#AfD

Wir müssen mehr schweigen

von , 30.3.16

Wenn wir Filme oder Serien über die Apokalypse anschauen, wahlweise eine Klima- oder eine Zombieapokalypse, dann gibt es in jeder Geschichte Menschen, die freiwillig oder unfreiwillig miteinander umherziehen: auf der Flucht vor etwas oder auf dem Weg zu einem Ziel, von dem sie vage gehört haben.

Immer gibt es in solchen Filmen Gesellschaften, die sich abschotten und niemandem helfen, die nicht bereit sind, ihre knappen oder nur vermeintlich knappen Ressourcen zu teilen, die lieber das kranke Kind aus der Heldengruppe sterben lassen würden, als auch nur einen einzigen Tropfen der rettenden Medizin herauszurücken.

Solche Szenen spielen vor verschlossenen Toren, vor hochgezogenen Hängebrücken, die Kamera schwenkt vom sterbenden Kind zum harten Anführer der Gegenseite – und all unsere Sympathien liegen bei der Heldengruppe und wir fiebern mit, weil wir das kurze Blinzeln gesehen haben, die kurze Unsicherheit im Blick des einzelnen Mannes, der vielleicht erst voriges Jahr selbst ein Kind verloren hat und mitfühlen könnte unter seiner Rüstun. Wir wollen, dass er sich erweichen lässt, wir sind sicher: Er kann gar nicht anders! Weil niemand mit einem Funken Menschlichkeit anders könnte.

 

Nicht wenige hätten gerne eine Hängebrücke, die sie hochziehen könnten

Die Realität, die uns nach dem Ende einer solchen Folge unmittelbar umspült, gibt diesen Gedanken an erschreckend vielen Stellen der politischen Landschaft zurzeit nicht her. Denn wir befinden uns in Deutschland, in Europa, im Augenblick auf der anderen Seite. Wir haben die Helme auf, wir sind es, die die Ressourcen hüten, und nicht wenige hätten gerne eine Hängebrücke, die sie hochziehen könnten, und eine Armee unerbittlicher Soldaten, die sie aufreihen möchten, an der Grenze zu den Anderen, wo auch immer diese „Anderen“ gerade lokalisiert werden.

Ganze Landstriche fühlen sich bedroht, und je länger die Demonstrationen und Spaziergänge und Kundgebungen anhalten, umso sicherer bin ich mir, dass dieses Bedrohungsgefühl nicht daher kommt, dass im letzten Sommer tatsächlich viele viele Menschen bei uns Zuflucht gesucht haben, sondern von dem diffusen Gefühl, zu kurz gekommen zu sein.

Schon wieder zu kurz gekommen zu sein.

Ja, die Neuen werden nicht abgewiesen. Sie bekommen Kleidung, ein Bett und Geld. Es sieht so aus, als müssten diese Neuen nichts anderes tun, als nach Deutschland zu fahren, um ein wunderbares Leben zu haben. Während die, die schon seit fünfundzwanzig Jahren dazugehören, ganze fünfundzwanzig Jahre lang hart arbeiten mussten, um sich das Mittagessen leisten zu können.

Und im Westen? Natürlich gibt es auch hier Sympathisanten von Pegida, AfD und Co., aber hier muss man tiefer graben. Hier ist viel mehr Zeit verstrichen seit der letzten Identitätskrise, seit dem letzten radikalen Gesellschaftsbruch. Hier sind es die Älteren, die erinnert werden an die harten Jahre, in denen ihnen nichts geschenkt wurde, hier brechen ganz andere Wunden auf, wenn ältere Damen plötzlich schmallippig am Kuchentisch sitzen und nichts zu Silvester in Köln sagen wollen – wer sich darüber wundert und sich fragt, wie das kommt, der soll sich beschäftigen mit verdrängten Traumata.

 

Politiktheater mit fest verteilten Rollen

Überhaupt Verletzungen – vieles von dem, was da draußen an Fremdenfeindlichkeit passiert, basiert auf Verletzungen, realen Verletzungen und Zurückweisungen, stark empfundener Machtlosigkeit. Jetzt, im Schatten der Vielen und auf den Bühnen im Licht der Schockierten, jetzt gibt es Selbstwirksamkeit in Tüten zu haben: „Wir“ sagen etwas, und die Öffentlichkeit ist entsetzt. „Wir“ sprechen aus, was viele denken, und Presse und Politik sind fassungslos.

Wir, die anderen „Wir“, wir müssen uns deswegen sehr dringend unterhalten. Über die Grundlagen, über die Quellen, über die Maßstäbe, die einer offenbar so heftig empfundenen Ohnmacht zugrunde liegen. Wir müssen uns unterhalten über unsere politische Identität, die sich viel familiärer gegeben hat, als ihr gut tut, wir müssen reden über die gute alte kinderlose Tante SPD, die Kuchen-CDU, den grummeligen Onkel Seehofer und die linke Protestpunkerin.

Das ist Politiktheater mit fest verteilten Rollen, mehr und mehr zur Verwaltung geworden in einer Gesellschaft, die frei genug und reflektiert genug ist, um keine politisch markigen Anführer mehr zu brauchen, genügend ausdifferenziert, um auf kommunaler Ebene anders zu wählen als auf europäischer, die ihre Nudeln in der Nudelmanufaktur kauft und den Joghurt bei Lidl, die Kinder auf die Waldorfschule schickt und zu Weihnachten trotzdem elektrisches Spielzeug verschenkt.

Mitten in diese Gemütlichkeit bricht der bisher verschwiegene Familienast AfD mit seinen fundamentalistisch-christlichen Protagonist*innen, seinen Geschichtslehrern und den kleinen ungehobelten Brüdern von der Straße, die aber draußen blieben müssen, wenn die Erwachsenen reden. Und zu aller Entsetzen zertrampelt tatsächlich niemand von ihnen die Rabatten, verschüttet niemand Kaffee, das wäre ja auch zu einfach gewesen.

Was passiert stattdessen?

 

Die AfD bringt den eigenen inneren Gartenzwerg zum Krakeelen

Weil die neuen Verwandten keineswegs dumm sind, sondern dieselbe Sprache beherrschen und die verschiedenen Gabeln beim Galadinner ebenso gut unterscheiden können wie man selbst, weil sie Doktortitel haben und auch sonst über dieselben bildungsbürgerlichen Insignien verfügen, lässt man sie erschrocken gewähren, beäugt die Auftritte und merkt nicht, wie leicht die AfD den eigenen inneren Gartenzwerg zum Krakeelen bringt (stimmt es denn nicht, dass man viel lieber die Frau bei den Kindern gehabt hätte, statt sich jahrelang gleichberechtigt und umso langwieriger mit ihr abstimmen zu müssen? Stimmt es denn nicht, dass es bedeutend einfacher wäre, wenn die Presse etwas weniger querkäme? Wäre es nicht wirklich viel besser, wenn man die Töchter nachts auf den Straßen sicher wüsste? Wären nicht tatsächlich viel mehr Arbeitsplätze da, wenn nicht Horden junger Männer nach Deutschland drängen würden?).

Das eigentlich Erschreckende am Aufstieg der AfD ist für mich nicht das Laute, Grobe und Gemeine, nicht das offenbar Falsche und Paranoide. Das eigentlich Erschreckende ist, wie wenig die politische Landschaft ihr entgegenzusetzen hat. Man will nicht im TV mit „denen“ diskutieren. Warum nicht? Sind die Argumente aus? Oh – im Theater schreibt ja immer jemand anders die Texte, und auf Improvisation sind wir grad leider nicht vorbereitet. Zu dumm.

Die AfD zwingt jeden von uns, die eigene Haltung zu präzisieren, sie zu formulieren und sie zu leben, ohne Wenn und Aber. Das ist nicht immer einfach, Gartenzwerge sind recht witterungsbeständig.

Von Politikerinnen und Politikern erwarte ich, dass sie den Brocken, die die AfD wirft, nicht blind hinterherhechtet. Ich erwarte souveräne Klarstellung, dass niemand aus Jux und Tollerei in einem Schlauchboot über das Mittelmeer fährt, und schon gar nicht wegen Gratisbetten in der örtlichen Turnhalle. Ich erwarte Wissen darüber, wie politische Überzeugung entsteht, ich erwarte eine ungefähre Ahnung davon, dass Menschen nach Krisen einfach weitermachen können, und die wahren Auswirkungen oft erst nach Jahren spürbar werden. Jetzt, beispielsweise.

Vor allem erwarte ich vollkommene Eindeutigkeit darüber, auf welchen Werten unsere Gesellschaft basiert.

 

An den richtigen Stellen zuhören und kommunizieren

Wären wir uns darüber wirklich so sicher, dann hätten wir keine Politikerinnen und Politiker, die so tun, als wäre ihre Haltung der AfD gegenüber eine Art Gretchenfrage, und deren Politikavatarhaftigkeit durch ihre alleinige Positionierung zurzeit nur noch in Relation zur AfD geschieht.

Wir hätten keine Medien, die teils lustvoll, teils entsetzt, teil panisch alles veröffentlichen, wo AfD draufsteht, und damit eine kostenlose Bühne bieten, so als wären Petry und Co. nichts weiter als Stars einer Seifenoper, die man immer gerne für Klicks und Käufe ins Blatt hebt.

Die sehr realen Auswirkungen dieser medialen Omnipräsenz sind brennende Heime, Bürgerwehren und ein immer selbstsicherer Mob, der aus der Tatsache, dass über ihn geschrieben und gesendet wird, eine verquere Legitimation zieht, schließlich wird ja über ihn geschrieben und gesendet. Das ist in etwa so logisch wie zu vergessen, dass Äußerungen bei Facebook nicht dadurch salonfähig sind, dass sie in Druckschrift auf einem Bildschirm erscheinen.

Wir müssen mehr schweigen.

Um an den richtigen Stellen zuzuhören und zu kommunizieren. Mit denen, die vielleicht am Anfang noch unsere Hilfe brauchen. Mit denen, die ihren Weg nicht freiwillig gewählt haben, aber gewillt sind, bei uns anzukommen und mit uns zu leben. Und mit denen, die ein oder zwei Häuser weiter wohnen und hinter ihren Gardinen hervorspiekeln und sich Sorgen machen, wer die sind, von denen im Fernsehen so viel die Rede ist.

 

Der Beitrag wurde zuerst veröffentlicht bei resonanzboden, dem Blog der Ullstein Buchverlage.

 

 


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