#Angst

Hass-Rede: zur Kulturgeschichte eines sprachlichen Phänomens

von , 19.9.16

Dass „Worte als Angriffswaffen“ Verwendung fanden und mit diesen „nicht gekämpft, sondern geradezu gerauft“ wurde, klingt vertraut heutig. Tacitus beschrieb damit den römischen Prozessredner Cassius Severus, dem er „blutdürstige Beredsamkeit“ attestierte. Auch von einem der größten Rhetoren Roms, Cicero, stammen zahlreiche Senats- und Gerichtsreden, die vor Verleumdungen und Schmähungen geradezu strotzen. Und immer dann, wenn der Druck auf die Außengrenzen des Imperium Romanum stieg, etwa an dessen afrikanischen Südgrenzen, erreichten auch die Hassreden im Zentrum ihre verbalen Höhepunkte. Die Vorurteile richteten sich gegen die Nordafrikaner im Allgemeinen und die Libyer im Besonderen, gesamte Ethnien wurden, von Plinius über Cicero bis Sallust, auf das Heftigste als Bestien und Wilde diffamiert. Stigmatisierungen und Stereotypisierungen auf der Grundlage der Physiognomie, sprachliche Konstrukte von Über- und Unterlegenheit, ausgrenzende Diskurse der Abneigung, des Hasses und der Angst standen gegen die „Barbaren“ an der Tagesordnung in Rom.

Der griechische Kulturimport in das Römische Reich war daran nicht ganz unbeteiligt, denn die sprachliche Form der Aberkennung von Gleichwertigkeit hatte vor niemandem haltgemacht, sie war Teil der Lingua franca, von Platon über Aristoteles bis Thukydides und Euripides. Als antiker Common Sense galt zumindest seit Aristoteles, dass das Sklaventum ein natürliches Phänomen und nicht etwa aus sozialen Gründen zustande gekommen sei. Noch ein paar Jahrhunderte weiter zurück, finden sich einige der geradezu blutgetränkten Texte des Alten Testaments. In dessen Kernbestand, dem Pentateuch, konkret im Deuteronomium, sind zahllose Aufrufe zu Gewalt und Beschreibungen von göttlich „legitimierten“ Massentötungen festgehalten. Diese performativen Passagen gehen weit über das Metaphorische hinaus; jeglicher exegetische Versuch, die narrativen Ebenen und historischen Schichten des Textes – über den systematischen Massenmord hinaus – auf eine bloß spirituell-poetische Dimension zu reduzieren, greift zu kurz, da in diesen insbesondere auch die politisch-militärischen Machtblöcke der Zeit, die antiken Großmächte der Ägypter, Assyrer, Babylonier und Hetiter reflektiert werden.

Die Hasssprache im ersten vorchristlichen Jahrtausend war im Vergleich zu heute zwar von einer völlig anderen Affektgeladenheit gekennzeichnet, da die gesamte Lebenswirklichkeit u. a. sehr stark sakral gebunden war, doch der Proto-Rassismus (B. Isaac) der Antike war kein biologistischer Rassismus, sondern extremer Ethnozentrismus. Innerhalb eines weiteren Jahrtausends stieg die Sprache der verfolgten Christen im Imperium Romanum allmählich zur Sprache der frühfeudalen Sieger während der Reconquista und der Kreuzzüge auf. Der physische Kampf wurde rhetorisch unterstützt und als gerechter Krieg, später auch als gottgewollter, heiliger Krieg, „deus lo vult“ („Gott will es“, Papst Urban II.) bezeichnet. Übersteigerte Stereotype wurden in Form religiöser Feindbilder verbal konstruiert, um als klerikale Verteidigungsstrategie zu maskieren, was de facto Angriffskriege waren.

Seither ist abermals ein Jahrtausend vergangen, die Aufklärung als geistiger Prozess der Ent-Täuschung im positiven Sinne, als ein aus der Täuschung Herausgelangen, als Heraustreten aus dem Zustand der verstandesmäßigen „Unmündigkeit“ (I. Kant), hat die geistigen Grundlagen dafür geschaffen, dass Europa zu dem werden konnte, was es heute ist. Doch das zwanzigste Jahrhundert wurde zum Jahrhundert der größten Sprachkatastrophe in der Kulturgeschichte der Menschheit. Ausgerechnet die Sprache des Deutschen Idealismus geriet in den monströsen Würgegriff der nationalsozialistischen Gleichschaltung, wurde politisch einverleibt und als hassverzerrt-deformiertes Wortgut wieder ausgespien. Die barbarischen Anschauungen der Diktatur brachten Begriffe hervor und gossen diese in Bezeichnungen, die wirkten, als wären sie Wörterbüchern von Unmenschen entsprungen. Die inhumanen Sprachentgleisungen trugen ihr zutiefst toxisches Hasspotenzial als verbale Vergiftungen und Verseuchungen tief in die Gesellschaft hinein.

Es entstanden während der NS-Diktatur zwei Sprachebenen: jene der brüllenden, fanatisch-hysterischen Hetzreden eines Goebbels oder Hitler und jene leise Ebene der perfiden und sämtliche Teile der Gesellschaft durchsetzenden Hasssprache, die in tausenden umcodierten Wörtern subkutan ihre Wirkung entfaltete. Der vordergründigen Semantik demagogischer Massenveranstaltungen standen Millionen an Mitläufern und Karriereopportunisten sprachlich zur Seite – diesen gegenüber die Sprache der Millionen an Betroffenen, Gegnern, Verfolgten und Opfern der Diktatur. Die Bedeutungsräume der Sprachebenen hatten Berührungspunkte jedoch keine Schnittmengen, denn die Sprache des und im Nationalsozialismus wurde in die Rücksichtslosigkeit des totalitären Sagens transformiert. Das Appellative duldete keine Widerrede, die Hassrede als komprimierter Tonfall der NS-Diktatur zerschlug die Sprache des Humanen. Es wurde kein Zweifel daran gelassen, dass der Führerkult auf fanatisch-superlativischen Bekenntnissen basierte und die geradezu liturgische Dynamik zwischen Masse und Führer sprachlich in einen religiös-narkotischen Begeisterungstaumel zu münden hatte.

Die primären Sprachtäter der NS-Zeit stehen fest, als politische Akteure einer Diktatur, die den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllten. Doch es waren die sekundären Sprachtäter, die das sprachliche Erbe des Nationalsozialismus tradierten. Die Millionen der Gleichgeschalteten und auch die Millionen an bagatellisierenden Gleichgültigen, an opportunistisch-angepassten Mitläufern, die es Tag für Tag mühelos über sich brachten, die nationalsozialistische Terminologie anzunehmen und anzuwenden, und dies während und zum Teil auch noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Paul Sailer-Wlasits: „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“, Wien 2012 (E-Book 2014)

Paul Sailer-Wlasits: „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“, Wien 2012 (E-Book 2014)

Aus diesen und weiteren toxischen Sprachresten speist sich die Hatespeech der Gegenwart. Verbale Verunreinigungen sind jener vergiftete Grund und Boden, auf welchem Verbalradikalismen der Populisten unserer Zeit errichtet werden. Restbestände des rassisch herabwürdigenden Vokabulars aus einer Jahrzehnte zurückliegenden Vergangenheit klingen durch, wenn im Kontext der Flüchtlingskrise das Wort „Überfremdung“ in allen seinen Sprachmutationen wieder auflebt, wenn das „gesunde Volksempfinden“ als „gesunder Menschenverstand“ wieder droht, mehrheitsfähig zu werden. Der verschmutzte und beschädigte Sprachkern des „Völkischen“ ist noch immer vorhanden und wird von den erbärmlichsten unter den moralisch verkommenen Populisten als rhetorische Waffe verwendet. Mit verkürzter Sprache wird die Komplexität der Welt zu Phrasen reduziert und damit massentauglich gemacht. Denn der Populismus erzielt seinen größten Mobilisierungserfolg zwar in den riesigen, tendenziell apolitischen Bevölkerungsteilen, doch er greift längst auch nach der breiten Mitte, nach den sich immer ohnmächtiger fühlenden, immer weniger an politische Partizipation glaubenden Teilen der Gesellschaft.

Der verbale Weg von der Komplexitätsreduktion zum Vorurteil ist zwar ein mehrstufiger, jedoch sehr direkter Weg. Überall dort, wo das Performative anhebt und Sprache im Begriff ist, zur Sprachhandlung zu werden, besteht Verletzungsgefahr durch Sprache. Es gibt so etwas wie eine Grammatik und Syntax der Gewalt durch Sprache, die erkennbar wird, sobald Sprache Verletzungskraft erlangt, zerstörerisch wird und trifft, denn „Sprechakte des Hasses“ gehorchen einer dem Diskurs innewohnenden Ökonomie der Gewalt. Doch nicht alle Verbalradikalismen sind deshalb automatisch verletzende Sprechakte oder Hasssprache. Denn es existiert auch der sanfte Verbalradikalismus, jene vermeintlich positiven, nach Inklusion klingenden Wendungen; positive Umcodierungen, mit welchen jedoch wie in der Vergangenheit nichts anderes als Ausschließung praktiziert wird. Zwischen Verbalradikalismus und Hasssprache oszillierend, hat die sprachliche Aufrüstung im Europa der Gegenwart längst begonnen: verbale Umwertungen transformierten den Schutz für Flüchtende zunächst zum Schutz vor Flüchtlingen und schließlich, mittels Konstruktion überhöhter Bedrohungsszenarien, sogar zu Schutzmaßnahmen gegen Flüchtlinge.

An Wendepunkten der Geschichte bricht das Archaische aus der Sprache, doch der Übergang vom Wort zur Tat bleibt ein qualitativer Sprung. Dieser ist nicht aus einer Ursache herleitbar, sondern entspricht Vorgängen von sich gegenseitig verstärkenden Sprechakten, kumulativen Wirkungen von Sprachhandlungen, semantischen Auf- und Überladungen, ja sogar daraus ableitbaren Handlungsanweisungen. Ein Prozess von der Sprachgewalt zur Gewalt durch Sprache und von dieser zur gewaltsamen Tathandlung erfolgt nicht mit Notwendigkeit, doch der latente Hass wird durch die Sprache gewissermaßen aufgeweckt, er wird manifest. Am Ende eines solchen Prozesses kann die Dynamik der Hasssprache eine fanatisierte, instrumentalisierte Masse vollends durchsetzen. Sprachentgleisungen schreiten nicht einfach nur unbegrenzt fort, an ihrem Höhepunkt angelangt bereiten sie eine neue Dimension vor, jene, in der die Tat das Wort überschreitet. An einem solchen Punkt angelangt reicht der sprichwörtliche Funke bereits dazu aus, um Katastrophen nach sich zu ziehen. Im Europa der Gegenwart beginnt die Symmetrie der Anerkennungsverhältnisse in sich zusammenzubrechen. Die verbale Passage vom Unterscheiden zum Diskriminieren wird kürzer, Ressentiments werden rascher ethnisiert. Der Zivilisationsprozess der Sprache ist noch längst nicht an sein Ende gelangt, nur weil er Zeit zur Reife hatte.

 

Im Mai 2016 ist von Paul Sailer-Wlasits das Buch „Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache“ erschienen.


 

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