#Gewerkschaften

„vorwärts“ und nicht vergessen?

von , 29.9.16

Die Zeit der Parteizeitungen alten Stils ist vorbei. Sie waren Teil der politischen Kultur der Parteien. Gewerkschaften, Kirchen und Verbände hatten Medien ähnlicher Art. Mitglieder und Sympathisanten holten sich in ihren Zeitungen ab, was sie benötigten, um Orientierung zu bekommen und im Streit der Überzeugungen und tagespolitischen Positionen mithalten zu können. Diese Zeitungen nahmen kaum übergreifenden Positionen ein, sondern waren Meinungs-„Separees“. In dem Maße, wie die Parteien ihrer begründenden Milieus verlustig gingen, verloren sie Funktionen.

Einige Beispiele: Die „Welt der Arbeit“ des DGB ist 1980 verschwunden, um heute in einem Blog des ehrenwerten, früheren IG Druck Funktionärs Franz Kersjes ein Nischendasein zu fristen. Der „Bayernkurier“, Rechtsaußen der Parteizeitungen, hat Satz und Druck mit Bits und Bytes getauscht. Der „Rheinische Merkur“, Flaggschiff des politischen Katholizismus, ist zu einer Beilage der Zeit (Christ und Welt) geschrumpft. Das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ mutierte zu einer Beilage – „Chrismon“. Die Umstände der Zeitungs-Schließungen waren teils unschön. Stolz auf Arbeit und Aufgabe wurden verletzt, missachtet. Es gab Augenblicke öffentlicher Erregung, dann waren die Blätter weg.

Der „vorwärts“ – zuvor „VORWÄRTS“ – der Sozialdemokraten hat überlebt. Er wird am 1. Oktober 140 Jahre alt. Am 1. Oktober 1876, an einem Sonntag, erschien die Ausgabe 1. Das ist ein verdammt langes Zeitungsleben. Eine Lehrbuch- Zeitungsgeschichte. Die Aufschlagseite der Jubiläumsausgabe zum 140. Geburtstag zeigt die Seite 1 über dem Falz dieser ersten Ausgabe. Darunter steht: „140 Jahre“ – und: „Die Stimme der Sozialdemokratie“. Das allerdings war der „vorwärts“ schon lange nicht mehr. Und damit sind wir mitten hinein gesprungen, kopfüber sozusagen, in die seit Jahrzehnten laufende Debatte über das langsame Sterben dieser Zeitungen.

Es lohnt, ein wenig in der neueren Geschichte des Blattes zu kramen, denn die Jubiläumsausgabe sowie die dazu gehörende Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus und die Reden über die Jubilarin sind mir zu geschliffen, zu gekünstelt. Sie kratzen lediglich an der Oberfläche. „Ein Leuchtturm jenseits der Extreme“ lautet ein Kapitel der Jubiläumsausgabe. „Blutige Kämpfe und tiefer Hass“, ein anderer, „Die Demaskierung Hitlers“ und „Der Reichstagsbrand“. Danach wird es unbestimmter: „Neuanfang“, „Mr. Vorwärts“, „Mehr Pressefreiheit wagen“, „Langer Kampf um die Wochenzeitung“… „Mehr Mut“.

Das ist vielleicht ungerecht. Aber da ich den „vorwärts“ und einen Teil seiner neueren Geschichte aus eigener Anschauung kenne – auch deswegen, weil ich der letzte Redaktionssprecher des Wochenmagazins war, will ich einiges hinzufügen, was nicht verloren gehen sollte. Auf einen Unterschied zu den Machern der sogenannten „bürgerlichen“ Presse will ich vorab hinweisen: Redakteurinnen und Redakteure von Parteizeitungen haben zwei Blickrichtungen, die sie nicht missachten können: Die nach innen, auf die sie begründende Organisation; und die nach außen, auf die Welt rings herum. Das war Aufgabe und Konfliktlinie zugleich. Der „Welt“ oder der FAZ fehlt die erstgenannte Blickrichtung.

1976 wurde der „vorwärts“ umgestellt: Die zuvor etwas unhandliche Wochenzeitung wurde auf das angenehmere halbe rheinische Format umgestellt. Konrad Boch verordnete dem Blatt einen klaren Umbruch, der sich an der FAZ orientierte, den Aufschlag zierten Kurt Halbritters grandiose Karikaturen (Schlapphutmänner lesen im Grundgesetz: …da stehen ja Sachen drin!) Die unvergessene Marie Marcks machte mit. Die Deutschland-Berichterstattung des „vorwärts“ genoss hohes Ansehen. Die Außenpolitik wurde breiter angelegt. Unvergessen sind manchen Lothar Romains Kinderseiten. Etwas Neues: Extraseiten Kinderliteratur für Kinder und Eltern. Aber die Auflage erreichte nicht die Höhe, die ein ökonomisch gesichertes Zeitungsleben garantiert hätte.

Die Berichterstattung insgesamt legte sich damals „in die Kurve“. Die westdeutsche Gesellschaft war auf dem Weg, eine konservative Dominanz abzuschütteln, sie war offen und nachvollziehbar polarisierter geworden. Das Diktum der belegten, puren Nachricht (etwas, nach dem ich mich richten kann), wich der Sucht, den Wettläufen um die „News“, nach dem Zitierfähigen, dem was im Wettkampf um öffentliche Beachtung und Auflage den Vorsprung sicherte – am Ende standen dann gefakte Hitler-Tagebücher. Schläfrige Pressestellen und Redaktionen wurden aufgemischt. Die SPD führte neben ihrer „Stimme“ ein Informationsmagazin für Mitglieder ein – eine faktische Konkurrenz.

Wenn die Gruppe der führenden Menschen in der SPD etwas „zu verkaufen hatte“, wanderte das in der Regel auf die Politikseiten der „bürgerlichen“ Zeitungen und nur in seltenen Fällen in den „vorwärts“. Werbung für die eigene „Stimme“ hätte anders ausgesehen. Offenkundig traute man „den anderen“ im Wettlauf um die Gunst der Öffentlichkeit mehr zu. Die Lieblingszeitung vieler führender Menschen in der SPD war die „Frankfurter Rundschau“, leider selber heute von Auszehrung gebeutelt, und nicht der „vorwärts“. Andere bedienten die „Welt“ oder früh am Morgen den „Deutschlandfunk“, der sicherte, dass die eigene Äußerung rasch über die Nachrichtenagenturen lief.

Was sich in der SPD auf den „vorwärts“ bezogen abspielte, das war mehr als Ärger und Zwist über einzelne Worte und Texte, wie heute zu lesen ist. Es gab eine Einstellung, die etwa so lautete: Die haben zu funktionieren. Ich will ein Bild benutzen und abwandeln, das ich dieser Tage in einem anderen Zusammenhang beim Durchblättern gefunden habe (in Gisbert Haefs Trojanischem Krieg): Da stehen zwei vor einem Tümpel. Der eine hat einen schweren Stein in der Hand. Der andere sagt: Wenn du den Stein da hineinwirfst, ist alles Wasser weg. Da steht nun der Redakteur und überlegt: Rein damit oder fallen lassen. Dass unter solchen Umständen nach 1976 (die Zeit zuvor kann ich schlecht beurteilen) erstklassige journalistische Arbeit geleistet wurde, ist umso bewundernswerter.

Es kommt ein Zweites hinzu, das stets und ständig vergessen wird: Der „vorwärts“ bewegte sich über viele Jahre hinweg nicht nur in einer polarisierten Gesellschaft, sondern einer durchaus polarisierten Partei, die mit zeitweise extrem knapper Mehrheit in einer Koalition zu regieren hatte. Streit über Investitionslenkung oder Marktkräfte; Streit über die innere Sicherheit während des „deutschen Herbstes“; Streit über die Ausgestaltung der Staatsnachfrage als Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und Streit über Kostenbremsen im Sozialstaat. Durchaus konservativ angelegte Wirtschaftsseiten passten der Parteilinken nicht; durchaus liberale Texte zur Innenpolitik gingen der Parteirechten gegen den Strich. Man benötigte schon Begabung und Fähigkeit, um sich hier zu bewegen ohne ständig in den Quark zu treten.

1986 wurde – unter Schatzmeister Hans Matthöfer – der „vorwärts“ in ein Magazinformat umgearbeitet. Auch während der folgenden Jahre wurde erstklassige journalistische Arbeit geleistet. Matthöfer war ein Mann, der das, was er anpackte, mit großem Elan betrieb. Er besorgte erstmals das Anzeigenvolumen, das der „vorwärts“ brauchte, der gemessen am Seitenumfang ein teures Blatt war. Matthöfer ging mitten im Umbruch, weil ihn der DGB benötigte, um die Reste seines Betriebe-Vermögens zu sichern. Die Anzeigen-Umsätze fielen wieder.

Es war eine erregende Zeit in einer bestechend guten Redaktion. Es wurden neue Möglichkeiten mit journalistischem Erfolg ausprobiert: Eine Seite Drei mit gut lesbaren Texten aus der Lebenswirklichkeit neben der Parteipolitik. Der damalige „vorwärts“ beschäftigte sich intensiv mit Betrieb und Gewerkschaften. Welches Blatt tat das damals schon außer der FR? Themenseiten wurden eingeführt. Ich habe bis heute die unglaublich treffende Zeichnung Nelson Mandelas auf der Titelseite des „vorwärts“ anlässlich dessen 70. Geburtstag im Juli 1988 vor Augen. Es gab ja nicht mal ein scharfes Foto vom Mann, der damals nicht mehr auf Robben Islands, sondern im Pollsmoor-Gefängnis zu Kapstadt saß. Der „vorwärts“ war in der Opposition Mutmacher und zeitweise eine Art publizistischer „Sherpa“ für diejenigen, die innerdeutsche Möglichkeiten ausloten wollten. Im Frühjahr 1989 war auch diese Spanne im Leben der Zeitung zu Ende. Das Blatt schaffte die 50.000 verkaufte Auflage nicht mehr. Der SPD wurde der „vorwärts“ zu teuer.

Was bleibt? Enttäuschung darüber, dass die 13 Jahre Experiment und Enttäuschung – also wegstecken können und wieder kämpfen – irgendwie im Archiv der SPD stecken geblieben sind. Registrieren. Lochen. Einsortieren. Und damit klappe ich meine Kladde zu. Mal schauen, wie man es macht, wenn der „vorwärts“ 150 geworden ist.

 


Möchten Sie regelmäßig über neue Texte und Debatten auf Carta informiert werden? Folgen (und unterstützen) Sie uns auf Facebook und Twitter oder abonnieren Sie unseren Newsletter.

 

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.