#Journalismus

Postjournalismus, nicht konstruktiver Journalismus

von , 16.2.17

Vorhin habe ich diesen Artikel auf Meedia gelesen: Constructive Journalism – ist der Hype um den Weltverbesserer-Journalismus schon wieder vorbei? Während der Lektüre musste ich mehrmals stirnrunzelnd innehalten: Anscheinend ist dieser Hype komplett an mir vorbeigegangen; und das, obwohl ich jeden Tag mehrere Newsletter von Onlinenachrichtenmedien lese und von Medien, die über die Medienbranche schreiben. Nun gut: Es ist kein Geheimnis, dass die Medienbranche dazu neigt, sich selbst zu hypen und Hypes von Medien über Medien zu produzieren, die sich dann auch nur an die Medien richten, nicht aber an die Rezipienten aus dem breiten Publikum. Wenn sich Medienkommunikation auch nur in der Filterblase der Medienkommunizierenden – „Experten“ – abspielt, ist es folglich kein Wunder, dass der „gut informierte Bürger“ und der „Mann auf der Straße“ (nach Alfred Schütz) davon nichts mitbekommen – und die vielleicht gut gemeinten Initiativen dementsprechend auch nicht würdigen können.

Was ist Constructive Journalism?

Die Wikipedia – als Sammelstelle des kondensierten Alltags- und Expertenwissens – sagt darüber: „Konstruktiver Journalismus ist eine Strömung im Journalismus, die Prinzipien aus der positiven Psychologie in den Journalismus einbezieht. Konstruktiver Journalismus will über ‚positive Entwicklungen‘ berichten, um ein ‚einseitiges negatives Weltbild‘ bei den Lesern zu verhindern. Probleme sollen dabei nicht ignoriert, sondern um die ‚Diskussion möglicher Lösungsansätze‘ erweitert werden.“

Der Einführungsabsatz von Meedia liest sich in Ergänzung dazu wie folgt: „Im vergangenen Jahr war Constructive Journalism in aller Munde. Neue Angebote, wie das durch Crowdfunding finanzierte Perspective Daily, entstanden. Etablierte Medien, wie Spiegel Online oder Zeit Online, experimentierten mit gezielt gestreuten guten Nachrichten.“

Konkrete Beispiele sind bei Meedia die „Expedition Übermorgen“ von SPON und die per Crowdfunding finanzierte Plattformen wie „Perspective Daily“, die Wikipedia listet noch ein paar weitere Portale wie Kater Demos in Deutschland und andere im internationalen Raum.

Auf den ersten Blick klingt konstruktiver Journalismus gut. Allerdings nur auf den ersten Blick. Denn ich stelle mir die Frage, wie es so weit kommen konnte, dass die Berichterstattung über ‚positive Entwicklungen‘ bewusst als etwas Neues verkauft werden muss – obwohl doch Schönes ebenso wie Schlechtes seit jeher zum Kanon der Botschaften gehört, die über Medien verbreitet werden. Doch scheinbar ist der Nachrichtenwert (böse: Sensationswert) des Guten geringer als der des Schlechten, was erklären würde, warum die Anzahl der Berichte über Positives gesunken sein könnte. Das ist eine rein subjektive Vermutung.

Im Meedia-Bericht sagt eine Chefredakteurin, sie sehe in konstruktivem Journalismus keinen Widerspruch zu kritischem Journalismus. Das sehe ich ebenso, doch frage ich mich, wo in den Onlinemedien – und die genannten Beispiele für konstruktiven Journalismus sind allesamt Onlineangebote – der kritische Journalismus überhaupt geblieben ist. Er ist weder auf den Seiten der bekannten Nachrichtenmedien (in gewissen Kreisen „Mainstream-Medien“ genannt), die Reichweite hinterhereilen, noch auf den Seiten der selbst ernannten alternativen Medien, die mit ihren Halbwahrheiten und Ganzfalschheiten ebenfalls auf eine möglichst virale Weiterverbreitung aus sind. Womöglich ist es nur eine Frage der Definition dessen, was kritischer Journalismus sein oder können soll. Google hat dazu weder auf Deutsch noch auf Englisch eine eindeutige Definition auf Lager, nur Verweise auf Objektivität und Analytik. Eine Quelle erklärt 2010 (2011) den kritischen Journalismus zum Pleonasmus, denn: „Journalismus an sich sollte kritisch sein.“ Eine andere Quelle zeigt auf, was kritischer Journalismus ist und nicht ist (ebenfalls 2010). 2003 schreibt Erin Merriman für „EDGE, Spring Quarter“ auf einer Stanford-Webseite über Soft News, the Rise of Critical Journalism, and How to Preserve Democracy:

„Critical journalism tends to be a more negative version of soft news.  It is characterized by journalists who will stop at nothing to expose scandal, deceit, and mistakes in government.  Former PBS anchor Robert MacNeil s referring to critical journalism when he says that the trends ‚are toward the sensational, the hype, the hyperactive, the tabloid values to drive out the serious‘ (Patterson, 3).  Matthew Carleton Ehrlich describes today’s news as ‚the journalism of outrageousness‘ (Patterson, 3).“

Wenn also „kritischer Journalismus“ eine Hinwendung zur Sensation und zum Mit-dem-Finger-zeigen bedeuten soll, dann ziehe ich meine Frage nach dem Verbleib des kritischen Journalismus zurück. Denn Hypes und das verbreitungswirksame Aufbauschen von Details bei gleichzeitiger Stigmatisierung und Verallgemeinerung sehe ich jeden Tag in vielen Medienberichten. Ich würde diese Form der Berichterstattung aber „destruktiven Journalismus“ nennen. Mit objektiver Kritik hat das nichts mehr zu tun. Der Vorteil an dieser Umbenennung wäre, dass dann ein neuer semantischer Raum für den kritischen Journalismus entstünde, der mit Bedeutung gefüllt werden könnte: Eine Auferstehung des kritischen Journalismus, wie er vielleicht einmal gedacht war und auch heute wieder sein könnte. Er wäre vielleicht ein Stückweit objektiver – und damit meine ich nicht objektiv im Sinne von ausgewogen, dass jeder Politiker, jede Partei und jeder abtrünnige Staatenführer an den Pranger gestellt wird. Sondern objektiv hinsichtlich der eigenen Agenda – wirtschaftlich (wir brauchen Reichweite, um Werbung zu verkaufen und unser Angebot zu finanzieren) wie politisch (wir verbreiten russlandfreundliche, chinafreundliche, amerikafreundliche, rechtsgesinnte Nachrichten). Denn solange die eigene Agenda auf der Metaebene wie eine Dunstglocke über der Berichterstattung schwebt, kann von objektiver Kritik keine Rede sein.

Zurück zum konstruktiven Journalismus.

Kopfschüttelnd lese ich im nächsten Absatz, dass ein großes überregionales Online-Nachrichtenmedium 2016 eine Zeitlang „Eilmeldungen“ zu positiven Ereignissen prominent auf seiner Website geschaltet und aktiv gepusht hat. Der Vorstoß wurde nach einer gewissen Weile wieder eingestellt, weil man sich schwer damit tat, im eigenen Angebot „täglich eine substantielle Geschichte (…) zu finden, die eine solche Pushmeldung wirklich rechtfertigt.“ Womit wir erstens wieder beim oben genannten Problem wären: Das Positive ist in den Berichten von vornherein unterrepräsentiert, ergo gibt es wenig Positives, das verbreitet werden kann – obwohl das Weltgeschehen ausreichend viele positive Geschichten produziert. Hinzu kommt, dass die Leserschaft von diesem Metakontext des konstruktiven Journalismus natürlich nichts ahnt – ich hatte es bereits erwähnt: Hypes und Trends, die von Medien für Medien geschaffen werden, aber dabei das Publikum außer Acht lassen, bzw. gar nicht erst erreichen. Was also denkt sich ein Leser, der – anders als von der Trollkommentare provozierenden Berichterstattung zur Schlechtheit der Welt gewohnt – auf einmal „hysterisch“ mit tendenziell weniger relevanten Nachrichten „bombardiert“ wird (ich übertreibe bewusst): Er denkt an eine mediale Bevormundung, an eine Verschleierungstaktik, an eine geheime Agenda, an eine Verschwörung. Er verliert das Vertrauen in die Medienberichterstattung.

Wie lässt sich dieses Problem beheben?

Wir müssen es in einem ersten Schritt benennen. Das Konzept des konstruktiven Journalismus sollte in der Versenkung verschwinden; konstruktiv-positive Nachrichten sollten (wieder?) einen gleichberechtigten Platz neben den Berichten über das Schlimme in der Welt haben. Den konstruktiven Journalismus noch als Extrasparte (oder Extramission) zu führen, erscheint mir wenig sinnvoll. Denn wenn wir einen Blick auf das Panorama der „Journalismen“ werfen, stellen wir fest: Konstruktiver Journalismus müsste unter anderem abgegrenzt werden von investigativem Journalismus (z.B. „netzwerk recherche“), von unabhängigem Journalismus (z.B. „Krautreporter“), von „Recherche-Verbünden“, von Recherche-Sparten in Onlinemedien (z.B. „Die Recherche“ von der SZ), von medienkritischen Aufdeckplattformen (z.B. „Übermedien“ oder „Social Media Watchblog“), von gesellschaftskritischen Onlinemedien (z.B. „Utopia“)… Die Liste der Kategorien für Medienunternehmen und für ihre inhaltliche Ausrichtung wird immer länger, das Angebot unübersichtlicher, individueller und ausdifferenzierter – kurz: postmodern.

Man mag den Begriff der postmodernen Gesellschaft mögen oder verteufeln, aber er beschreibt den Zustand der sozialen Ordnung und ihrer sozialen Systeme heuristisch gesehen hinreichend gut. Eine postmoderne Gesellschaft braucht folglich einen postmodernen Journalismus – oder eben den Postjournalismus. Das heißt auch: den Mut haben, nicht die Berichterstattung innerhalb der Journalismen zu hinterfragen, sondern den Journalismus an sich zu überdenken.

Was für ein Journalismus wäre ein Postjournalismus?

Einer, der sich von keiner wirtschaftlichen, politischen oder anderweitig gearteten übergeordneten Agenda-Dunstglocke lenken lässt und lassen muss.

Einer, der sich nicht mehr kritisch, konstruktiv, destruktiv, investigativ, analytisch, unabhängig, objektiv… nennen muss.

Einer, der keine Hasskommentare provoziert oder Fake-News produziert und das positive wie negative Weltgeschehen gleichwertig behandelt.

Einer, der den pluralistischen Formen der Medienberichterstattung und der Medienberichterstattenden gerecht wird.

Ich habe keine Lösungen, nur noch zwei abschließende Anmerkungen:

Der Begriff Postjournalismus taucht bereits 2011 in einem taz.blog-Post von Detlef Guertler und auf der Website des Autors Michel Reimon auf. Es gab ein Buchkonzept zum Postjournalismus – daraus ist anscheinend nichts geworden – und er definierte Postjournalismus damals so: „Eine Berichterstattung, die zwar noch alle äußerlichen Merkmale von Journalismus aufweist, aber eine andere Funktion hat, nämlich bestimmte Zielgruppen zu erreichen und dann zur Werbung zu lenken.“ Guertler kritisiert diese Definition und ich schließe mich ihm an, wenn er sagt: „Was Reimon ‚Postjournalismus‘ nennt, ist also schlicht – Journalismus.“ Das ist die Dunstglocke der wirtschaftlichen Agenda, von der ich sprach und für die es im aktuellen Mediensystem keine Alternative gibt. Das meine ich nicht mit Postjournalismus.

Ein Problem des Journalismus ist meines Erachtens nach (wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch) die déformation professionelle der Journalisten. Diese ‚berufliche Einstellung‘, heißt es in der Wikipedia„bezeichnet die Neigung, eine berufs- oder fachbedingte Methode oder Perspektive unbewusst über ihren Geltungsbereich hinaus auf andere Themen und Situationen anzuwenden, in denen sie zu eingeengter Sichtweise, Fehlurteilen oder sozial unangemessenem Verhalten führen kann.“ Für Onlinejournalisten gilt dies meines Erachtens nach mehr als für Printjournalisten. Wer täglich unter dem Druck arbeitet, dass das Geschriebene reichweitenmaßgeschneidert und schnellstmöglich verfügbar sein muss, sieht das Weltgeschehen nur noch mit der journalistischen Brille und kann gar nicht mehr anders – und ich habe das sowohl beobachtet als auch erlebt und gemacht. Der akademische Teil meiner eigenen journalistischen formation professionelle hatte nur wenig zu tun mit der Realität in einer Online-Redaktion. Wenngleich ich nicht sagen kann, ob sich das mittlerweile geändert hat oder ob die Grundlagenausbildung immer noch so schön ist wie in den späten Nullerjahren und den frühen Zehnerjahren, halte ich die déformation doch eher für ein learning-by-doing-Problem, also eine Mutation, die on the job im Tagesgeschäft geschieht. Ein Grund dafür ist vielleicht auch die Abkopplung der Onlineredaktionen von den Printredaktionen, der neuen Journalismen von einer alten Journalismus-Schule und der fehlende Generationenaustausch.

Nun beißt sich aber die Katze in den Schwanz: Um diese Mutation zu verhindern, muss der Journalismus neu gedacht werden. Aber um den Journalismus neu zu denken, braucht es Journalisten, die ihn neu denken und neu schreiben.

Im Meedia-Artikel steht über Perspective Daily noch: „Eine journalistische Ausbildung haben die Macher nicht, sie sehen eine solche auch eher als hinderlich an. Niemand der mittlerweile 25 Redaktionsmitarbeiter in Münster hat ein Volontariat.“ Auf den ersten Blick klingt das gut: Journalismus machen mit Leuten, die keine Journalisten sind und weder formation noch déformation erlebt haben – quasi Postjournalisten. Aber nur auf den ersten Blick. Denn hier liegt der Denkfehler: Auch die Nichtjournalisten spielen nach den Regeln der Journalismen und bewegen sich innerhalb der Dunstglocke einer reichweitengesteuerten Onlinemedienberichterstattung. Also: nicht Postjournalisten, sondern Postjournalismus.

 


 

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