#Arbeit

Mittelschicht: Hoffnungsträger und Verzweiflungstäter

von , 13.4.15

Werden „die da unten“ von tiefer Resignation gesellschaftspolitisch passiv gehalten, „die da oben“ von üppiger Zufriedenheit? Und nur „die Mitte“ ist unberechenbar, mal ruhig und anpasst, dann wieder passt es ihr hinten und vorne nicht, schlägt sie nach rechts und nach links aus oder wird zur „Querfront“ mit rechtsextremen Zielen und plattlinker Propaganda?

Garant der Stabilität, Unruheherd, Quell der Radikalität? Wie darf man sich eine Gesellschaft vorstellen, die ihrer Mittelschicht im Guten wie im Bösen alles zutraut? Auf die berühmte Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben[1], lauten bekannte Antworten: in der Risiko-, Medien-, Arbeits-, Informations-, Erlebnis-, Multioptions-, multikulturellen, postindustriellen, alternden Gesellschaft. Dass wir in einer Geldgesellschaft leben, in der „Wirtschaft, Wirtschaft über alles“ gilt, erscheint zu selbstverständlich, als dass es ein aufmerksamkeitsstarkes Etikett sein könnte. Aber es ist ein erklärungsstarkes, gerade auch die Bocksprünge der Mittelschicht betreffend.

Es dürfte das alles überragende Merkmal unserer Gesellschaft sein, dass sie immer mehr Zugänge zu Lebensmöglichkeiten mit Geld regelt. Ein schneller Blick in den Spiegel und in die Umgebung – auf Kleidung und Kosmetik, auf Nahrungsmittel, Medikamente und Mobiliar, auf Medien, Bildung, Heizung, Fortbewegung – lässt keinen Zweifel, alles muss bezahlt werden und alles dient als Einnahmequelle. Die Lebenswelt mit Euro-, Dollar- und Renminbi-Zeichen im Auge daraufhin abzusuchen, wo sich noch eine Bezahlschranke errichten lässt, vor Toiletten, auf Online-Portalen, an Bankautomaten, ist die Lieblingsbeschäftigung des homo oeconomicus. Wer, unter welchen Umständen, wie viel und wofür Geld einnimmt bzw. ausgibt, sagt mehr über gegenwärtige Lebenswirklichkeiten als alle anderen Etiketten zusammengenommen.

Zuhause in der Kneipe und in der Cloud

Um die besondere Lage der Mittelschicht zu begreifen, lohnt es sich zu überlegen, wie sie zu Geld kommt. Wofür sie es ausgibt, wäre auch aufschlussreich, aber das Ausgeben ist unterhalb des Millionärsdaseins viel weniger problematisch als das Einnehmen, deshalb konzentrieren wir uns auf letzteres. Einnahmen lassen sich auf durchaus unterschiedliche Weise erzielen, auch die Wirtschaft ist offener und vielspuriger geworden. Zwischen A wie Arbeitslohn und Z wie Zinsen haben sich Entgeltquellen eingenistet, die aufzuzählen man anfangen, aber nicht beenden kann: Beitrag, Crowdfounding, Dividende, Erbe, Foundraising, Hartz IV, Honorar, Krankengeld, Pension, Wette… Besonders häufig verkauft oder verleiht man etwas, um Geld einzunehmen, Arbeitskraft, Waren, Dienstleistungen, Geld. Was verkauft und verleiht die Mittelschicht?

Wir brauchen uns nicht zu streiten, wer genau zur Mittelschicht gehört. „Ein Tatort benötigt nur einen Kameraschwenk, um uns in dieses Milieu einzuführen: Wir sehen ein Reihenhaus mit Vorgarten und Carport, davor ein paar Blümenkübel, Dahlien und Pfingstrosen, eine Fußmatte, auf der ‚Bitte Füße abtreten steht’ – und sind im Bilde.“[2] Bisschen schlicht, dieses Bild. In großstädtischen Penthouses und Vorderhäusern sind noch ganz andere Mittelschichten zu bewundern, kreativ, hipp, in der Kneipe und in der Cloud gleichermaßen zuhause. Arbeiter, die durchschnittlich oder unterdurchschnittlich verdienen, gehören jedenfalls nicht dazu, auch nicht die Eigentümer großen Geld- und Sozialkapitals. Zur Mittelschicht zählen die „besserverdienenden“ qualifizierten Angestellten, die Selbständigen und Kleinunternehmer. In der Mittelschicht werden Arbeitskraft, Waren, Dienstleistungen, Geld verkauft und verliehen wie überall sonst auch, jedoch unter besonderen Umständen.

Die Funktion einer tragenden Säule der Gesellschaft dürfte für etablierte besserverdienende Angestellte tatsächlich zutreffen. Sie bilden eine Art Arbeitnehmer-Oberschicht (Arbeitnehmerinnen kommen darin seltener vor), die sich der präsidialen, regierungsamtlichen und volksparteilichen Huldigungen gewiss sein kann. Sie ist in großen Wirtschafts- und Staatsorganisationen angestellt, hat sich in mittleren Führungspositionen eingerichtet. Ihr Konto füllt sich am Monatsende zuverlässig und vorausberechenbar. Ihre Karriereleiter durchbricht die Wolkendecke nicht, steht aber stabil. Kranken- und Rentenkasse sind im Bedarfsfall auf ansprechendem Niveau auszahlungsbereit. Sie haben und von ihnen ist nicht viel zu befürchten. Höchstens die ganz großen Katastrophenszenarien, Klima, Atom, Terrorismus, Untergang des Abendlandes, beunruhigen sie. Ein Restrisiko, dass der besserverdienende Festangestellte Gedankensprünge eines wilden Ebers macht, gibt es, Thilo Sarrazin beweist es.

Erben zeugen oder nur Kinder bekommen

Anders die Selbständigen und Kleinunternehmer. Das ist eine kunterbunte Mischung, die eines eint, die unmittelbare Konfrontation mit der Unberechenbarkeit der (potentiellen) Kunden aus großen Marken-Häusern ebenso wie aus Mietskasernen, auf Wochenend- ebenso wie auf Onlinemärkten. Was den Großen vergönnt ist, Marktbeherrschung im Bestfall oder wenigstens im Ernstfall Bankenrückhalt und Staatsbürgschaften, davon wagen die Kleinen nicht zu träumen. Seit Digitalisierung und Globalisierung auch den Big Playern Turbulenzen und Insolvenzen bescheren, spricht niemand mehr von Tante Emma, dem Handwerksbetrieb aus der Nachbarschaft und den vielen Start ups, die es alle nicht mehr gibt.

Gewerkschaften und Parteien links von der Mitte begreifen – trotz der akuten Prekarisierung ihrer eigenen Klientel – bis heute nicht die unsichere Lage all derjenigen, die ihre Arbeitsleistungen als Produzenten, Handwerker, Dienstleister direkt dem Markt mit seinen wählerischen Käufern anbieten. Ob Selbständige ihre Investitionen an Qualifikation, Arbeitszeit und Sachmitteln jemals erstattet, einen „Unternehmerlohn“ ausbezahlt, vielleicht sogar einen Gewinn erwirtschaftet bekommen, steht in den Sternen. Pannen, Krankheiten, Unfälle bergen das Potential einer existentiellen Bedrohung. Die Aktivierungs-, Eigenverantwortungs- und Selbstvorsorgeappelle, die inzwischen landauf landab allen gepredigt werden, waren für Kleinunternehmer immer schon harte Herausforderungen. Wenn es klappt, geht es ihnen nennenswert besser als „denen da unten“; sie können dann wie „die da oben“ Erben zeugen, während die Normalfamilie nur Kinder bekommt. Wenn… Wenn sie es schaffen, macht sich oft das Grundgefühl breit, beneidet und verdächtigt zu werden, sich unlauterer Mittel zu bedienen. Wenn sie scheitern, sehen sie sich als Versager abgestempelt, die zu hoch hinaus wollten.

Der selbständige Mittelstand ist nicht in große Organisationen eingebunden, er blickt direkt in das Janusgesicht von Freiheit und Abenteuer, genießt mehr Selbstbestimmung und erleidet mehr Unsicherheit. Im Existenzkampf, so sieht er sich, kreisen ihn die Reichen und Einflussreichen von oben ein, von unten anspruchsvolle Arbeitsscheue des In- und des Auslandes. Dass er zu allen diesen Übeln auch noch Steuern zahlen soll, erlebt er als Zumutung schlechthin. Denn die massive Ökonomisierung jeder Arbeitsleistung macht ihm das Leben schwer: Die Kunden wollen es so billig wie von den Konzernen und Ketten. Mitarbeiter wollen nicht weniger verdienen als andere Beschäftigte. Zulieferer verlangen ihm mehr ab als ihren Großkunden. Die Banken geben sich wegen seiner ungewissen Geschäftslage noch zugeknöpfter.

Die wirtschaftsgläubige Geldgesellschaft macht die soziale Existenz jedes Einzelnen von der Zahlungsfähigkeit abhängig, für die er/ sie selbst zu sorgen hat, koste es, was es wolle. Arbeit ist der Geldgesellschaft nur als Dienerin der Wirtschaft etwas wert. Sie hilft ihren Millionären, Milliardäre zu werden. Gönnt ihren Obdachlosen das Existenzminimum nicht. Entlässt Minijober wegen der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Belastet die kleinen Leute mit der ständigen Sorge um ein Einkommen, das ein halbwegs anständiges Auskommen ermöglicht. Beschwört ein mittelständisches Radikalisierungspotential herauf, dem in entsprechenden Krisensituationen das Überschreiten der Grenze zur Gewalttätigkeit zu einer Frage der Gelegenheit wird. Und dann? Werden die Befindlichkeiten des Gemüsehändlers Fritz Schulze und der Wirtschaftsberaterin Kathrin Oertel von psychologisierenden Politikern und politisierenden Psychologen erörtert – in Talkshows, moderiert von Einschaltquotenjournalisten wie Günther Jauch.

 

[1] Pongs, Armin (2004): In welcher Gesellschaft lieben wir eigentlich? München, Dilemma Verlag
[2] Mau, Steffen (2012): Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? Berlin, Suhrkamp, S. 13

 


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