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Haltern und die Abgründe des Boulevards. Bericht eines Augenzeugen

von and , 30.3.15

Katastrophen erzeugen Katastrophenjournalismus – im doppelten Wortsinn. Stefan Niggemeier hat Zustand und Dilemmata der Medienkritik nach dem Germanwings-Absturz in bewährt souveräner Weise in der FAS zusammengefasst. Was tun, wenn die Empörung zum (Trauer-)Ritual wird?

Kann, darf, soll man sich – angesichts der Unfassbarkeit dessen, was in Südfrankreich passiert ist, und der Vielzahl journalistischer Grenzüberschreitungen seitdem – noch über einzelne Fehlleistungen echauffieren? Schließlich wissen wir um die Rahmenbedingungen, um Wettbewerb, Zeitdruck und Überforderung, unter denen Journalisten in solchen Situationen Dinge schreiben oder filmen, die sie retrospektiv oft selber als Fehler bezeichnen. Man denke nur an die Bilder von der Hinrichtung vor den Büros von Charlie Hebdo. Und wir wissen um die charakterlichen Dispositionen derer, die das systematische Austesten von Grenzen wie auch den routiniert-nonchalanten Umgang mit der Empörung danach zum Geschäftsmodell erkoren und zur perfiden Perfektion gebracht haben. Gestern Griechenland, heute Germanwings.

Jüngstes Beispiel: die Veröffentlichung eines wohl im Rahmen der frühen Trauerarbeit entstandenen und am Gedenkstein nahe der Absturzstelle abgelegten Briefes einer Spanierin an ihren verstorbenen Ex-Partner durch die BILD. Die verantwortlichen Redakteure werden wissen, dass es der Trauerbewältigung der Frau alles andere als förderlich sein dürfte, wenn sie davon erfährt, dass ihr Leid und ihre Schuldgefühle angesichts einer kurz vor dem Absturz gescheiterten Beziehung und der Unmöglichkeit, Abschied zu nehmen, vor Hunderttausenden ausgebreitet wurden. Was rechtfertigt es, einen solchen Brief vom Gedenkstein zu nehmen und zu transkribieren? Ein wie auch immer geartetes, wohlmöglich von BILD definiertes öffentliches Recht auf Voyeurismus? Die Hinterbliebenen als Kollateralopfer des Katastrophenjournalismus?

Aus intimsten Aufzeichnungen wird ein (wen? Natürlich „uns“) „Bewegender Brief einer Angehörigen“. Die Boulevard-Maschine läuft auch Hochtouren. Auflage und Klickzahlen stimmen, Kollegen rümpfen die Nase, Twitter tobt, und bei SPRINGER erklärt man die Grenzüberschreitung zur Journalistenpflicht und sich – stellvertretend für den Journalismus insgesamt – zum Opfer eines digitalen Mobs, der es ganz grundsätzlich auf die Überbringer schlechter Nachrichten abgesehen habe. Man schreibe schließlich nur „nach bestem Wissen und Gewissen, was passiert ist“, meint BamS-Chefredakteurin Marion Horn (lässt aber die Frage, ob das die Veröffentlichung eines Trauerbriefs rechtfertigt, unbeantwortet.)

 

„Und es lässt uns nicht kalt, wenn selbst ernannte Internet-Moralapostel uns drohen und den Mund verbieten wollen. Oder uns vorwerfen, dass Zeitungen Geld verdienen. Himmelherrgott, das ist gut so! … Wir entscheiden selbst, wie wir unsere Zeitung machen. Weil wir es können.“

 

So weit, so bigott. So weit, so bekannt. Traurige Routine, eine Spirale aus journalistischer Entgrenzung und Empörung, die, das sei nur nebenbei bemerkt, die Tatsache, dass die Mehrzahl der Kollegen sich unter schwierigen Bedingungen tatsächlich bemüht, verantwortungsvoll zu berichten, in den Schatten stellt.

Ist somit alles gesagt, nur noch nicht von jedem? Nein. Denn vollständig ist unser Bild von dieser Katastrophe, die für uns Zuschauer von vorneherein eine mediatisierte Katastrophe war, erst, wenn wir mit etwas Abstand auch von jenen Menschen hören, die in den letzten Tagen in die Mühlen der medialen Betroffenheitsmaschinerie gerieten. Es liegt in der Natur der Sache, dass Opfer journalistischer Exzesse wie dem des „Witwenschüttelns“ – wir haben einen Fall dokumentiert – in den Medien kaum vorkommen. Hinterbliebene haben mit der Bewältigung ihrer Trauer genug zu tun. Überrumpelte Dritte schweigen im Anschluss aus Scham, Ohnmacht und einem tiefen Misstrauen gegenüber den Medien.

Mika Baumeister ist Schüler des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See, das 16 Schüler und zwei Lehrerinnen verloren hat. Auf seinem Blog hat er nun aufgeschrieben, welche Erfahrungen er seit dem Unglück mit der Presse gemacht hat. Wir veröffentlichen mit seiner Erlaubnis Auszüge aus seinem Bericht über ein Gymnasium im medialen Belagerungszustand.

Leonard Novy


 

Zu Beginn ein kleiner Hinweis: Ich selbst bin Schüler am Joseph-König-Gymnasium, kannte beide Lehrerinnen sowie einige der SchülerInnen, die bei dem Flugzeugabsturz am 24. März in Südfrankreich ums Leben kamen. Im Folgenden versuche ich, die Gedanken vieler Schüler sowie der Angehörigen einiger Familien mit eigenen Erfahrungen zusammenzufassen. Weder war ich der allerbeste Freund eines der Opfer noch möchte ich ein Vertreter für alle Schüler sein. Doch das hier ist das, was viele über die fragwürdigen Methoden erfahren mussten, mit denen ich sprach: Egal ob auf Seiten der Angehörigen (Eltern/ Geschwisterkinder) oder der der Mittrauernden (Schüler/ Angereiste aus anderen Städten). Im Prinzip ist das hier schon fast die Nachhut der medienkritischen Beiträge; viele Institutionen veröffentlichten bereits ihre Kritik an der penetranten und pietätlosen Berichterstattung (etwa der Deutsche Journalisten-Verband oder der BILDblog). Dennoch finde ich wichtig, dass auch aus dem Inneren eine Meinung an die Öffentlichkeit kommt: Liebe Konsumenten von Klatschblättern oder einigen TV-Sendern, suchen Sie sich neue Berichterstatter!

Liebe Sensations-Journalisten,

haben Sie schon einmal auf einen Schlag viele ihrer Freunde, Bekannte oder sogar Verwandte verloren? Nein? Bei der Berichterstattung einiger Medien merkt man das. Und gerade jenen Pressevertretern möchte ich raten, sich einmal zu überlegen, wie sie sich bei dem letzten Todesfall in der Familie gefühlt haben. Was würden Sie wohl machen, wenn Ihre große Trauer von einem noch größeren Aufgebot von Kameras gefilmt wird?

In den letzten Tagen ist so viel passiert, wurde so viel geredet, gab es so viele Gerüchte. Das alles fügt sich zu einem großen Ganzen zusammen. Und dieses ist aus Sicht vieler vollkommen widerlich. Ganz abgesehen von der Tat des Co-Piloten, die ich hier vollkommen außen vor lassen möchte (ich war nicht in der Lage, mich ausreichend über neue Untersuchungsergebnisse zu informieren), sowie dem Tod der anderen Passagiere, gibt es hier großen Aufklärungsbedarf für die konsumierende Menge. Denn, in einem Satz zusammengefasst: Die Berichterstattung in Haltern war nicht in Ordnung.

Fange ich einmal chronologisch an: Dienstag, 13:05 Uhr: Durchsage von unserem Schulleiter: Alle sollen nach Hause gehen, es sei etwas passiert, die verfrühte Beendigung des Unterrichts sei kein Grund zur Freude. Schon vorher wussten einige, was unter Umständen passiert sein könnte. Immerhin stand etwa das Datum des Spanien-Austausches in den Schulnachrichten, einige Schüler nutzen ja bekanntlich das Smartphone auch im Unterricht. Und es war auch bekannt, dass der Flieger in Düsseldorf landen sollte. Zusammen mit der Ankunftszeit des Fliegers konnte man – wie in der Pressekonferenz am Mittwoch gesagt wurde – nur darauf hoffen, dass die Schüler den Flieger nicht erreichten oder ein weiteres Flugzeug zur ähnlichen Zeit flog. Der erste Journalist vor Ort kam von der örtlichen Presse, gegen 13:40 Uhr stand die Halterner Zeitung vor der Tür. Durch die physikalische Nähe vollkommen legitim. Ich selbst verließ als einer der letzten Schüler gegen 14:00 Uhr das Schulgelände, bei insgesamt 2 oder 3 Pressevertretern – wie gesagt, eine öffentliche Bestätigung gab es nicht, die Berichterstattung ließ aber fast keinen Zweifel zu. Zuhause wurde dann eine Runde Twitter gecheckt: Die ersten “großen Player”, die tatsächlich Haltern vermuteten, waren Bild (zumindest unter #Haltern) und Sat1. Der Startschuss um das beste Bild ging also um spätestens 14:30 los. Doof, dass ich mich bei Twitter beteiligte: Ein anonymer Anruf auf dem Haustelefon. Und schwupps, hat die Bild angerufen. Ob ich denn etwas erzählen könne, wie es mir gehe und in welchem Verhältnis ich zu den Opfern stehe. Nun ja, da wurde wohl einfach mal gegoogelt und ein Impressum ausgegraben, in dem man seine Nummer im Normalfall angeben sollte. Einerseits clever, andererseits perfide. Weitere Infos gab es für das Klatschblatt natürlich nicht.

Und was machen die Medien? Großaufnahmen von Leidtragenden! Bild, Sat1, Ruptly, alle mit dabei. Ich selbst hatte keine Zeit, viele passende Fotos und Videos zur Beweisführung heraus zu suchen. Doch wer sich mit den News aus Haltern aktiv beschäftigt hat, wird einige Fotos gesehen haben – Halterner können sich auf jeden Fall wiedererkennen. Deshalb gab es dann eine Art Selbsthilfe, um zumindest die Arbeit zu erschweren. Mithilfe einer kleinen Menschenmauer wurden die Medien so belagert, dass keine ordentlichen Aufnahmen gemacht werden konnten. Die Absperrung am Dienstag lag noch etwas näher an der Treppe als die am Mittwoch, daher gab es noch einmal besseres Bildmaterial für die Presse respektive die TV-Sender. Bei dem Schutzversuch der Trauernden an dieser Stelle mal ein herzliches Dankeschön an H, K, J, S und natürlich auch den Rest, die mit ihrem Rücken die Sicht versperrten.

(…)

Mittwochmorgen kam es dann zum Höhepunkt des Wahnsinns. Die Absperrung, um etwa 5 Meter nach hinten verschoben, war komplett von Redakteuren gefüllt. Es war vorher abzusehen, dass das Medienaufgebot hoch sein werden wird. Doch wie viele nun tatsächlich da waren, überraschte alle. In der Regel wird der Ort, an dem die Journalisten standen, komplett mit Fahrrädern der Schüler gefüllt. Keiner wird nachgezählt haben, aber der Eindruck des oben genannten Zoos verstärkte sich noch. An die Verstorbenen gedenken konnte so im Prinzip niemand wirklich. Sie können ja einfach mal mit den Gedanken spielen: Man wird von allen Winkeln beobachtet und soll seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Wer nicht genügend Imagination besitzt, um sich das vorzustellen, hier ein kleiner Hinweis: Geht nicht. Den Schülern bot sich zwar die Möglichkeit, auch in der Aula zu trauern. Doch die Stimmung im Freien ohne eine räumliche Enge war für viele angenehmer, außerdem konnten (und können immer noch) Kerzen abgestellt werden. Eltern von Schülern blieben generell außen vor und mussten in der Regel draußen bleiben.

(…)

Geld für Bilder aus der Schule und Interviews – Geht’s noch?

Laut einem Seelsorger soll sich sogar ein Journalist mit einer Notfallseelsorger-Warnweste unter die Schüler gemischt haben. Ich glaube, dazu braucht man überhaupt nichts sagen, das ist einfach nur sehr traurig. Allgemein scheint es wohl auch Personen gegeben zu haben, die mit dem Stereorekorder in der Tasche zu den Kerzen herantraten, um Gespräche aufzuzeichnen; Handykameras unter einem Strauß Blumen sollen für Exklusivbilder genutzt worden sein. Eine Person soll wohl versucht haben, sich als Lehrer zu verkleiden – nur doof, dass man bei einer solch kleinen Schule das Kollegium (etwa 80 Lehrer) kennt. Auf so eine schlechte Idee muss man erst einmal kommen.

Würde die Sensationshascherei dort wenigstens aufhören. Aber nein. Geld für Interviews oder Aufzeichnungen der Gespräche in den ersten Stunden des Mittwochs wurden ebenfalls geboten. Das besthonorierte Vor-Ort-Interview wäre wohl mit etwa 80€ dotiert gewesen, soweit ich weiß, gab es auch Einladungen zu Talkshows mit höheren Vergütungen. Diese Interviewanfragen gingen aber nicht immer an halbwegs reife Personen aus der Oberstufe, sondern auch an unschuldige Seelen aus den Klassen 5-7. Mit 10-13 Jahren alten Personen solche Deals zu machen, ist nicht mehr fragwürdig, sondern grenzt an krimineller Energie. Es hat einen guten Grund, warum es Vormünder gibt. Doch diese konnten hier leider nicht eingreifen. Mit vorne dabei: Natürlich die Bild-Zeitung. Nachher will es natürlich wieder keiner gewesen sein, Herr Diekmann. Ärgerlich, dass es hier leider keine handfesten Beweise gibt. Dabei hatte mir ihr Mitarbeiter am Telefon doch eigentlich noch gesagt, dass die Zeitung seriös arbeiten möchte und Persönlichkeitsrechte geschützt werden würden.

Ich möchte an dieser Stelle an einige Paragrafen des Pressekodex erinnern, der in der Regel zumindest den Berichtenden bekannt sein sollte. Für alle anderen: Hierbei handelt es sich um publizistische Grundsätze, die die Berufsethik der Arbeit eines jeden leiten sollen. Bei der Beantragung eines Presseausweises stimmt man der Einhaltung der Paragrafen zu – durch meine Tätigkeit bei verschiedenen Webseiten habe auch ich einen Presseausweis und dadurch auch diese Grundsätze unterschrieben.

4. Grenzen der Recherche
Bei der Beschaffung von personenbezogenen Daten, Nachrichten, Informationsmaterial und Bildern dürfen keine unlauteren Methoden angewandt werden.

Die Bestechung zur Heranschaffung von neuen Infos ist skrupellos und zeugt von schlechtem Geschmack.

8. Persönlichkeitsrechte
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung.

Bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Großaufnahmen von Trauernden sind für mich äußerst identifizierend. Und bei den Schlagzeilen einiger Medien nicht von einer reißerischen Überschrift zu sprechen, wäre heuchlerisch. Ein Bild der bereits verheirateten Spanischlehrerin am Mittwochmorgen auf der Webseite der Bild (relativ schnell wieder gelöscht, aber es war sichtbar)  gab es ebenfalls zu sehen. Leider habe ich keinen Screenshot vorliegen. Zu dem Punkt des Privatlebens komme ich später noch einmal, auch da gibt es einige Stories, die erzählt werden müssen.

11. Sensationsberichterstattung und Jugendschutz
Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz.

Vom Leid sprachen wir bereits. Da muss nichts weiteres hinzugefügt werden. Zum Teil Jugendschutz ist an sich nur der zu sehende/ hörende Teil gemeint; etwa dass FSK-Freigaben beachtet werden müssen. Doch zum Jugendschutz gehört auch, dass bei der Erstellung von Material mit Minderjährigen ein richtiger Umgang unbedingt nötig ist.

Dauernde Berichterstattung macht es nicht besser

Wenn alle 5 Minuten derselbe Experte sagt, dass es keine neuen Infos gibt, dann sollte man sich überlegen, ob man vielleicht aus 10 Stunden Sondersendung 2 Stunden macht. Gibt das wirklich so gute Quoten, N24? Derselbe Einspieler, dieselbe Behauptung, dasselbe Gerücht – wie oft hat Steffen Schwarzkopf sich wiederholen müssen, nur um die Sendung zu füllen? Er hat wortgewandt mit immer neuen Formulierungen das exakt Identische gesagt. Das zeugt von einem gut ausgebildeten Berichterstatter, macht auf der anderen Seite aber auch die Verzweiflung der Produktionsleiter deutlich, für die die Sendung weitergehen muss. Wer ein Interview gab oder auch nur kurz mit einem Berichterstatter sprach, wurde direkt von einer großen Meute belagert. Ob man den anderen auch Infos geben könne, und sei es auch nur eine kurze Beschreibung der aktuellen Gefühlslage. Jeder Leser dieses Textes darf sich nun kurz überlegen, wie man sich nach dem Tod von seinen Freunden fühlt.

In der Halterner Sixtus-Kirche durfte nicht gefilmt werden – das hinderte die Redakteure vom Focus nicht daran, eine Nachricht im Kondolenzbuch zu kopieren und zu veröffentlichen. Moment, für wen waren Kondolenzbücher noch einmal gedacht? Sicherlich nicht für die breite Öffentlichkeit. Wäre es eine Trauer um alle Verstorbenen, gäbe es sicherlich wenig Einspruch. Doch die zitierte Stelle ist eindeutig an eine einzige Person gerichtet; durch den genutzten Ausschnitt des Textes ist auch der Kurs eindeutig identifizierbar, der dieses Schreiben hinterließ. Auch interessant sind die Medien, die erst in der ersten Reihe stehen und sich nachher zurückziehen. Begründung: “Wir wollen den Schülern ihren Raum zum Trauern lassen.” Aber warum kommen sie dann überhaupt am ersten Tag direkt zur Schule und bleiben nicht fern?! Diese gespaltene Zunge war in den letzten Tagen häufig zu sehen, zu lesen und zu hören.

Das unverschämteste aber war, dass einige Reporter im Kreis standen und lauthals anfingen zu lachen. Einer von ihnen hüpfte herum. Es war weder Respekt noch Anteilnahme zu spüren. Lauthals los zu lachen, zwanzig Meter entfernt von vielen Trauernden, finde ich unmenschlich (…) – Zitat einer Mitschülerin

Belästigung der Familien über alle Kanäle

Die Schule, die Kirche sowie das Rathaus waren in den letzten Tagen die Hauptspielplätze der Presse. Doch Bild, Bunte, Spiegel TV (sprich RTL) sowie zwei englisch sprechende Französinnen ließen sich nicht beirren und klingelten tatsächlich an die Türen einiger betroffener Familien. Wie war das noch einmal mit dem Pressekodex, Paragraf 8? Durch zusätzliche Anrufe – immer mit unterdrückter Rufnummer – stellte sich bei den Betroffenen zum Teil ein Angstzustand mit der Angst, verfolgt zu werden, ein. Dabei waren die Anrufe nicht nur an normalen Zeiten, auch mitten in der Nacht soll es geklingelt haben. Ein Telefonat soll besonders krank gewesen sein. Ein scheinbar junges Mädchen rief bei einer der Opferfamilien an. Das Gespräch ist an dieser Stelle sinngemäß nachgebildet:

“Hallo, ich komme aus der Stufe unter  [der verstorbenen Person]. Mir tut das so leid.”

“Also aus der neunten?”

“Ja, ich glaube schon. Wann ist der Trauergottesdienst?”

Ekelhaft. Wie grässlich es sein muss, mit tiefstem Schmerz auch noch Angst vor heuchlerisch-freundlicher Presse vor dem eigenen Heim, dem Rückzugsort, haben zu müssen. Doch die Familien selbst reichen den Voyeuren ja auch nicht: Die Bild ging noch weiter und suchte nach Personen, die auf den Facebook-Profilbildern der Verstorbenen markiert waren. Und wurden leider auch fündig. Diese skrupellose, unseriöse Gruppe von Journalisten macht angeblich nur ihren Job – diese Ausrede hörten wir in den letzten Tagen so oft. Doch ihr Job kann auch anders erledigt werden. Das sieht man bei den Öffentlich-Rechtlichen Programmen. Keine Spekulation, keine Hetzjagd auf Angehörige, keine Interviews gegen Geld – und doch gab es exakt die gleichen Informationen. Wieder mein Appell an diese pietätlose Randgruppe von Journalisten:  Was wäre, wenn sie ein Betroffener sein würden?

Was glauben sie Leser, wie erleichtert wir uns fühlten, als am Donnerstagabend zum ersten Mal seit Dienstag keine Journalisten mehr hinter uns standen und uns ablichteten. Die Stimmung änderte sich; die angespannte Atmosphäre wich einer angemessenen Befindlichkeit.

(…)

Und der nächste Medienrummel kommt bestimmt

Beerdigungen, Trauermarsch, Jahresseelenamt: All diese Ereignisse stehen in der Kleinstadt Haltern noch an. Der 4. April steht bereits als Datum für den Trauermarsch fest, hier ist wieder mit einem großen Medienaufgebot zu rechnen. Die Hoffnung liegt auf der Anonymität der Masse: Vielleicht schaffen es die Vertreter ja, keine Nahaufnahmen zu machen.

Die noch anstehenden Veranstaltungen können von den Journalisten genutzt werden, um zu zeigen, dass man auch ordentlich, mit Anstand und Würde über Angehörige und deren Trauer berichten kann. Wir Halterner würden uns auf jeden Fall über ein gemäßigtes Aufgebot an Kameras und weniger Einsatz von Vergrößerungsoptiken freuen.

Liebe Pressevertreter: Erinnern sie sich an die Versprechen, die einst bei der Entgegennahme des Presseausweises gegeben wurden. Zeigen sie, dass sie noch Scham und Mitgefühl empfinden. Versuchen sie nicht, das exklusivste Bildmaterial zu bekommen, koste es was es wolle.

Liebe Konsumenten von Bild, Bunte und Co.: Vermeiden sie, die reißerischen Neuigkeiten zu lesen. Seriöse Portale bieten bessere Infos, hetzen weniger und sind generell objektiver. Sie finanzieren als LeserInnen im Prinzip die Journalisten, die letzten Endes bei den Angehörigen vor der Haustüre stehen. Vielleicht ist die Zwangsabgabe an ARD, ZDF und die Dritten gar nicht so verkehrt.

Disclaimer: Ich sprach am Dienstag kurz mit Channel5 sowie der ARD (Markus Preiss Dienstag und Jens Eberl Mittwoch-Freitag). Bei der Pressekonferenz am Mittwoch kam es zu einem kurzen Gespräch mit RTL. Dienstag rief die Bild an. Für Angaben mit konkretisierten Medien liegen zum Teil Screenshots und Links vor. Meine Quellen sind direkte Angehörige, fremde Trauernde, meine Freunde, Notfallseelsorger und Lehrer.

 

Der vollständige Text, unterlegt mit Bildmaterial, ist auf Mika Baumeisters Blog meistergedanke.de erschienen.

 


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