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Der Untergang Westdeutschlands

von , 13.11.15

Und nun ist auch noch Helmut Schmidt gestorben. In diesem Sommer brach das aus westdeutschen Zeiten rührende Wertegefüge auseinander, eine Mischung von Einstellungen, Waren, Marken, Lebenserfahrungen und Haltungen, die die Republik über die Wiedervereinigung hinaus zusammen hielt. Verbunden durch Vertrauen, dem zentralen gesellschaftlichen und politischen Wert. Die mediale Fokussierung auf die Flüchtlingskrise überdeckt den gravierenden Einschnitt im öffentlichen Bewusstsein. Nichts ist mehr, wie es war.

Zu diesem Wertegefüge zählt natürlich Volkswagen, einst das deutsche, noch im dritten Reich wurzelnde Auto für jedermann, später der Anspruch, hochwertige Technik nicht nur in der Oberklasse, sondern auch in Kleinwagen und unterer Mittelklasse zum Einsatz zu bringen, beste Technik und wieder für jedermann. Deutsche Wertarbeit, Präzision, Sorgfalt. Wer hätte für möglich gehalten, dass VW Kunden und Staat in dieser Weise betrügt? Das Unternehmen stand für Sozialpartnerschaft; auch im Hochlohnland rechneten sich in globalen Zeiten Massenproduktionen, wenn auch bei zu geringer Rendite. IG Metall und der über die Maßen gut entlohnte Betriebsrat zeigten sich immer bereit, Verantwortung für den Konzern zu übernehmen.

Das unterscheidet sie von der ebenfalls aus Vorkriegszeiten stammenden Lufthansa, dem deutschen Synonym für Sicherheit und Verlässlichkeit. Denn sie wird gerade von der eigenen Belegschaft zerlegt, der die überhöhte Altersversorgung wichtiger ist als ihr Unternehmen. In beiden Firmen mag das Bemühen um Einvernehmen mit den Belegschaften zum Absturz beigetragen haben. Aber das Beispiel der noch vor der deutschen Kaiserkrönung gegründeten Deutschen Bank, der deutschen Bank schlechthin, zeigt, dass auch Kapitalismus pur nicht vor Kriminalität und Verschleuderung von Eigentum schützt. Einst waren auch Menschen, die nie eine Filiale der Deutschen Bank betreten hätte, stolz auf diese Finanz-Institution. Der vermutlich von RAF-Terroristen ermordete Bankchef Alfred Herrhausen zählte zu den wichtigen Denkern der Republik und forderte von den Banken einen verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Macht.

Eine ähnliche Lichtgestalt, allerdings für jedermann, war Franz Beckenbauer, der wie kein anderer für deutschen Fußball und die deutsche Art, Fußball zu spielen, stand. Dass in Afrika und Lateinamerika Korruption herrschte, wusste jeder Fan, aber dass der Vater des deutschen Sommermärchens dieses Spiel selbst und offenbar mit deutscher Effektivität betrieb, war undenkbar. Sicher hatte es Schiedsrichter-Bestechungen gegeben, aber das waren Serben, Ausländer gewesen, doch keine Deutschen, so glaubten viele.

Ebenso einschneidend für das Alltagsbewusstsein ist das Verschwinden von Bausparverträgen und den erstmals im antiken Rom aufgelegten Lebensversicherungen. Das Sparbuch ist ja schon länger tot. Für viele Bürger waren das vertrauenswürdige Anlagen, die der deutschen Sehnsucht nach Sicherheit und geringem Risiko entsprachen. Die Niedrig-Zinsen zerstörten diese hoch beliebten Angebote, ähnlich übersichtliche Alternativen fehlen am Markt.

Zugleich verlieren die Träger von Orientierungen an Reichweite und Relevanz. Die Auflagen der Tageszeitungen sinken kontinuierlich, die nach wachsenden Generationen lesen sie kaum noch. Aufgrund des wirtschaftlichen Drucks sinken in fast allen Verlagen die Aufwendungen für Redaktionen. Ein Geschäftsmodell für digitale Publizistik ist nicht zu erkennen. In den sozialen Netzwerken zeigen sich zwar erste Umrisse einer neuen Öffentlichkeit. Aber das sind noch Angebote für Minderheiten, die nicht mit dem Einfluss zu vergleichen sind, den die Tageszeitung einst in der Breite ausübte. Und wenn sich dann noch die BILD-Zeitung entscheidet, ihre Pegida Leserschaft nicht zu bedienen, wird sie mit überdurchschnittlichen Auflagen-Verlusten bestraft.

In diese so verunsicherte Gesellschaft ergießt sich nun die neue Völkerwanderung. Merkels „Wir schaffen das“ konnte einige Wochen Vertrauen sichern und Ängste mildern, zumindest verhindern, dass Ängste in der Breite offen ausgesprochen werden und sich dadurch potenzieren. Das wird nicht bleiben. Die Furcht vor dem Verlust der vermeintlichen Souveränität über den eigenen Lebensraum wird wachsen und sich verstärken. Nationalistische Aufbrüche wie in Ungarn und Polen, Le Pen in Frankreich und Großbritanniens Spiel mit der EU bilden bedrohliche Kulissen.

 

Schon früher gab es Zeichen wie den Untergang von Neckermann und die Karstadt-Krise. Doch in diesem Sommer wurde der Zeitenbruch unübersehbar. Keine der Parteien hat sich wirklich auf die Folgen des Zeitenbruchs eingestellt.

 

Sicher gibt es ein Bündel an Ursachen für den Zusammenbruch des westdeutschen Wertegefüges. Aber schon jetzt schält sich als zentrales Element die Digitalisierung heraus, die die Welt revolutioniert. Volkswagen nutzte, genauer missbrauchte moderne Software, um ihr altes Angebot am Markt halten zu können. Auch jetzt hat sich bei VW noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Volkswagen für jedermann durch eine digitale Steuerung von Verkehr und Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln abgelöst wird. Daimler scheint in seinen Einsichten etwas weiter und ist in seinem Oberklasse-Niveau auch nicht so gefährdet. Google und Apple werden die Verkehrskonzerne der Zukunft. Die VW-Krise ist nur der Vorbote für den Umsturz des Rückgrats der deutschen Wirtschaft.

Im Flugverkehr ist das schon offensichtlicher: Der digital gesteuerte und verkaufte Massen-Flugbetrieb verursachte die Lufthansa-Krise. Und der Absturz der deutschen Bank mag nicht durch die Digitalisierung ausgelöst worden sein, aber er steht dafür, dass das herkömmliche Filial-Banken-Geschäft keine Zukunft hat. Dass die Völkerwanderung dank Mobiltelefonie und sozialen Netzwerken an Geschwindigkeit und Kraft gewonnen hat, ist gemeinhin bekannt.

Schon früher gab es Zeichen wie den Untergang von Neckermann und die Karstadt-Krise. Doch in diesem Sommer wurde der Zeitenbruch unübersehbar. Helmut Schmidt stand in vielem für die untergehende Welt mit ihren eindeutigen Autoritätsstrukturen und einfachen wie verständlichen Ansagen. Wenn das Alte zerfällt und Neues entsteht, wächst naturgemäß Unsicherheit. Im politischen Raum bedient die AFD die damit verbundenen Ängste. Keine der Parteien hat sich wirklich auf die Folgen des Zeitenbruchs eingestellt.

Zum Erfolg und Glück Westdeutschlands trug die Bereitschaft in der Generation Helmut Schmidts bei, an der Seite der älteren Verantwortung für die neue Republik zu übernehmen. Ähnliches ist bei den Trägern der digitalen Revolution nicht zu erkennen. Eine Zeit lang glaubten nicht wenige von ihnen, es reiche, den Einfluss des Staates zurück zu drängen. Seit dem Banken-Desaster und auch während der anschwellenden Flüchtlingswanderung sind solche Stimmen leiser geworden. Vielleicht muss sich die Krise erst erheblich verschärfen, bis Bereitschaft entsteht, sich für den deutschen Staat und Europa zu engagieren.

 

 


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