#Agenda 2010

Digitale Bohème oder Online-Proleten?

von , 8.4.15

Gegen die akademische Attitude, die feinen Unterschiede in zarten Tönen auszumalen, soll hier auf den groben bestanden werden. Über die Arbeit und ihre Zukunft zerbrechen sich zurzeit viele öffentlich den Kopf: Regierungsprojekte, Parteikommissionen, Wissenschaftskonferenzen, Gewerkschaftsbücher1, Rechercheprojekte von Zeitungen, Tagungen zivilgesellschaftlicher Akteure analysieren und debattieren. Mein vielleicht zu oberflächlicher Eindruck ist, dass sie sich scheuen, diesem folgenschweren Befund hinreichend Rechnung zu tragen:

Arbeit ist in der heutigen Gesellschaft einer Art der Doppelbindung ausgesetzt, von der die Psychologie sagt, sie führe zu Schizophrenie. Die individuelle Arbeitsleistung soll die eigene soziale Existenz tragen, gleichzeitig soll sie als wirtschaftlicher Kostenfaktor so billig und so frei verfügbar wie möglich sein und am besten durch Technik ersetzt werden. Die Arbeitsgesellschaft fühlt sich hin- und hergerissen, sie glorifiziert das Arbeiten, aber die konkrete Arbeitstätigkeit zwingt sie unter das knausrige Regime der Bilanzbuchhaltung. Selbst der einzelne Mensch tut sich schwer, sich mit sich zu einigen, mit welchen Erwartungen er/ sie die Arbeit angeht: Als „Scheißjob“, für den man nur ein Minimum an Zeit und Energie aufwenden will, oder als „Traumjob“, der als Karriereleiter dient, ja als Identitätsstifter taugt, für den man Tag und Nacht da ist.

Reiche, Fleißige, Bettler und Diebe

Über seine Arbeitskraft selbst verfügen zu können, sich aus feudaler Knechtschaft befreit zu haben, war Voraussetzung dafür, zum bürgerlichen Individuum zu werden, das sich um sein Leben und seine „Lebensmittel“ selbst kümmern darf und muss. Da Selbstversorgung durch Eigenarbeit nur in seltenen Ausnahmefällen realisierbar ist, bleiben dem Individuum vier Optionen, seine soziale Existenz zu sichern. Erstens Reichtum. Dem Reichen wird die Welt zur Shopping Mall, mit dem großen Geld auf dem Konto lassen sich Arbeitsleistungen anderer Leute einkaufen. Zweitens eigene Arbeitsleistungen, sofern sie genügend Geld einbringen, die benötigten Güter und Dienstleistungen zu bezahlen. Drittens Hilfe. Familiäre, wohltätige und staatliche Unterstützung sind die häufigsten Wege, jenseits von Reichtum oder eigener Arbeitsleistung an Geld zu kommen. Betrug, Diebstahl, Raub sind als vierte Option sozialer Existenzsicherung nicht zu unterschätzen. Allein die Zahl der E-Mails, die täglich in betrügerischer Absicht verschickt werden, scheint enorm zu sein.

Um jede der vier Optionen ranken sich besondere große Erzählungen und eine Menge Meinungsverschiedenheiten. Konzentrieren wir uns auf zweitens, die eigene Arbeitsleistung. Sie gilt als Normal- und Idealfall zugleich und kommt in den zwei Varianten abhängige und selbständige vor. Beide sind Kapitel für sich, die jedoch nicht geschrieben werden können, ohne die Unterwerfung der Arbeit unter die Ökonomie zu bedenken.

Zeitgenossen kennen es nicht anders, aber historisch war es etwas aufregend Neues: Wirtschaftlichkeit, also die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag der Arbeit, wird in der Moderne von einem Nebenaspekt zur Hauptsache. Die Idee, Geld auszugeben, um mehr Geld einzunehmen, tritt ihren Siegeszug an. Diese Idee hatte dem alten Geldverleiher seinen schlechten Ruf eingebracht, jetzt gereicht sie dem Fabrikanten zur Ehre, weil er die Geldvermehrung über Arbeitsleistungen laufen lässt und auf diese Weise erstens Gebrauchsgüter, zweitens Arbeitsplätze anbietet. Da Fabrikanten und ihre postmodernen Varianten ihrerseits dringend und in großem Umfang Geldverleiher brauchen, haben wir jetzt beides: Unternehmen und Banken.

Verzweifelte Kapitalismuskritiker

Kapital, sprich Geld, das zum primären Zweck seiner Verwertung, soll heißen: Vermehrung, ausgegeben wird, steigt zu einer gesellschaftlichen Schlüsselgröße auf. Von ihr, vom Kapital hängen sowohl die Versorgung mit Gütern als auch die Chance, bezahlte Arbeitsleistungen zu erbringen, in wachsendem Maße ab. Die Verzweiflung der Kapitalismuskritiker über ihre mangelhafte gesellschaftspolitische Resonanz wurzelt hier: Hat das Kapital die Regie über die Arbeit einmal übernommen, hängen eben auch Güterversorgung und Arbeitsplätze von seinen Entscheidungen ab und es tritt als Garant von Wohlstand und Arbeitsmöglichkeiten auf: Wir sind die Guten, die für volle Regale und Fortschritt sorgen.

Der Arbeitsprozess gerät dabei jedoch in das Hamsterrad eines Verwertungsprozesses, der kein Ende kennt, weil es für das Eigentum an Geld keine sinnvolle Obergrenze gibt, wie seit Dagobert Duck alle wissen. Gesellschaftlich entsteht das Phänomen der Arbeit ohne Ende. Deren Gelingen hängt natürlich davon ab, dass es Leute gibt, die etwas kaufen wollen und können. Das Wollen befördert die Werbung, das Können erleichtern die Schulden. Individuell wird millionenfach das abrupte Ende der eigenen Arbeitsmöglichkeit erlebt. Denn der wirtschaftliche Verwertungsprozess macht mit der Arbeitsleistung, was er braucht. Er schafft nicht nur einzelne Arbeitsplätze ab, sondern ganze Berufszweige, verlagert Arbeitsplätze, verlangt nach neuen Qualifikationen. Wenn McKinsey, laut Spiegel-Online, dem Musterknaben Bayern bescheinigt, 40 Prozent der Jobs im Freistaat befänden sich aufgrund der Digitalisierung und weiterer Strukturumbrüche in einer „Gefährdungszone“, dann kann man das als typisches Consulting-Kassandrageschrei abtun. Es erinnert aber daran, wie viel Arbeit es macht, Leute (wieder) in Arbeit zu bringen, was an Beratung, Qualifizierung, Vermittlung, Beschäftigungssicherung, Wiedereingliederung tagein tagaus geleistet wird.

Vom Arbeits-, Tarif- und Sozialrecht bis hin zum Sozialstaat wurde, mit beachtlichen Unterschieden von Land zu Land, ein umfassendes Regelwerk durchgesetzt, das für die Einzelnen die Chancen verbessert, ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen. Der Zugang in solche „Normalarbeitsverhältnisse“ – Frauen wird er bis heute schwerer gemacht als Männern – bietet ein Stück sozialer Sicherheit und je nach beruflichem Status ein ordentliches Entgelt, das nicht reich, aber auch nicht arm macht. Auf einem stabilen sozialen Frieden ruht dieses Regelwerk nicht, weil der ökonomische Konkurrenzkampf um Markt- und Gewinnanteile darin je nach Konfliktlage „Wettbewerbsnachteile“, „Sozialschranken“, „soziale Hängematten“ sieht, die es um- und abzubauen gelte. Eine solche Phase des Abbaus, in Deutschland politisch wesentlich mitgestaltet von der rot-grünen Regierung mit ihrer „Agenda 2010“, hat zur Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse und eines Niedriglohn-Sektors geführt, dessen Beschäftigte – überwiegend Frauen – arm trotz Arbeitsleistung sind.

Erosion des Normalarbeitsverhältnisses

Das „Normalarbeitsverhältnis“ franst derzeit nach unten und oben aus, die Wirtschaft pendelt stärker als je zuvor zwischen Extremen. Das macht die Einschätzung schwierig, was gegenwärtig mit der Arbeit und den Arbeitenden passiert: Einerseits bleibt es ökonomisch rational, die Arbeitskraft abzuwerten, je billiger, desto besser, sie sogar abzuschaffen, weg zu rationalisieren; andererseits macht es wirtschaftlich zunehmend Sinn, die Arbeitskräfte umfassend zu vereinnahmen, ihre Zeit, ihre Kompetenzen, ihre Motivation, ihre Kreativität so weit wie möglich auszuschöpfen.

Lohnstandards zu senken und soziale Rechte wieder abzuschaffen, ist schwieriger, als Ansprüche derer, die die Arbeit machen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mit dem „Crowdworker“ ist eine Arbeitskraft auf den Plan getreten, der die alten Tarifrechte nicht weggenommen werden müssen, sie haben noch gar keine – und lassen sich dafür als „digitale Bohème“ feiern. Oder sind sie doch nur das Online-Proletariat?

Large-scale industry concentrates in one place a crowd of people unknown to one another. Competition divides their interests”, schrieb Karl Marx im „Elend der Philosophie”2. „Arbeiter verlassen die Lumiere-Werke“ ist der Titel des historischen Kurzfilms, der eindrucksvoll zeigt, wie die Menge unbekannter Leute dem Ort den Rücken kehrt, der sie zusammengebracht hat.3 Crowdworker haben den Kommunikationsraum Internet, einen lokalen Ort, der sie zusammenführt, haben sie nicht. Sie konkurrieren auch nicht um Arbeitsplätze, sondern um einzelne Arbeitsaufträge. Der unbefristete Arbeitskontrakt, vielfach vom befristeten abgelöst, verwandelt sich in den punktuellen Arbeitskontakt. Wie viel Befreiung, wie große Chancen für ein selbstbestimmtes Leben, das eben gerade kein bloßes Arbeitsleben ist, stecken darin?

Am anderen Ende versammeln sich die Burnout-Kandidaten, deren Gedanken, Worte und Werke die Organisation, in der sie arbeiten, zu verlassen nicht in der Lage sind. Sie nennen es Verantwortung, aber es ist Vereinnahmung; und dabei ist nicht immer leicht zu entscheiden, wie sehr sie gezogen wurden und wie willig sie gesunken sind. Klar ist: Weil ihre Umwelt für viele Unternehmen zu komplex geworden ist für die alten zentralen Steuerungs- und Kontrollpraktiken, müssen sie Entscheidungen dezentralisieren, „Vertrauensarbeit“ einführen, Zielvereinbarungen statt Schrittfolgen vorgeben. Diese Öffnung für eigene Entscheidungen der Beschäftigten birgt das Risiko, dass diese auf die Idee kommen könnten, andere als reine Wirtschaftsinteressen zur Geltung zu bringen. Deshalb brauchen die Unternehmen Mitarbeiter, die uneingeschränkt loyal, dem wirtschaftlichen Erfolg, also der Kapitalverwertung, sprich: der Gewinnsteigerung, voll verpflichtet sind. Was waren das für komische Zeiten, als man Ausbeutung als Zumutung empfand. Ist Selbstausbeutung die zeitgemäße Form der Selbstbestimmung?

 

  • 1 Benner, Christiane (Hrsg.) (2014): Crowd Work – zurück in die Zukunft. Frankfurt/M: Bund Verlag Hoffmann, Reiner/ Bogedan, Claudia (Hrsg.) (2015): Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen – Grenzen setzen. Frankfurt/M.: Campus
  • 2 Zit. n. Schwemmle, Michael (2014): Isolierte Parzellenbauern? Solidarische Arbeiter? Fragen zu einer kollektiven Identität der Crowd. In: Welf Schröter, Identität in der Virtualität. Einblicke in neue Arbeitswelten und „Industrie 4.0“, Mössingen-Talheim: talheimer Verlag, S. 177
  • 3 Kürzlich wieder gezeigt in der Ausstellung des Berliner Hauses der Kulturen der Welt „Eine Einstellung zur Arbeit

 


Gerade erschienen: Hans-Jürgen Arlt/Rainer Zech: Arbeit und Muße. Ein Plädoyer für den Abschied vom Arbeitskult. Wiesbaden 2015: Springer.

 


Wieviel Ideologie steckt in der Vorstellung, dass jede zweckgerichtete Tätigkeit Arbeit sei?  Wie verändert sich die Arbeitswelt mit der Digitalisierung? Welche Rolle spielt das Individuum angesichts globalisierter Produktionsströme? Wie verändert sich die Kommunikation über Arbeit, und wie die Kommunikation, wenn sie zur Arbeit wird? Beiträge zu diesen und anderen Aspekten von Arbeit finden Sie in im Carta-Dossier: “Ausbeutung 4.0: Was heißt und zu welchem Ende leistet man Arbeit?”.

 


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