Wenn der Front National die verbliebene Arbeiterschaft übernimmt

von , 11.7.16

 

Jetzt wird auch in Deutschland der bewegende und wundervoll geschriebene autobiografische Essay von Didier Eribon entdeckt: „Rückkehr nach Reims“, übersetzt von Tobias Haberkorn. In Frankreich bereits 2009 erschienen, ist er sieben Jahre später von beinahe beängstigender Aktualität. Eribon, schwuler Sohn eines Hilfsarbeiters, brach mit seiner Familie, weil er glaubte, dass ihm der Aufstieg aus seiner Klasse nur so gelänge. Im Glauben, von seinem Vater und dessen Klasse, der er entfloh, verachtet zu werden, erfuhr er nicht, dass sein hart gesottener Vater weinte, als sein Sohn in einer renommierten Literatursendung des französischen Fernsehens sein eigenes Buch vorstellte.

Erst nach dem Tod des ihm verhassten Vaters kehrt der angesehene Wissenschaftler, Literat und Publizist nach Reims zurück und entdeckt, dass sich seine Familie mit ihresgleichen dem Front National zugewandt hat: „In meiner Kindheit ist meine gesamte Familie ‚kommunistisch’ gewesen, und zwar in dem Sinn, dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte. Wie konnte es dazu kommen, dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die ‚natürliche’ Wahl empfand? Was war geschehen, dass nun so viele den Front National wählten, die ihn zuvor intuitiv als Klassenfeind betrachtet und seine Vertreter genüsslich beleidigt hatten, sobald sie auf dem Fernsehschirm auftauchten (eine seltsame und doch wirksame Art, sich in dem zu bestätigen, was man ist und woran man glaubt)?“

Eribon beobachtet: „Man spürte förmlich, wie sich in ehemals kommunistisch dominierten Räumen der Geselligkeit und des Politischen eine rassistische Stimmung breitmachte, wie sich die Menschen allmählich einem politischen Angebot zuwandten, das vorgab, lediglich die Stimme des Volkes oder die Stimmung der Nation wiederzugeben, das eine solche Stimmung in Wahrheit aber erst herstellte, weil es Ressentiments und Affekte mit einem stabilen diskursiven Rahmen und gesellschaftlicher Legitimität versah. Der von den ‚französischen’ populären Klassen geteilte ‚Gemeinschaftssinn’ wandelte sich von Grund auf. Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zu seinem zentralen Element und löste als solches das Arbeitersein oder Linkssein ab.“

Das ist, erinnert sich Eribon, keinesfalls neu: „Schon in den sechziger und siebziger Jahren hatten sich im Denken meiner Eltern und speziell meiner Mutter zwei Arten der Differenzierung zwischen ‚ihnen’ und ‚uns’ vermischt: die Unterscheidung von Klassen (Reiche vs. Arme) und von Ethnien (Franzosen vs. Ausländer) … Diese Form der Selbstbehauptung richtet sich gegen die, deren legitime Teilhabe an der ‚Nation’ man bestreitet und denen man jene Rechte nicht gönnt, um deren Geltung für sich selbst man kämpft, weil sie von der Macht und den Mächtigen infrage gestellt werden. „

Anders als in Deutschland, wo spätestens seit Weimarer Republik und nationalsozialistischen Zeiten bekannt ist, dass die Arbeiterschaft keinesfalls naturgemäß links ist oder wählt, hielt dieser von Eribon kritisierte Mythos in Frankreich lange vor: „Bei dem Versuch zu analysieren, warum die unteren Schichten manchmal die Rechten wählen, sollte man allerdings auch der Frage nicht ausweichen, ob die Annahme (die man sich oft nicht bewusst macht), dass diese Wählerschichten naturgemäß links wählen müssten, nicht falsch ist – schließlich haben die Arbeiter niemals geschlossen, und oft nicht einmal mehrheitlich, linke Parteien gewählt. Tatsächlich erreichten die Kandidaten der Rechten in diesem Milieu damals genauso große oder sogar größere Stimmanteile als die der linken Parteien zusammen. Und dieses Phänomen betrifft nicht nur das Wahlverhalten. Historisch betrachtet, haben sich das Volk und die Arbeiter immer wieder zu kollektiven Handlungen mobilisieren lassen, die sich eher aus rechten Positionen speisten und mit den Werten der Linken nicht viel zu tun hatten.“

Für die Übernahme der linken Wähler durch die den Front National tragen nach Eribons Ansicht die linken Parteien und ein linkes Intellektuellen-Milieu die Verantwortung:

„Und ich fürchte, dass sich manche Intellektuelle, die noch immer auf das ‚spontane Wissen’ der volkstümlichen Klassen setzen, auf bittere Enttäuschungen und die krachende Widerlegung ihrer Thesen einstellen müssen. (Was sie damit eigentlich demonstrieren, ist eine bestimmte Art des Klassenethnozentrismus: Sie projizieren ihre eigene Denkweise auf die, deren Stimme zu hören und in deren Namen zu sprechen sie vorgeben –und zwar umso enthusiastischer, als sie Angehörigen dieser Klassen noch nie begegnet sind, außer vielleicht in Texten aus dem 19. Jahrhundert.) Wenn die Linke ihren eigenen Niedergang verstehen und aufhalten will, muss sie sich nicht nur von ihren neoliberalen Auswüchsen, sondern auch und gerade von den Mythologisierungen und Mystifizierungen lösen, für deren Aufrechterhaltung sich manche als Verfechter einer neuen Radikalität feiern lassen.“

Bei allen seinen Überlegungen bleibt der Marx-geschulte Denker erstaunlicherweise im Überbau haften. Die Veränderungen der Welt durch die Digitalisierung, das sich abzeichnende Ende einer durch Arbeit geprägten Gesellschaft finden in seinem spannenden Buch nicht statt. Trotzdem lohnt es die Lektüre: Seit sein Essay im Jahre 2009 erschien, hat sich die von ihm skizzierte Entwicklung beschleunigt. In Frankreich ist es fast zu spät, sie zu stoppen. Und in Deutschland?

 


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