#Anne Frank

Anne Frank, das Urheberrecht und die Piratin

von , 2.5.16

Am vergangenen Dienstag, dem 26. April, war World Intellectual Property Day. Laut der internationalen Urheberrechtsorganisation WIPO dient der Tag zur Feier des Urheberrechts als Stimulator von Innovation und Kreativität. Von seiner Bedeutung her ist der World IP Day wahrscheinlich kaum zu unterschätzen, vergleichbar höchstens mit solchen Gedenktagsschwergewichten wie dem World Post Day (9. Oktober) oder dem Pi Approximation Day (3. März).

Julia Reda, der einzigen Piratenabgeordneten im EU-Parlament, ist aber offensichtlich kein Anlass zu gering, um für ihr Anliegen eines vollstreformierten Urheberrechts zu werben. Den 26. April nutzte Reda daher, um sich öffentlich über die aus ihrer Sicht defizitäre Zugänglichkeit eines der bekanntesten Bücher der Welt zu beschweren, das Tagebuch der Anne Frank.

Auf Twitter vermerkte Reda:

I’m trying to #ReadAnneDiary on #WorldIPDay but unharmonised #copyright will not allow me #FixCopyright

Das Ganze wird gefolgt von einem Link auf das polnische Anne-Frank-Zentrum, wo das Buch nach Ablauf der für urheberrechtlich geschützte Werke generell geltenden 70-Jahre-Frist nun bereits öffentlich erhältlich ist. Hierbei wird das vermutete Todesdatum von Anne Frank im Frühjahr 1945 zugrunde gelegt. Sie starb im deutschen Konzentrationslager Bergen-Belsen, zu einer Zeit, als wegen des absehbar nahenden Kriegsendes die Todesdaten nicht mehr genau notiert wurden.

Wer indes von einem anderen Land als Polen auf die Tagebücher zugreifen will, z.B. aus Anne Franks letztem Heimatland, den Niederlanden, findet einen freundlichen Hinweis, dass das lokale Urheberrecht den Abruf nicht zuließe. Hinter dieser Einschränkung verbirgt sich eine holländische Übergangsregelung für posthum veröffentlichte Werke. Sind diese noch vor 1995 erschienen, so gilt nicht nur in Holland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern eine 50-jährige Schutzfrist, die allerdings nicht mit dem Tod des Verfassers sondern erst mit dem erstmaligen Erscheinungstermin zu laufen beginnt. Das scheint logisch, denn würde man die Schutzdauer eines lang nach dem Tod seines Verfassers veröffentlichten Buch gleichwohl an dessen Sterbedatum knüpfen, könnte es im Extremfall schon bei Veröffentlichung gar nicht mehr schutzfähig sein. Auf der anderen Seite trägt die gegenüber der Normalregel um 20 Jahre verkürzte Schutzdauer dem öffentlichen Interesse Rechnung. Anne Franks Tagebuch erschien posthum das erste Mal im Jahre 1986 und genießt daher auf der Grundlage dieser Sonderregelung in den diese anwendenden Ländern noch urheberrechtlichen Schutz bis zum Jahre 2036.

Das Urheberrecht für Anne Franks Tagebuch wird wahrgenommen vom schweizerischen Anne-Frank-Fonds. Dieser war von Annes Vater Otto Frank, dem einzigen Überlebenden der Familie und damit auch Annes einzigem Erben, ins Leben gerufen worden, um Annes Schicksal nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ein Vater, der sein Kind beerbt ist wohl einer der traurigsten Erbfälle der sich vorstellen lässt. Otto wollte wenigstens gewährleisten, dass die Stimme seiner Tochter Gehör findet. Der Fonds, laut eigener Auskunft aus drei Teilzeitangestellten bestehend, engagiert sich seinem Vermächtnis entsprechend für „Projekte im Sinn der Botschaft von ANNE FRANK.“ So unterstützt der Fonds zum Beispiel mehrere an Kinder gerichtete Entwicklungsprojekte in verschiedenen Ländern der Dritten Welt. Als Finanzquelle dient ihr hierbei der Handel mit den Lizenzen zur Nutzung des Tagebuchs. Die Aktivitäten des Fonds beinhalteten übrigens auch die Verteidigung des Tagebuchs gegen böswillige Fälschungsanschuldigungen aus tiefbraunen Ecken in den späten achtziger Jahren.

In der Vergangenheit sah sich der Fonds immer mal wieder den Attacken anderer Institutionen ausgesetzt, die ihm die Verwaltung des Erbes von Otto Franks Tochter streitig machen wollten. So zum Beispiel eine niederländische Organisation, welche das Tagebuch Anne Franks, die ihre letzten Lebensjahre in Amsterdam verbrachte, gerne für sich reklamiert hätte. Doch der Otto Franks Fond setzte sich hiergegen erfolgreich zur Wehr.

Doch jetzt hat jedenfalls das eingangs erwähnte polnische Anne-Frank-Zentrum vollendete Tatsachen geschaffen, mit dem Ergebnis, dass es nun eben Bereiche gibt, wo Anne Franks Tagebuch in die Public Domain gelangt ist, und andere, wo das nicht der Fall ist.

In der Hitparade der Piratenbeschwerden firmiert seit einiger Zeit das so genannte Geoblocking auf Platz 1. Reda sah offensichtlich im World IP Day weniger einen Anlass, das Urheberrecht als solches zu feiern, sondern eher mal wieder dessen gefühlte Defizite zu beklagen.

Sie war sich dabei nicht zu schade, als Vehikel für ihr Anliegen gerade Anne Franks Tagebuch zu nutzen. Aus ihrer Sicht war hier sozusagen buchbezogenes Geoblocking am Werk. Man fragt sich schon, ob sie sich der bitteren Ironie ihres Verhaltens bewusst ist. Eine Angehörige gerade jenes Volks, das Anne Frank jede Möglichkeit genommen hat, selbst über die Verwendung ihres Werkes zu bestimmen, will nun der von ihrem Vater eingesetzten Stiftung ihr Vermächtnis entreißen lassen.

Jüdische Enteignung 2.0. Und die Deutschen wieder vorne dabei.

Warum kaufen Sie sich nicht einfach ein Exemplar des Buches? Nur so ein Gedanke!, fragt da ganz zu Recht auch John Degen, kanadischer Autor und Vorsitzender der dortigen „Writer’s Union“ Julia Reda konsterniert auf Twitter. In einem weiteren Tweet lässt er sie wissen, dass er ihr seine Papierausgabe gerne zukommen ließe, wenn das denn Not täte.

Reda antwortet nicht.

Sie lässt antworten.

In diesem Fall ihren wissenschaftlichen Mitarbeiter Gilles Bordelais, laut eigenem Twitteraccount Redas „Minion“, zu deutsch etwa „Spießgeselle“. Bordelais, im Herzen offensichtlich Pole, jedenfalls was urheberrechtliche Fragen angeht, entgegnet unter Anspielung auf den polnischen Public-Domain-Status des Tagebuchs, warum er etwas kaufen solle, was er ja schon besitze. So debattiert man bewusst ein bisschen aneinander vorbei. Am Ende blockt Bordelais Degen, weil er in dem Wort „Pirate“ aus Degens letztem Tweet irgendwie das Wort „rapists“ erblickt. Piraten scheinen einen Hang zur Groteske zu haben. Degen schreibt anschließend einen Blogeintrag, in dem er dokumentiert, dass er das Tagebuch für 9,44 kanadische Dollar (6,54 Euro) erworben und an Reda geschickt hat.

Der US-amerikanische Urheberrechtsaktivist, Rockmusiker und Dozent an der University of Georgia David Lowery, der über die Kontroverse und Degens Blogeintrag dazu stolpert, zieht die aus meiner Sicht einzig vernünftige Konsequenz. Auch er schickt Julia Reda eine Ausgabe des Tagebuchs und fordert außerdem seine Leser auf, es genauso zu halten. Ich schließe mich ihm hiermit an:

Julia Reda
European Parliament
Rue Wiertz
Altiero Spinelli 05F158
1047 Brussels
Belgium

 


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