verweildauer in Mediatheken infrage.

Alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands verfügen über Rundfunkarchive, die eine Auswahl auch weit zurückliegender Programman­teile enthalten, systematisch ordnen und im wesentlichen für den Zugriff von Redaktionen bereithalten. Diese Archive sind inzwischen in einem unter­schiedlichen großen Maße digitalisiert und mit digitalen Metadaten verse­hen.[13] Es gibt für Archivmitarbeiter und Redaktionen die Möglichkeit der senderübergreifenden Recherche und Verfahren der kooperativen Bereitstel­lung von digitalen Archivgütern per Mausklick.

Andererseits fehlt für den Betrieb der Archive jeglicher gesetzlicher bzw. staatsvertraglicher Auftrag – abgesehen von der Pflicht zur temporären Auf­bewahrung von Sendungen zur Beweissicherung in juristischen Eventualfällen (drei Monate). Allerdings sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Jahre 2004 eine Selbstverpflichtung eingegangen, in der sie die Einrich­tung und den Betrieb von Archiven bekräftigen. Die Archive dienen danach primär der Wiederverwendung und Weiterverwertung der Bestände, sekundär jedoch auch „der Langzeitsicherung der Fernsehüberlieferung als Kulturgut nach Bewertung der Archivwürdigkeit“.[14] Hörfunkinhalte sind in dieser Selbstverpflichtung nicht eingeschlossen.

Das Deutsche Rundfunkarchiv bekam von den ARD-Intendanten die Auf­gabe gestellt, bis 2018 einen Plan zur Fusion an nur einem Standort (Potsdam oder Frankfurt) vorzulegen. Personaleinschränkungen und weitere Einschrän­kungen, evtl. auch Reduktionen von Beständen und Aufgaben sind zu be­fürchten.

Die Rundfunkarchive insgesamt umfassen wesentliche Anteile des deut­schen akustischen und audiovisuellen kulturellen Erbes. Für viele Disziplinen der geisteswissenschaftlichen Forschung, der Politikwissenschaft, der Medien­wissenschaft, der Technikgeschichte usw. ist der Zugang zu den Archivinhal­ten und ihre Nutzung von großer Bedeutung. Für diesen Zugang gibt es seit einiger Zeit institutionelle Regeln und die Unterstützung der Häuser. Der wissenschaftliche Zugang ist jedoch stark beeinträchtigt durch die Provenienzbe­zogenheit und dabei inhaltliche Zufälligkeit und ungleiche Qualität der vor­handenen Metadaten, die ein Archivelement in einem Suchvorgang überhaupt sichtbar machen.

Bibliothekare und Archivare diskutieren in internationalen Gremien seit einigen Jahren Verfahren der kollaborativen Verschlagwortung auf offenen Plattformen. Wenn alle Archivare, Redakteure und forschenden Nutzer ihre Erkenntnisse zu einem Archivelement in eine offene, im Internet zugängliche Datenbank eintragen, erhält die Qualität der Metadaten und so­mit der Nutzwert der Archive einen ständigen Anschub. Eine weitere Verbes­serung kann mit automatischer Verschlagwortung durch Verfahren der Sprach-, Geräusch-, (Bewegt-)Bild- und Genreerkennung geleistet werden. Ein solches Verfahren wird beispielsweise für die Erzeugung von Metadaten der ARD-Mediathek bereits eingesetzt (Projekt mit dem Fraunhofer-Institut IAIS).

Die Realisierung solcher Verbesserungen schließt nicht zwangsläufig den offenen Zugang zu den Archivinhalten selbst mit ein. Im Interesse aller interessierten Beitragszahler ist jedoch zu fordern, dass urheberrechtliche Klä­rungen und geeignete administrative und technische Verfahren zur kontrol­lierten Öffnung der Rundfunkarchive für den freien Abruf evaluiert und ein­geführt werden. Denkbar ist beispielsweise bei älteren Inhalten, die vor Ein­führung des Internet erzeugt worden sind, die grundsätzliche Öffnung des Zugangs, der erst dann unverzüglich für einzelne Archivelemente geschlossen wird, wenn Einsprüche von Rechteinhabern erfolgen.

Die erklärte Zielperspektive eines zu formulierenden staatsvertraglichen Archivauftrags sollte die Öffnung des freien Internet-Zugangs zu den Rund­funkarchiven für alle interessierten Bürger sein.

Zwischen den Mediatheken und den Rundfunkarchiven sollten Schnittstel­len geschaffen werden, die den Übergang von Material, das in Mediatheken nicht mehr angeboten werden soll, in weiterhin offen zugängliche Archive er­möglicht. Der Betrieb von Mediatheken mit einem breiten Angebot muss im Rund­funkstaatsvertrag beauftragt werden. Ihre Finanzierung durch den Rundfunk­beitrag ist zu sichern.

Da die öffentlich-rechtlichen Medien sich in den nächsten Jahrzehnten zu digital vernetzten Inhalte-Anbietern wandeln werden, ist der Betrieb von Plattformen mit non-linearen Angeboten existentiell auch für deren weitere Legitimation. Der eigentliche gesellschaftliche Nutzen und kulturelle Wert des öffentlich finanzierten Mediensystems gründet zu einem wesentlichen Teil auch auf der „Backlist“ der vergangenen Produktionen und ihrer jederzeit möglichen freien Nutzung.

Die Genehmigungsverfahren müssen deutlich entbürokratisiert werden

Die in der 12. Rundfunkstaatsvertrags-Novelle eingeführten Verfahrensrege­lungen zur Prüfung und Genehmigung neuer und veränderter Telemedienan­gebote der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bedürfen einer dringen­den Revision, die über die Retuschen des vorgelegten Referentenentwurfs hinausgeht. Der Kern des „Dreistufentests“, nämlich die Prüfung von Aus­sagen darüber, nach § 11f (4),

  1. inwieweit das neue Telemedienangebot oder die wesentliche Änderung den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht,
  2. in welchem Umfang durch das neue Telemedienangebot oder die wesentliche Änderung in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen wird und
  3. welcher finanzielle Aufwand für das neue Telemedienangebot oder die wesentliche Änderung erforderlich ist,

ist eine zweifellos weiterhin gebotene Aufgabe, die von den Rundfunkräten zu erfüllen ist. Als äußerst problematisch und unproduktiv für die Erzeugung eines gesellschaftlichen Konsenses hat sich allerdings der Folgesatz und seine zusätzliche Detaillierung in Abs. (5) erwiesen:

Dabei sind Quantität und Qualität der vorhandenen frei zugänglichen Telemedienangebote, die marktlichen Auswirkungen des geplanten neuen Telemedienangebot oder der wesentlichen Änderung sowie jeweils deren meinungsbildende Funktion angesichts bereits vorhandener vergleichbarer frei zugänglicher Telemedienangebote, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zu berücksichtigen. […]

Das zuständige Gremium kann zur Entscheidungsbildung gutachterliche Beratung durch unabhängige Sachverständige auf Kosten der jeweiligen Rundfunkanstalt in Auftrag ge­ben; zu den marktlichen Auswirkungen ist gutachterliche Beratung hinzuzuziehen.

Die inzwischen etwa fünfzig durchgeführten aufwändigen Verfahren haben ge­zeigt, dass die Untersuchung der „marktlichen Auswirkungen“ von Telemedi­enangeboten – vor allem der noch nicht existierenden – in der bisher prakti­zierten Form nicht sinnvoll ist. Für ihre ersatzlose Streichung sprechen folgen­de Gründe:

  1. Die Marktabgrenzung in einem Umfeld dynamischer technischer und in­haltlicher Entwicklungsprozesse und äußerst verschiedener ökonomischer Strukturen ist schwierig und grenzt an definitorisches Abenteurertum.
  2. Die Bestimmung zukünftiger Marktanteile ist zwar im Wege der Konstruk­tion von Szenarien möglich, es muss dabei jedoch berücksichtigt werden, dass diese Szenarien sich in einem unklärbaren Bereich bewegen, in dem sich Wissenschaft und Fiktion die Hand reichen. Auch die in vielen Marktgutachten bei Dreistufentests verwendeten Conjoint-Analysen ver­langen im Prinzip die spekulative Benennung von Merkmalen künftiger Angebote, zu denen dann in Befragungen Relevanz-Bewertungen des Pu­blikums eingeholt werden.
  3. Ein für die ökonomischen Auswirkungen von geplanten Online-Angebo­ten notwendiger Vergleichsmaßstab steht vorderhand nicht zur Verfügung, da kommerzielle Angebote, die auf Einnahmen angewiesen sind, mit bereits finanzierten nicht-kommerziellen Angeboten zu verglei­chen sind.
  4. Den Rundfunkräten wird durch die vorgeschriebene Prozedur gerade bei der Bewertung der medienökonomischen Gutachten eine hohe Arbeitsbe­lastung aufgezwungen, die sich durch die (absehbaren) Ergebnisse nicht rechtfertigen lässt. Angesichts der dynamischen Entwicklung der digitalen Medien ist der Erkenntniswert der gesetzlich geforderten spekulativen Marktuntersuchungen gering.

Zum dritten Punkt einige Erläuterungen. Ein Vergleichs­maßstab für Markt­anteile im Konsumentenmarkt für Online-Angebote kann die Nutzungszeit verschiedener Angebote sein. Diese kann nach erfolgter Marktabgrenzung und der Definition vergleichbarer Anbieter ermittelt werden. Das ist derzeit nur durch Nutzerbefragungen möglich, da vergleichbare technische Daten für die vielen unterschiedlichen Angebotsformen (einschließlich der Nutzungszei­ten für Audio- und Videostreams) nicht vorhanden bzw. ihre Ermittlung und Registrierung nicht standardisiert sind. Diese Marktanteile sagen jedoch oh­nehin noch nicht viel über die marktlichen Auswirkungen aus. Gefordert ist dazu eine klare Unterscheidung von substituierender und komplementärer Nutzung. Schließlich – und dies ist das komplexeste Problem – muss eine Aussage über die zu erwartenden finanziellen Mindereinnahmen der kom­merziellen Marktteilnehmer getroffen werden können, die diese durch den Markteintritt eines öffentlich-rechtlichen Angebots erleiden würden. Inzwi­schen – und dies ist eine gegenüber 2008 deutlich veränderte Situation – er­streckt sich die (Re-)Finanzierung kommerzieller Angebote auf eine ganze Reihe von Quellen, die meist miteinander kombiniert werden: Abonnements, digitale Einzelverkäufe in Eigenregie oder durch Dienstleister (wie Blendle), App-Verkäufe, Werbung, Kooperationen, Affiliate Marketing und einige mehr.

Eine seriöse Wettbewerbsanalyse müsste die wettbewerbliche Einwir­kung für jede dieser Finanzierungsformen bei jedem Angebot einzeln ermit­teln und gewichten. Dies ist aufgrund fehlender Daten, des ungeheuren Erhe­bungsaufwands und der hohen Komplexität faktisch unmöglich und daher auch nicht sinnvoll. Es bleibt als Ausweg das von einigen Dreistufentest-Gut­achtern, darunter regelmäßig vom Beratungs- und Medienforschungsunter­nehmen Goldmedia angewandte Verfahren der fiktiven Preisbildung. Ausge­hend von einer angenommenen Nutzerabwanderung bei kommerziellen On­line-Anbietern wird anhand der auf Basis von IVW-Daten berechneten Wer­beumsätze ein „Marktäquivalenzwert“ des öffentlich-rechtlichen Angebots berechnet. Da ebenfalls und zusätzlich eingesetzte Finanzierungsformen wie Bezahlangebote anders als Werbung nicht von Nutzerreichweiten abhängig sind, ist die Auswirkung auf diese Einnahmen nicht seriös zu bestimmen und wird ignoriert. Das Ergebnis aller bisherigen Marktanalysen nach diesem Ver­fahren ist, dass die ermittelten „Marktäquivalenzwerte“ keine wesentliche Auswirkung auf direkte und angrenzende Wettbewerbsmärkte erwarten las­sen.

Da die angewendeten Methoden, in deren Zentrum die von vielen Ökonomen und Statistikern hochgeschätzte Conjoint-Analyse steht, ihren Se­gen durch EU-Wettbewerbsbehörden erhalten haben, werden sie auch weiter­hin als Standard Verwendung finden. Auch dadurch ist gesichert, dass künfti­ge Untersuchungen ähnliche Ergebnisse ausweisen werden. Die von Interes­senvertretern der Zeitungsverlage häufig – und immer wieder massiv gegen die Tagesschau-App – vorgebrachte Behauptung des Verdrängungswettbe­werbs durch beitragsfinanzierte Angebote lässt sich durch diese Untersu­chungsformen und -ergebnisse nicht dämpfen.

Die Einrichtung einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission durch die Medienkommission der Länder, die alle vier Jahre die vorhandene Marktsituation an­hand von Datenzulieferungen der relevanten Marktteilnehmer untersucht und auf diese Weise eine politische Debatte und gegebenenfalls staatsvertragliche Korrekturen ermöglicht, ist eine erheblich sinnvollere Lösung, die wir hiermit vorschlagen. Das Prüfungsverfahren wird dadurch zeitlich entzerrt, von sei­nen spekulativen Elementen befreit und ist mit deutlich geringerem Aufwand verbunden: Der von den Rundfunkräten mit ihrer Kompetenz ­– und gegebe­nenfalls auch unter Hinzuziehung von externen Gutachten – bewertete Bei­trag eines Angebots zum publizistischen Wettbewerb ermöglicht den Start oder die Veränderung eines Telemedienangebots. Die ökonomischen Aspekte werden im politischen Auftrag sinnvollerweise erst dann überprüft, wenn Da­ten vorhanden sind und sein können.

Dass die Landespolitik die formale Ver­antwortung für die regelmäßige ökonomische Wettbewerbsanalyse über­nimmt, nimmt den Rundfunkräten nicht ihr medienpolitisches Gewicht – zu­mal ihre Entscheidungen über Telemedienkonzepte auch jetzt immer von den Landtagen verabschiedet werden müssen. Die Unsicherheit über die Legitimi­tät von Angeboten wird eingedämmt, juristische Auseinandersetzungen sind seltener nötig, dafür von ihren Gegenständen her transparenter und adressie­ren letztlich die Landesgesetzgebung, nicht die öffentlich-rechtlichen Medien­anbieter.

 

 

[1]     Konzession für die SRG SSR idée suisse, Art. 13. [Download des Textes: https://www.ba­kom.admin.ch/bakom/de/home/elektronische-medien/informationen-ueber-radio-und-fernseh­veranstalter/srg-ssr/konzessionierung-und-technik-srg-ssr.html]

[2]     Postzeitungsordnung (PostZtgO) vom 9. September 1981, in: Amtsblatt des Bundesminis­ters für das Post- und Fernmeldewesen, 142 (1987), Bonn, 14. Dezember 1987, S. 2338 ff.

[3]     Siehe http://digiday.com/media/silent-world-facebook-video/ und news aktuell (Hg.), Vi­deo-PR 2017. Trends, Tipps & Tools. Whitepaper 04, 2016.

[4]     Sogar Christoph Keese (Springer-Verlag), dessen Auffassung der „Presseähnlichkeit“ das OLG Köln in seiner Entscheidung zur Tagesschau-App offenbar übernimmt, äußert sich 2011 entsprechend: http://www.presseschauder.de/warum-verlage-gegen-die-ard-klagen/. Anderer­seits kritisiert er im selben Zusammenhang auch Beiträge auf tagesschau.de, deren Sendungs­bezug unzweifelhaft herstellbar ist (wenn vielleicht auch im Jahr 2011 nicht angegeben wurde).

[5]     Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit der „Tagesschau-App“
Nr. 75/2015. Pressemitteilung des OLG Köln PM 31/2016.

[6]     In § 2 Absatz 2 Nr. 19 des Rundfunkstaatsvertrags ist Sendungsbezug definiert: „Angebo­te, die der Aufbereitung von Inhalten aus einer konkreten Sendung einschließlich Hintergrund­informationen dienen, soweit auf für die jeweilige Sendung genutzte Materialen und Quellen zurück gegriffen wird und dieses Angebote thematisch und inhaltlich die Sendung unterstüt­zend vertiefen und begleiten, ohne jedoch bereits ein eigenständiges neues oder verändertes An­gebot nach §11f Abs. 3 darzustellen.“

[7]     Thomas Vesting, Die Tagesschau-App und die Notwendigkeit der Schaffung eines „Inter­medienkollisionsrechts“. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing, 2013. [Download: ww­w.ksp.kit.edu/download/1000035590]

[8]     Siehe Fußnote 1.

[9]     Twitch-TV ist eine Streaming-Plattform, ähnlich wie Youtube, die sich überwiegend an Computerspiel-Begeisterte wendet.

[10]   Bei den Gaming-Aktiven breitet sich unterdessen eine Art Piratensender-Mentalität aus, er­kennbar an Ankündigungen wie dieser: „Heute um 18 Uhr könnte es einen Stream geben. viel­leicht. Und dann sehr spontan. Auf keinen Fall ist der angekündigt oder linear. Und er belegt keine Rundfunkfrequenz. Außerdem hab ich noch keine Ahnung, was wir spielen. Würden. Wenn es einen Stream gibt. Was man nicht weiß. Kann man ja nie so genau wissen.“ [https://www.twitch.tv/gronkh – 31.03.2017]

[11]   Winfried Kluth/Wolfgang Schulz: Konvergenz und regulatorische Folgen. Gutachten im Auftrag der Rundfunkkommission der Länder (2014).

[12]   Siehe Hans-Jürgen Papier/Meinhard Schröder: „Gebiet des Rundfunks“, epd medien Nr. 60, 04.08.2010; Helmut Hartung, Interview mit Martin Stadelmaier „Die Entwicklungsgaran­tie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks spricht gegen ein Verbot textbasierter Angebote“, pro­media, 08/2010.

[13]   Obwohl die Digitalisierung unter anderem der materialtechnischen Rettung der Archivgü­ter und somit der Langzeitarchivierung dienen soll, sind im Wege der „Kassation“ auch dabei wieder tausende Sendestunden vernichtet worden.

[14]   Freiwillige Selbstverpflichtungder in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstaltender Bundesrepublik Deutschland zusammengeschlossenen Landesrund­funkanstalten, der Deutschen Welle und des Zweiten Deutschen Fernsehenszur Umsetzung des Zusatzprotokolls „Schutz von Fernsehproduktionen“ zur Europäischen Konvention über den Schutz des audiovisuellen Erbes des Europarates. In: Deutscher Bundestag, 17. Wahlperio­de, Drucksache 17/12952, S. 45.

 

 


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