#Enron

Winterkorn und Herbststroh: legal, illegal, scheißegal

von , 2.10.15

Es hat sich herumgesprochen: Kapitalismus organisiert Arbeit so, dass aus dem investierten Geld mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Geld, ein ordentlicher Gewinn, wird – sonst wird nicht gearbeitet. Dass die Arbeitsleistung einfach nur einen Bedarf befriedigt, kommt nicht in die Tüte. Wenn nichts rausspringt, lassen wir es, verlangt das Kapital als Grundeinstellung. Arbeiter, seit den 1920er Jahren Mitarbeiter genannt, können sich eine solche Einstellung nicht leisten. Existentiell abhängig von dem Entgelt für ihre Arbeitsleistung, haben sie ein richtiges Problem, sobald nicht gearbeitet wird. Unter diesen Bedingungen sind Arbeiter dann auch lieber dafür, dass Gewinne eingefahren werden.

Wie aus investiertem Geld mehr Geld wird, ist leicht zu sagen. Es muss sich rechnen. Die Grundrechnungsarten reichen. Von den Einnahmen werden die Ausgaben abgezogen. Für die Differenz und nur für diese interessiert sich das Kapital wie ein Narzisst für sein Spiegelbild. Schwierigkeiten macht der Umstand, man nennt ihn Risiko, dass immer erst die Ausgaben anfallen und dabei noch Ungewissheit über die Einnahmen herrscht. Einnahmen minus Ausgaben – die Primitivität der Handlungslogik einerseits und andererseits die hochentwickelten, alle Power, Intelligenz, Kreativität mobilisierenden Methoden und Strategien der Kostensenkung und Ertragssteigerung ergeben ein faszinierendes Bild. Das Kapital paart brutale Einfachheit und hohe Komplexität. Folgerichtig erscheinen seine Akteure abwechselnd als Raubtiere und geniale Strategen auf den Titelseiten der Medien.

 

Die zwei Waagschalen der Bi-lanz

Ob ein ansehnliches Plus oder ein erschreckendes Minus herauskommt, bedeutet für die Wirtschaft Sieg oder Niederlage, Himmel oder Hölle. Das Paradies winkt – das ist bei Subtraktionen so: Minuend minus Subtrahend gleich Differenz –, wenn die Einnahmen möglichst hoch und die Ausgaben möglichst niedrig sind. Dem Unterschied zwischen den zwei Waagschalen, der Bi-lanz, gilt das Sinnen und Trachten. Die Treuhänder des Kapitals, Vorstände, Manager, CEO, malochen für Jahresbilanzen und Quartalsberichte. Darin liegt ein starker Anreiz zur Bilanzmanipulation. Der Energieriese Enron und der Telekommunikationskonzern Worldcom wurden dafür berühmt, viele andere wie der Kameraproduzent Olympus nur bekannt.

Die Unternehmensführung hat es mit beiden Seiten zu tun, mit dem Menschen als Arbeitskraft und dem Menschen als Kaufkraft. Die Arbeitskraft fällt unter Ausgaben, sie soll wenig kosten. Die Kaufkraft sorgt für Einnahmen, sie soll viel ausgeben. Die Gewerkschaften bilden sich blauäugig ein, es gehe dabei um ein und denselben Menschen, und argumentieren, es sei gut für die Wirtschaft, wenn die Arbeitskraft besser bezahlt werde, damit sie mehr ausgeben könne. Kapitalisten sind schlauer, sie suchen nach zwei verschiedenen Menschen, einen, der billig arbeitet, und einen anderen, der viel kauft. Um richtig rund zu laufen, braucht der Kapitalismus Armut und Reichtum wie der Zweibeiner einen linken und einen rechten Fuß. In ihrer Funktion als Kaufkraft wird die mit Niedriglohn abgespeiste Arbeitskraft als „Sparfuchs“ umschmeichelt und über ihre Minderbemitteltheit hinweggetröstet: „ich bin doch nicht blöd“.

Die Herstellung des inzwischen berüchtigten VW-Dieselmotors EA 189 fällt, wie die Arbeitskraft, unter Ausgaben. Die Waagschale ‚Ausgaben senken’ verlangt, kostensparender und produktiver zu arbeiten, soweit es die Technik, die Gesetze, die Gewerkschaften, die Steuerbehörden, die Belastbarkeit der Arbeitskräfte und die Ressourcen der Natur zulassen. Mögliche Anreize, um das Recht, ja die Pflicht des Unternehmens zu schützen, Gewinne zu machen, liegen auf der Hand: Es auch mit veralteten oder unausgereiften Techniken zu versuchen, Gesetze mit Lobbyarbeit zu verhindern, notfalls unauffällig zu umgehen, Gewerkschaften fern, Arbeits- und Mitbestimmungsrechte klein zu halten, Steuern zu sparen oder gleich zu hinterziehen, Mitarbeiter bis zum Burnout zu motivieren, die Natur auszubeuten. Gewerkschaftsfern ist VW wahrlich nicht, aber offenbar anderen Anreizen erlegen: „Demnach fiel die Entscheidung zum Einbau der Manipulations-Software in Diesel-Fahrzeugen bereits in den Jahren 2005 und 2006 – und zwar in der Motorenentwicklung der VW-Zentrale. […] Die Vorgabe sei gewesen, die Autos trotz der schärferen Abgaswerte kostendeckend anzubieten, hieß es in den Konzernkreisen. Die Einhaltung der Grenzwerte, zumindest auf dem Prüfstand, sei aber nur mit Hilfe der Manipulations-Software möglich gewesen. VW habe darauf verzichtet, eine bestimmte Technologie zur Abgasreinigung in die Autos einzubauen, weil dies als zu teuer angesehen wurde, wie es hieß.“[1] „Legal, illegal, scheißegal“ – die APO-Stadt Berlin der 1970er und die Autostadt Wolfsburg der 2000er Jahre finden sich unter demselben Slogan wieder.

Richtig bleibt: Nichts davon geschieht von selbst, alles muss getan werden, Täter werden gebraucht. Aber, es ist eben angerichtet, die Situationen, die es nahelegen, mit der Technik, den Gesetzen, den Gewerkschaften, den Arbeits- und Mitbestimmungsrechten, den Steuern, den Mitarbeitern, der Natur so umzugehen, sind strukturell vorgegeben, sie entstehen zuhauf. Man muss als Unternehmens- und Gewinnverantwortlicher wie Winterkorn schon sehr viel Glück und sehr viel Verstand haben, diesen Reizen nicht zu verfallen.

Von seinem Jahreseinkommen abgesehen, war an Winterkorn nichts Ungewöhnliches. Was jetzt in Kraft gesetzt wird, ist der Wirkungsmechanismus des Skandals: Einzelne Personen zu Schurken zu machen, sich über persönliches Verhalten zu empören, um nicht über die Verhältnisse reden zu müssen, die kriminelle Energien freisetzen. Allerdings scheint die Skandalisierung diese Funktion nicht mehr richtig zu erfüllen.

Der Zeitpunkt naht, an dem Skandale ihre Wirkung verlieren. Es scheint sich die Unterstellung breit zu machen, dass sich normales Verhalten von skandalösem nur noch am Grad der Öffentlichkeit unterscheidet: Der Skandal ist bloß die öffentlich bekannt gewordene Normalität, (fast) jeder traut (fast) jedem anderen zu, Schurke zu sein bzw. bei nächster Gelegenheit zu werden. Und dieses Phänomen des Generalverdachts ist nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Die Politik mit den Vorwürfen des Wahlbetrugs, der Sport mit seinem Doping, die Wissenschaft mit ihren Plagiaten, die Massenmedien mit ihrem Manipulationsverdacht wissen garstige Lieder davon zu singen.

 

Aufklärung statt Hetze

Andere haben hoffentlich mehr und bessere Ideen, mir fällt nur „soziologische Aufklärung“ ein. Wir leben in einer „funktional differenzierten“ Gesellschaft und wertschätzen mit guten Gründen die Freiheit der Wirtschaft, der Politik, des Sports, der Wissenschaft, der Medien. Aber kein Prinzip verträgt seine letzte Konsequenz. Für jedes einzelne Leistungsfeld unserer Gesellschaft gilt, dass es für die anderen unerträglich wird, wenn es seiner Logik, seinem Erfolgsstreben freien Lauf lässt, wenn es nur noch um mehr Geld oder nur noch um mehr Macht oder nur noch um den nächsten Sieg oder nur noch um die nächste Publikation oder nur noch um mehr Aufmerksamkeit geht. Die politische Auseinandersetzung, auf welche Grenzen wir uns verständigen wollen, muss geführt werden mit Härte, Sachlichkeit und Ausdauer.

Was wir stattdessen erleben, ist eine Maßlosigkeit des Beschimpfens und Beschuldigens, eine Haltlosigkeit des Hetzens. Dieser Shitstorm-Modus ist die Ausdrucksweise des Populismus, den rechts zu nennen eine unzulässige Vereinfachung wäre. Auch mancher Altlinke weiß kaum noch anders über unsere Gesellschaft zu reden. „Die Suche nach Sündenböcken ist ein Opferritual, keine Aufklärung.“ In den Wellen von Empörung und Resignation darf die Streitkultur nicht untergehen. Wir brauchen die Realitätsgewinne scharfsichtiger Kritik, nicht die Kontrollverluste blinder Wut. Das schließt die Art der Auseinandersetzung mit den Wüterichen ein. Wer Wutbürger als „Pack“ beschimpft, leistet der Aufklärung einen Bärendienst.

 

[1] http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/volkswagen-chef-mueller-sieht-konzern-in-historischer-krise-a-1055148.html

 

 


 

Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei?  Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: “Ausbeutung 4.0? Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?”.


 

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