#AfD

Bitte keine Verkürzung der Realität

von , 31.1.16

Auf Anton von Werners berühmten Gemälde „Berliner Kongreß“ (3,60 X 6,15 Meter Fläche, im Berliner Rathaus hängend) ist eine Gruppe überwiegend gesetzter Männer – nur Männer, Staatsmänner, Staatenlenker, Generale, Botschafter, Bürokraten – zu erblicken. Man wollte damals rasch die Verhältnisse auf dem Balkan neu regeln.

Bismarck dominierte den Kongress. Wie kaum anders zu erwarten: Der Fürst mit dem charakteristischen Schnäuzer in der Mitte der gut 22 Quadratmeter Öl auf Leinwand; rechts einige Herren mit Fezen auf den Köpfen, links auffällig wegen seiner zivilen Bekleidung der schlaksige britische Premier Benjamin Disraeli, dessen Roman: Tancred oder der Neue Kreuzzug 2004 noch einmal auf Deutsch erschienen worden ist. Rechts neben Bismarck und kaum zu erkennen, hat von Werner den Kopf des Geheimrat Holstein hingemalt, also der „grauen Eminenz“ des Fürsten, der Legende nach (aber nur der Legende nach) Namensgeber des heute noch zur sogenannten „gut bürgerlichen Küche“ zählenden „Schnitzel Holstein“, eines in Mehl gewälzten Kalbsschnitzel, in Butter gebraten, mit einem Spiegelei (einseitig gebraten) belegt, ergänzt um Weißbrot, Kapern, Räucherlachs, Ölsardinen und Sardellen, vom Koch des „Borchardt“, Holsteins Stammlokal, alles zusammen auf einem Teller angerichtet. Heute in Kitas serviert würde ein solches Essen Aufstände provozieren.

Der Berliner Kongress tagte 1878 einen Monat lang; im Sommer mit 20 Vollversammlungen europäischer Regierungen, freilich vielen Neben-Terminen und informellen Gesprächen. Es war in Deutschland übrigens ein sehr unruhiges Jahr: Zwei Attentate auf den Kaiser, Auflösen des Reichstages, Neuwahlen, große konservative Mehrheit, Verbot der Sozialdemokratie. Und all das damals ohne Telefon, Handy, Smartphon, Laptop, Mikrophon und Kamera, ohne To Go, ohne WEB, BER und ICE. Bereits im Herbst desselben Jahres brach in Makedonien ein Aufstand los, 1885 der erste von drei Balkankriegen, dessen dritter 1914 den ersten Weltkrieg eröffnete. Im November 1878 begannen die Britten ihren 2. Krieg in Afghanistan.

Der Berliner Kongress beschäftigte sich also mit einer Region, in deren Nachbarschaft heute der Kontinent-übergreifende Krisenreigen beginnt: Besetzung der Krim, der erklärt-unerklärte Krieg in der Ukraine, der Krieg in Syrien, Krieg im Jemen, der Kampf in Afghanistan, der Krieg gegen den Terrorismus insgesamt – wer gehört zu den Terroristen, wer nicht, der Bürgerkrieg in Libyen, der Krieg in Mali, Krieg im Südsudan etc.

Kein heutiger Konflikt existiert unabhängig, jeder Konflikt ist einmal mehr einmal weniger mit anderen Konflikten verbunden: Durch Ressourcentransfer, durch Tradition, Ideologie und Religion, durch Gruppen von Staaten, die gegeneinander ihre Ressourcen mobilisieren.

Von Peters Bild stellt natürlich eine Verkürzung der damaligen Realität dar. Das war damals keine Nebensächlichkeit, weil es neben Büchern, Zeitungen und Zeitschriften mit Illustrationen sowie Statuen und Theater nur noch Gemälde als Informationsmöglichkeiten gab. Erstmals 1883 war in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ überhaupt ein Foto zu sehen. Drei Jahre nach dem ersten Zeitungsfoto in den USA. Von Werners Ölbild ist ein Schlüssel: Wen dieses Bild stimuliert, der kann eine Menge über die damalige Zeit erfahren; wer sich mit dem Blick auf den „Schinken“ begnügt, der verschließt etwas.

Warum wir uns aber heute zur Verkürzung der Realität und zur Überhöhung unserer Ansichten verführen lassen, ist schwer zu verstehen. Unsere Informationsmöglichkeiten sind exponentiell gewachsen. In unseren Breiten können wir uns auf vielen Wegen austauschen. Es dauert bei uns auch ziemlich lange, bis der Staat unseren Schutz bei Seite schiebt, um sich selber zu schützen. Aber dennoch schieben wir die Realität zusammen.

Laurent Joachims Text „Mit Herz und Verstand“ bietet hierfür ein Beispiel, nicht einmal ein krasses Beispiel. Zu viele, zu rasch und dicht aufeinander folgende Schritte. Daher wird manches zu skizzenhaft. Er schrieb: „Aufgrund der seit über zehn Jahren angespannten Soziallage in der Bundesrepublik, könnten die Auswirkungen eines schlecht verwalteten Zuzugs so großen Ausmaßes die Gesellschaft an den äußersten Rand der Belastungsprobe bringen“. Das halte ich für sehr verkürzend, auch nicht für belegbar.

Nach Berechnungen der FU Berlin hat der Westen unseres Landes für den Aufbau Ost während der Zeitspanne 1990 bis 2014 rund zwei Billionen Euro aufgebracht, das sind 2.000 Milliarden Euro. Das sind die Nettokosten, die „Gegenfinanzierung“ durch Steueraufkommen und Sozialabgaben der Menschen in den damals so genannten neuen Ländern ist dabei bereits berücksichtigt. Wenn das möglich war, muss es erst recht möglich sein, ein oder zwei Millionen Flüchtlinge oder mehr zu integrieren.

Ich bin dafür, die Farben schwarz und grau öfter in der Tube zu lassen und stattdessen zu allen Farben zu greifen. Und außerdem halte ich es für besser, die feinen Pinsel zu benutzen, die für Differenzierung und Genauigkeit. Wer das nicht tut, könnte landen, wo der frühere Berliner Justiz- und Innensenator Ehrhart Körting nun „aufgeschlagen“ ist: Ausweislich des Tagesspiegel im Abseits. Körting- Zitat: „Die Bundesrepublik Deutschland, ein gut durchorganisierter Rechtsstaat, ist innerhalb von Monaten von einer gut-meinenden, aber hilflos handelnden Bundeskanzlerin Merkel in einen Staat verwandelt worden, in der ein Teil der rechtsstaatlichen Organisation aus falsch verstandener Humanität außer Kraft gesetzt wurde.“ Das ist grau-schwarzer Blödsinn. Ich werde außerdem stets misstrauisch, wenn ich den Vorwurf der „falsch verstandenen Humanität“ höre. Denn wenn ich nachfrage, was gemeint ist, offenbaren sich Unwissen, Denkfaulheit oder eine miese rechtsradikale Gesinnung (in dieser Reihenfolge). Nun möchte ich den Ex-Senator nicht unter die Rechtsradikalen pflanzen, aber auch er hatte so seine Merkwürdigkeiten. Man lese Spiegel online vom 12. Februar 2011 mit Körtings Interesse an Gefolgsleuten des berüchtigten Tschetschenen Führers Ramsan Kadyrow.

Ich werbe um Genauigkeit und für häufigeres Nachdenken über die Wirklichkeit. Ich möchte mein Werben an einem Beispiel ein wenig erläutern.

Jetzt beginnen in Genf die Syrien-Gespräche. Aus diesen Gesprächen könnte ein Weg resultieren, an dessen Ende eine andere Regierung als die heutige Assad- Diktatur steht, eine Regierung die ausreichend politischen Einfluss hat und deren Handeln den Krieg gegen den IS ergänzt. Es könnten also entscheidende Gespräche sein.

Wir erfahren aber über die Vorbereitung dieser Gespräche wenig. In der Berichterstattung wird das, was in Genf tatsächlich geschieht, auf wenige Fakten beziehungsweise kaum unterfütterte Kommentierungen reduziert: Es werden Fronten und Frontverläufe beschrieben. Hier die russische Föderation mit dem syrischen Präsidenten Assad im Schlepptau; dort die USA mit Befreiungsgruppen als Klientel. Der Iran ist beteiligt, das saudische Königreich, die französische und die deutsche Regierung. Interessen der Türkei werden ebenso gesehen wie die der kurdischen Bevölkerung in den verschiedenen beteiligten Staaten. Es liegt eine extrem mühselige Vorbereitung von Treffen hinter den handelnden Persönlichkeiten; und   auf dem Tischen liegen immer noch antagonistische Ausgangspositionen. Ein Scheitern der Gespräche ist jederzeit möglich. Das ist zugegeben ein schwieriger Stoff für Interpreten, er kostet Mühe und Zeit.

Der Erfolg solcher Gespräche beruht in seltenen Fällen auf einer voluntaristischen „Setzung“: Jetzt muss aber endlich… Er beruht in seltenen Fällen auf einem durchdringenden moralischen Appell. Das gibt es auch. Es ist aber nicht die Regel. Meist gehen Erfolge solcher Gespräche auf eine Fülle einzelner Aspekte zurück, die nacheinander aufgerufen, untersucht, in ein Ranking nach der Wichtigkeit gebracht und mit Empfehlungen versehen wurden, wie Einzellösungen aussehen könnten. Die „to-do-Liste“ vor einem Erfolg ist schier endlos. Es gilt auch, die Handlungsmöglichkeiten (heute heißt das im neudeutschen kommunikations-Jargon: Optionen) von Kontrahenten treffend gedanklich vorweg zu nehmen und wenigstens teilweise mit den eigenen Möglichkeiten überein zu bringen. Dabei müssen auch Widersprüche, Grenzen, mögliche Blockaden, Störmanöver antizipiert werden. Schließlich sind die eigenen Widersprüche und möglichen Hemmnisse auf der eigenen Seite zu berücksichtigen, wenn die tragende politische Mehrheit heterogen zusammengesetzt ist.

Heute sprechen oder streiten manche Staaten wegen eines halben Dutzend Krisenherde auf unterschiedlichen Ebenen miteinander. Sie nehmen Nichtregierungsorganisationen zur Hilfe. Situationen wie sie heute bestehen, hat es zu früheren Zeiten nicht gegeben. Es hat auch den Zeitdruck nicht gegeben, der heute herrscht. Wenn sich früher ein Außenminister wenig durchdacht und dreist in Ermittlungs-Angelegenheiten eines anderen Landes mischte, blieb dem wenigstens ein halber Tag Zeit, sich etwas Vernünftiges zu überlegen. Das ist vorbei. Diplomatie ist nicht mehr die stets unangetastete und respektierte Verbindung zwischen Staaten. Sie ist längst Teil regionaler oder weltweiter Auseinandersetzungen um politischen, ideologischen, ökonomischen und militärischen Einfluss geworden.

Politische Prozesse heutigen Charakters werden auf allen Seiten durch Legionen von PR-Fachleuten begleitet, die mit allen Instrumenten der Beeinflussung von Meinung ausgestattet sind. Diese Fachleute mobilisieren heute nicht nur die Bevölkerung des eigenen Landes, sondern auch Gruppen und Minderheiten, die den heterogenen Gesellschaften Mittel- und Zentraleuropas zugewandert sind. Manches ist dabei ausgesprochen widerlich. Der mediale Missbrauch eines Falles in Marzahn ist ein schreckliches Beispiel. Da sagt ein Mädchen der Polizei, es sei entführt und missbraucht worden. Polizei sagt: Kann nicht sein. Das hindert aber keineswegs das russische Staatsfernsehen daran, diesen Fall als Beweis deutscher Dekadenz und westlicher Perversionen zu missbrauchen. „Info-Krieg“ nannte die Berliner Morgenpost solche Geschehnisse. Und prompt beginnen sich Teile der aus Russland beziehungsweise der Sowjetunion ausgewanderten Community in Bewegung zu setzen, um gegen Polizei und Staat, gegen westliche Lebensart zu demonstrieren; mit der NPD als „stillem Teilhaber“.

So sieht die Realität aus. Sie schenkt den handelnden Persönlichkeiten selten Befriedigung und uns zu oft Skizzen, die mit veralteten, zu einfachen Vorstellungen und Bildern arbeiten. Erfolge bei der Bewältigung von Krisen sind eben nicht mehr politisches „Schachspiel“ einiger Persönlichkeiten. Bismarck taugt – pardon – als Erinnerung auf Öl an der Wand aber nicht mehr als handelndes Subjekt.

Außerdem hat sich die Strahlkraft symbolhafter Momente erschöpft, die früher trübe Entwicklungen überstrahlen konnte. Das Foto von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1962 im Dom zu Reims trieb den Männern der Verdun- Generation die Tränen in die Augen. Niemand mäkelte am Bild der beiden alten Herren herum. Heute würde der Boulevard genügend „Pulver“ erzeugen, um die beiden Symbolfiguren auseinander zu jagen. Irgendetwas würde gefunden werden. Das Design bestimmt eben mittlerweile das politische Sein.

Was um Himmels willen bedeutet in diesem Zusammenhang ein Satz, wie ihn Joachim formuliert: „Flüchtlingskrisenbezogene politische Entscheidungen müssen deshalb – unter Ausschluss von Lobby-, Verbands- und Partikularinteressen – dezidiert menschenwürdig, gemeinwohlbewusst, aber auch außen- und innenpolitisch zukunftssichernd vom Bund gesteuert und finanziert werden.“ Dem in dieser Setzung liegenden Anspruch können doch nur noch sogenannte „Übermenschen“ gerecht werden, jedenfalls nich mehr Gewählte mit Normalbiographie. Was könnten Regierungsvertreter, was deren schlaue Berater und Gesprächsvorbereiter sowie interessierte Beobachter aus einem solchen Satz „saugen“? Mir jedenfalls ist das nicht klar.

Skizzen haben in der Zeit und der FAZ, Cicero und anderswo stets Räume. Wie grandios eine solche „Skizze“ schief gehen kann, belegte dieser Tage der Leiter des Referats Internationale Politikanalyse der Friedrich – Ebert- Stiftung, Michael Bröning. Er brachte es im Cicero tatsächlich fertig, Kontakte zwischen Taliban und Blutsäufern wie Assad auf der einen und repräsentativen Demokratien auf der anderen Seite mit der Weigerung Malu Dreyers und Wilfried Kretschmanns in Verbindung zu bringen, sich nicht mit der AfD in Talkshows an einen Tisch zu setzen: “Doch in Zeiten, in denen mit Putin, Castro, Baschar al-Assad, den Taliban und sogar al-Qaida Ablegern direkt oder indirekt verhandelt wird, erscheinen die Ausgrenzungsversuche gegenüber der AfD reichlich hilflos.“

Aber manchmal gelingt es eben, nach einer langen und auch quälend anstrengenden Vorbereitung, nach Rückschlägen, Missverständnissen, Unterbrechungen, Enttäuschungen, nach Aufbau von Druck und unter dem Eindruck einer kritischer werdenden weltweiten Öffentlichkeit sowie durch persönlichen Einsatz weniger Führungspersönlichkeiten einen Erfolg zu erreichen – ein Erfolg, der aber weiterhin gefährdet ist und der erneut zerbrechen kann.

Entwickelt wurden Chancen auf Erfolg am Rande der Aussichtslosigkeit. Daher kommen mir einfache Antworten so vor wie der Sputnik, der weiland piepsend über Wolkendunst und Gewitter, Trockenheit und Sandsturm kreiste: In der besten denkbaren Position, um etwas zu erkennen aber dennoch blind.

Ich bitte übrigens nicht um Nachsicht für die handelnden Persönlichkeiten, nicht um Milde, gar Mitleid. Schaue ich mir an, was häufig in den distanzschaffenden Foren getextet wird, rechne ich auch nicht mehr mit Respekt für diejenigen, die diese Jobs erledigen. Wer keine Achtung vor sich selber hat, bringt nun mal keinen Respekt für andere auf. Ich poche unter uns aber darauf, dass man fair und redlich mit ihnen umgeht.

Nun mag der eine oder andere sagen, niemand habe den Bundesaußenminister, gar die Kanzlerin sowie deren Berater und Zuarbeitende in Handschellen gezwungen, ihre gegenwärtigen Tätigkeiten auszuüben. Das ist einfach wahr. Und dem Argument ist wenig entgegen zu setzen – bis auf eigene Erfahrung und Vermutung: Ich kenne zum Beispiel niemanden unter den Frauen und Männern aus der Redaktion von FAZ oder WamS beziehungsweise des Spiegel oder des Cicero, der von sich sagen würde: Kann ich besser! Lasst mich ins AA am Werderschen Markt zu Berlin.

 


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