#ARD

Entfesselung des Volksempfindens

von , 21.10.16

Die ARD hat etwas ausprobiert – und wenn man dem Echo in den meisten Medien folgt, war es nicht nur ein Quotenerfolg. Das Publikum als Richter. Etwas zynisch könnte man sagen: Ist das nicht sowieso längst so, seit aus Öffentlichkeit Markt geworden ist? Und ganz ohne Zynismus muss man feststellen, dass zumindest im allseits angegriffenen Journalismus inzwischen kaum mehr jemand meint, die ganze Richtung sei ein Problem. Volk, entscheide DU! Ist doch Demokratie, oder?

In Wahrheit stehen wir hier – eine ganze Weile schon – an einer sehr grundlegenden Weggabelung. Eine, an der sich inzwischen vielerlei extrem unterschiedlichste Leute zusammen tun, um für sich selbst Unabhängigkeit einzuklagen, man kann auch sagen: pure Eigenverantwortlichkeit. Gegen andere, die gerne als Bevormunder oder einfach Eliten bezeichnet werden. Denen man „nichts mehr glaubt“, was man sich nun endlich auch zu sagen traut. Das ist ein Klavier, aber dem Populisten aller Art gerne und erfolgreich spielen. Und weil so tatsächlich eine Melodie entsteht, geht es überhaupt nicht mehr nur um Einzelereignisse.

Die ARD hatte einen Quotenerfolg mit dem Ansatz, im gegenwartsfiktionalen Fall des befehlswidrigen Abschusses einer offenbar entführten Lufthansamaschine durch einen Bundeswehrpiloten das Publikum in die Rolle von Richtern zu rücken. Sie ist damit gleich in mehrfacher Hinsicht der medialen Modernitätslogik gefolgt. Sie ist einen ersten Schritt in Richtung interaktives Fernsehen gegangen, einen experimentellen Schritt in Richtung Internetfähigkeit ihres linearen Programmangebots. Sie hat auch inhaltlich digitalisiert, wozu sich Gerichtsthemen prima eignen: schuldig/nichtschuldig ist ja/nein.

Moralische oder juristische Komplexität hin oder her, die bleibt jetzt nur noch Vorspiel. Während sich in der realen juristischen Welt doch genau diese digitalisierte Wahrnehmung aufgelöst hätte. Hin zu einem „schuldig, aber straflos“ zum Beispiel. Und: Aus Fiktion wird Realität gemacht. Immer stärker versuchen zuletzt auch die öffentlich-rechtlichen Sender, ein Publikum, bei dem Krimis scheinbar immer ziehen, über fiktionale Aufbereitungen auch mit gesellschaftsbezogenen Themen zu konfrontieren. Was mit spielfilmartig zugespitzten Klischees einher geht, zum Beispiel Klischees über das Politische. Was aber auch die Wahrnehmungsgrenzen verschwimmen lässt zwischen Realität und fiktiver Realität. Und was, wenn am Ende durch eine reale Publikumsabstimmung ein reales Ereignis steht, diesen Prozess immer weiter beschleunigt.

Dies skeptisch zu sehen, muss nicht zwingend bedeuten, im aktuellen ARD-Fall die Standesvertretungen der Richterschaft dafür zu verteidigen, dass sie nun lautstark um ihre Unberührbarkeit fürchten. Sind Gerichte bisher doch – warum eigentlich? – geradezu die letzten Instanzen der alten Gewaltenteilung, deren alltägliche Realität noch kaum im allgemeinen Meinungsgeschnatter zerlegt und abgewertet wird. Deren Urteile, man staune, selbst von den Treibern der unterhaltungsheischenden öffentlichen Meinungsbildung prinzipiell akzeptiert werden.

 

Ist nicht das Verdikt von der „Lügenpresse“ nichts anderes als die Selbstbefreiung eines Teils des Publikums von dem bisher gewohnten Respekt vor journalistischer Professionalität? Treibt nicht ein Donald Trump die Unkultur der antielitären Ich-Demokratie auf die Spitze, wenn er schon vorab flugs behauptet, die US-Wahl sei manipuliert, weil der Journalismus gegen ihn sei?

 

Aber dass da ein Rest Respekt ausgehöhlt werden könnte durch alleine schon den Gedanken, das Publikum könne eine – dramaturgisch konstruierte und juristisch stark vereinfachte – Rechtsfrage am Ende legitimer beantworten als ein Gericht, ist in der Tat ein Problem. Nicht das einzige in diesem Zusammenhang. Denn im Umfeld des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses werden viel radikaler noch parallele Trends sichtbar, ohne jedes fiktionale Drumherum.

Ist nicht das Verdikt von der „Lügenpresse“ nichts anderes als die Selbstbefreiung eines Teils des Publikums von dem bisher gewohnten Respekt vor journalistischer Professionalität? Treibt nicht ein Donald Trump die Unkultur der antielitären Ich-Demokratie auf die Spitze, wenn er schon vorab flugs behauptet, die US-Wahl sei manipuliert, weil der Journalismus gegen ihn sei? Und steckt nicht hinter all dieser Haltung und Strategie am Ende eine Denkart, wie sie in der 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland von rechts offensiv via „gesundes Volksempfinden“ zum Kampfinstrument gemacht wurde? Nach der Methode, Eliten (jeweils zu definierender Art) hätten das Volk schon lange genug bevormundet? Wenn dann, quasi als Sumpfblüte, auch noch durchgeknallte „Reichsbürger“ ganz offen den Staat ignorieren können, ohne als Verfassungsfeinde eingestuft und mit Verboten belegt zu werden, stellen sich längst bereits Fragen der Selbstachtung der demokratischen Institutionen.

Nun ist der Elitenbegriff hier auch bereits selbst Kampfmittel. Denn er umfasst zumindest die Unterstellung, dass es sich um Leute handelt, deren Status im Grunde demokratisch illegitim ist. Egal ob nun wirtschaftlich Mächtige und Superreiche, lohnschreibende Journalistinnen und Journalisten, Lehrerinnen und Lehrer oder eben Juristinnen und Juristen. Das macht in diesem Zusammenhang deshalb kaum einen Unterschied, weil das Argument letztlich auf Spezialisierte, auf Expertinnen und Experten schlechthin abzielt, die dann pauschal unter dem Begriff der Meinungselite zusammengefasst werden.

Der medienpolitische Anlass der ARD-Ausstrahlung ist viel zu klein, um daraus nun ursächlich dieses ganz große Thema abzuleiten – wohl wahr. Es ist ja auch eher umgekehrt: In das allgemeine Klima wachsenden Abstands zu den Expertenwelten UND des Drucks in Richtung direkte Beteiligung in der digitalisierten Welt hinein entstehen solche neuen Sendeformate. Und werden von Medienjournalisten – recht vordergründig – bejubelt, weil auch die nur ihre eigene Spezialwelt sehen wollen. Wenn man dieses allgemeine Klima in Rechnung stellt, bleibt doch die Frage, ob man den Trend nun quotenheischend verstärken sollte, indem man das Direktvotum des Publikums geradezu als Emanzipationsakt verkauft. Oder ob ein Ansatz, der als egalitär daher kommt, nicht gleichzeitig auch demokratieblind sein kann.

 

Es entwickelt sich eine Ungleichzeitigkeit mit objektiv oder zumindest subjektiv Abgehängten, die leicht erreichbar sind für Pauschalangriffe auf diejenigen, von denen die Gesellschaft in herausgehobenen Rollen verkörpert wird.

 

Wenn die Soziologen die Gesellschaftsentwicklung richtig beschreiben, kasteln sich die verschiedenen Teilmilieus immer weiter voneinander ab. In der digitalen Welt ist das noch viel leichter als früher. Selbst rein räumlich fallen Milieus teilweise weiter auseinander als früher. Wenn – zum Beispiel – über Jahrzehnte die Abiturienten und Abiturienten ländliche Regionen verlassen und nur ein kleiner Teil nach dem Studium zurückkommt, bilden sich logischerweise Restgesellschaften. Was niemanden persönlich entwertet, aber eben doch bedeutet: Die Studierten, die oft auch die eher welterfahrenen und somit weltoffenen sind, sammeln sich in den großen Städten.

Das ist kein Problem DER Demokratie, aber es ist ein Problem IN der Demokratie. Es entwickelt sich eine Ungleichzeitigkeit mit objektiv oder zumindest subjektiv Abgehängten, die leicht erreichbar sind für Pauschalangriffe auf diejenigen, von denen die Gesellschaft in herausgehobenen Rollen verkörpert wird. Das alles wird via organisiertem Populismus nun machtrelevant. Und einfach nur zu sagen: Lass sie doch, sie werden schon sehen, wie weit sie damit kommen? Also: Populisten notfalls an die Macht, sie werden schon scheitern und dann ist’s wieder gut? Nichts ist dann wieder gut. Die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft an sich sind das Problem und sie bleiben. Umso tiefer, je eindeutiger die einzelnen Gruppen den Respekt voreinander verlieren. Und ein Präsidentschaftskandidat Trump sich sogar schon etwas davon verspricht, ein demokratisches Wahlergebnis nicht anzuerkennen.

Es wird Leute geben, die eine solche Argumentation als geradezu typisch ansehen für die Angst der von ihnen so verachteten Eliten vor dem Einflussverlust. Aber ist nicht gerade solche reine Selbstbestätigungswahrnehmung ein Kern des Problems? Weil man dann ja einwenden kann, was man will: Kompetenz ist kein Wert mehr, sondern eigenes Bauchgefühl sticht alles aus. Und wäre es nicht gerade das Gegenmodell, in der so unüberschaubaren digitalen Welt auf noch mehr vertrauensvoll rezipierte Einzelexpertise zu setzen, auch zwischen den verschiedenen Fachwelten? Also: Schlicht auch mal Fachleuten zu vertrauen? Als demokratische Schwarmintelligenz sozusagen, die dann aber einen rar gewordenen Treibstoff bräuchte: Vertrauen?

Da sind viele Ungewissheiten und Unsicherheiten. Da hat sich ein neuer Umgang mit Expertise noch lange nicht endgültig festgesetzt. Damit diese Chance aber nicht verloren geht, braucht es Respekt vor dieser Expertise – und nicht Abschätzigkeit. Richter sind Richter, kritisierbar durchaus mehr als bislang üblich, bleiben aber für die Urteile verantwortlich und sollten sich auch nicht täglich dem Schwarmunmut aussetzen müssen. Professionelle Journalisten/-innen bleiben qualifizierte Beobachter/-innen. Und gewählte Abgeordnete bleiben auch gewählte Abgeordnete, die – auf Zeit – in diesen Rollen den Respekt aller brauchen.

Mit was spielen wir? Zunächst mal nur mit den neuen technischen Möglichkeiten, Medienöffentlichkeit interaktiv zu inszenieren – und die Demokratie der Zukunft wird zweifellos verstärkt interaktiv sein müssen. Das aber nur inhaltsleer so hinzunehmen, ohne ethisch-moralische Leitlinien, reicht nicht. Dann zerlegt die Gesellschaft sich weiter selbst. Im Mittelpunkt muss die Realität stehen, nicht die Fiktion. Und Rollenklarheit. Bei aller neuen Offenheit, Partizipation und Kritikkultur: Das Publikum bleibt das Publikum. Wollen wir wirklich, dass es alle, die auf der öffentlichen Bühne stehen, zu Marionetten seines Bauchgefühls macht? Was dann aber die Demokratie leisten muss, ist mehr Offenheit für neue Ideen, neue Leute und Rollen auf Zeit.

 


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