#Demenz

Anything goes not

von , 3.7.16

Ein sehr merkwürdiges parlamentarisches Vorhaben kommt am 8. Juli in abschließender Lesung vor den Deutschen Bundestag. Mit einer Änderung des Arzneimittelgesetzes (AMG) soll erreicht werden, dass künftig schwer an Demenz erkrankte Menschen an klinischen Studien gegen diese Krankheit teilnehmen, obwohl diese Studien ihnen selber nicht nutzen werden. Es geht um Kranke, die selber nicht mehr einwilligen können, weil die Krankheit ihre geistigen Fähigkeiten zu sehr geschädigt hat. Die Regierungskoalition stützt einen entsprechenden Gesetzesvorstoß des Bundesgesundheitsministers. Der Vorstoß sei notwendig, um den wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt gegen die Demenz voranzubringen. Dem steht ein Fraktionen übergreifender Gruppenantrag entgegen, der auch von der früheren Gesundheitsministerin Ulla Schmidt befürwortet wird. Der Gruppenantrag will an der heutigen gesetzlichen Lage nichts ändern, die eine solche Teilnahme untersagt. Die Kontrahenten sagen, der Gesetzesvorstoß sei ethisch nicht akzeptabel und auch nicht notwendig. Es geht also nicht allein um Methoden und Verfahren, sondern es geht um eine Gewissensentscheidung. Das mediale Echo auf diese Lage ist bescheiden. Der Tagesspiegel mit einigen engagierten Redakteuren, die Ärztezeitung, die Süddeutsche sowie der Evangelische Pressedienst (epd) – sehr viel mehr kommt an kritischen Beiträgen nicht zusammen.

Der emeritierte Philosoph Robert Spaemann ist ein durchaus umstrittener Denker. Seine Definition dessen, was eine Person ist, geht auf den Grund des Streits im Bundestag. Er schrieb, Person sei jemand, „der mich aus einem menschlichen Antlitz ansieht und über den ich nie wie über eine andere Sache verfügen kann”. Menschen dürfen also keinen Zwecken dienen wie das Brot, das ich verspeise, weil ich Hunger habe. Diese Auffassung von Person-Sein wird durch den Vorstoß der Koalition verletzt. Denn der schwer an Demenz erkrankte Mensch ist sich nicht mehr ausschließlich selber Zweck und daher selbstbestimmt, sondern er ist Zweck für anderes, das sich über den Begriff medizinischer Fortschritt hinaus nicht genau bestimmen lässt. Die beiden christlichen Kirchen haben sich daher strikt gegen die beabsichtigte Änderung ausgesprochen. Das Mitglied im deutschen Ethikrat, der Mediziner Professor Ekhard Nagel ist dagegen.

Die forschenden Pharmaunternehmen erklärten unaufgefordert, sie bräuchten die in der Änderung des Arzneimittelgesetzes angelegte Erweiterung der Forschung nicht. Die deutsche Alzheimergesellschaft kritisierte den Zeitdruck, unter dem beraten und entschieden werden solle. Vereinzelt sprachen CDU- Politiker von „Tabubruch“.

In allen Fraktionen des Bundestages regte sich Gegnerschaft. Verstärkt wurde Kritik durch die Absicht des Bundesgesundheitsministers, die Rolle des deutschen Ethikrats in diesem Zusammenhang und grundsätzlich abzuschwächen: Künftig sollte kein Votum des Ethikrats mehr erforderlich sein, wenn es um solche Fragen geht. Diese Absicht wurde mittlerweile wegen der Last der Kritik fallen gelassen. Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt wies gegenüber CARTA darauf hin, dass alle im Bundestag vertretenen Fraktionen des Bundestages noch 2013 beschlossen hatten, dass nur dann Studien an nicht einwilligungsfähigen Patienten erlaubt sein sollten, wenn die beteiligten Patienten davon den Nutzen hätten. Ohne persönlichen Nutzen keine Beteiligung an klinischen Studien (Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode Drucksache 17/12183 vom 29.Januar 2013).

Nagel hat die Situation bei Forschung durch Studien im erwähnten Deutschlandfunk so beschrieben: „Bisher ist es so, dass eigentlich nur ein Patient oder auch ein Freiwilliger teilnehmen kann, der selbstbestimmt genau versteht, worum geht es bei dieser Forschung, der nachvollziehen kann, welche Risiken hat es auch für ihn. Und erst seine Zustimmung macht es möglich, dass Forschung stattfindet. Jetzt ist die Frage, ob jemand, der nicht versteht, weil er zum Beispiel demenzkrank, schon weit fortgeschritten, ist, ob er teilnehmen kann, und zwar auch unter der Maßgabe, dass es nicht mehr ihm selbst nützt, sondern nur noch seiner Gruppe, das heißt, allein Alzheimer-Kranken, die es in Zukunft geben wird. Und da ist eben eine Veränderung jetzt angedacht vonseiten des Bundeskabinetts, und das ist natürlich ein strittiger Punkt.“

Das heißt:

  1. Der Nutzen einer Studie für Probanden kann wegfallen. Aber nur die Bindung an eine beteiligte Person rechtfertigt bei Demenzkranken Belastungen und Risiken einer Beteiligung.
  2. Nutzen und Zweck von Forschung an nicht Einwilligungsfähigen wird möglich, weil die Forschung dem wissenschaftlichen Fortschritt mit all seinen potenziellen Fehlern, Irrwegen und Fehlschlägen gilt.
  3. Die von der Bundesregierung geforderte neue Regelung beschränkt sich nicht auf an Demenz erkrankte Menschen. Sie würde allen Menschen gelten, die nicht mehr für sich entscheiden können, sie weist keine Alterseingrenzung auf, umfasst also auch Kinder und Jugendliche.

„Anything goes“? Den Befürwortern der AMG-Änderung ist das Thema mit all seinen Facetten offenkundig selber nicht ganz geheuer. Denn man sucht nach Kompromissen. Zuerst sollte die Patientenverfügung so ausgeweitet werden, dass sie künftig eine Forschungs- und Studieneinwilligung enthält. Das scheiterte an gut begründeten Einsprüchen der Verfügungs- Befürworter. Nun soll gegenüber einem Arzt von einem Kranken dokumentiert werden, dass er später, im Zustand der fehlenden Einwilligungsfähigkeit keine Einwände gegen Studien an sich hat. Hier regt sich Kritik von Ärzten, die sagen, wie soll ich jetzt für etwas mein Fachurteil hergeben, was eventuell weit in der Zukunft liegt.

Die einzig vernünftige Regelung wird von den Befürwortern verworfen, weil man sie für unzureichend hält: Einwilligung eines Kranken für Studien, die aber automatisch erlischt, wenn er seine Einsichtsfähigkeit verliert.

Ohne Rückblick lässt sich über die in der AMG- Änderung liegende Gewissensentscheidung nicht reden. Früher landeten Altersverwirrte, an Demenz Erkrankte und viele andere mehr in Häusern, die man nur als „Aufbewahranstalten“ bezeichnen kann. Niemand verstand die Kranken in diesen Anstalten, niemand konnte ihnen helfen, sie wurden mitgeschleppt, bis sie oft vergessen waren und einsam erloschen. In den bäuerlichen Gesellschaften wurden die Verwirrten zumeist beiseitegeschoben, sicher selber überlassen. Die sogenannte „gute alte Zeit“ war erbarmungslos.

Bis vor wenigen Jahrzehnten ist es den meisten Menschen mit solchen Beeinträchtigungen nicht möglich gewesen, so alt wie zur gleichen Zeit Geborene zu werden. Sie starben früher als andere. Die Nazis haben versucht, sie zu beseitigen – in über 100.000 Menschen- „Fällen“ ist ihnen das auch gelungen. Die Nazis waren erbarmungslose Utilitaristen. Deren Ideologie lautete: Wer im Kampf der Rassen um Herrschaft seinen Nutzen für die eigene Rasse nicht belegen konnte, durfte umgebracht werden.

In der Rückschau wird erkennbar, welcher Fortschritt im Schutz und in der Fürsorge und in dem Streben liegen, so lange es eben geht, Entscheidungsfähigkeit zu erhalten. Heute haben diese Menschen das Recht und Rechtsstaat auf ihrer Seite und auch die Barmherzigkeit, die uns überhaupt die Augen öffnet für Handikaps anderer. Das Recht öffnet uns die Augen nicht. Gerechtigkeit wird „aktiviert“, weil ungerechtes geschehen ist und registriert wird. Daher lag der evangelische Theologe Richard Schröder daneben, als er jüngst in der Welt erklärte, ein barmherziger Staat führe zur Korruption.

Ein unbarmherziger Staat ist vielmehr blind.

Angehörige oder vom Gericht bestellte betreuende Personen können, dürfen an der Stelle verwirrter und kranker Menschen Entscheidungen treffen. Solche Entscheidungen haben dem individuellen Wohlergehen zu nutzen. Aber auch hier gibt es Grenzen. Das Recht schützt die Person. Weltweit wird daran geforscht, wie Demenz verhindert, die Erkrankung bekämpft und das Leben der Erkrankten erleichtert werden kann. Ein Medikament, das diese Krankheit verhindert, gibt es bis heute nicht. Um Therapien gegen Demenz entwickeln zu können, muss die Krankheit studiert, müssen Möglichkeiten erprobt werden. Das Recht hat diese Möglichkeiten eröffnet. Der individuelle Nutzen muss zwingend vorliegen. Und es ist logisch, dass Studien mit diesem individuellen Nutzen auch anderen helfen können. Dabei sollte es bleiben.

Bleibt schließlich die Frage, warum Regierung und Teile des Bundestages stur an einer neuen Regelung festhalten. Für Mutmaßungen über ein irgendwie korruptes Verhalten gibt es weder Grund noch Hinweise; für ein bestimmendes, Kritik dominierendes Wollen der Pharmaindustrie auch nicht.

Ich schätze, dass eine Forschungs-Gläubigkeit in der angestrebten Neuregelung steckt, die durch wachsende Kritik noch verstärkt wird. Es wird also Zeit für eine breite Debatte in der Gesellschaft, die Verklemmungen lösen hilft.

 


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