#G20

Krisen-Metaphorik nach dem G20-Gipfel: Im Nebel sieht man Gespenster besonders gut

von , 6.4.09

Dieser Text ist der Beginn einer Serie über ein anderes Krisenwissen, darüber wo und wie es in aktuellen Krisen-Texten, -Bildern und -Theorien auftaucht – und dass es, zusammen genommen, Marx’ Krisentheorie verblüffend ähnlich sieht.

Im Februar dieses Jahres reiste Marcus Jauer für das Feuilleton der FAZ eine Woche lang durch Deutschland, um mit für Prognosen zuständigen Beratern und Statistikern (in Institutionen wie dem Statistischen Bundesamt) über ihre Einschätzung des weiteren Verlaufs der Krise zu sprechen. Und kehrte mit einem Sack voller höchst bedrohlicher Krisen-Sinnbilder zurück. Eines, auf das ihn selbst bestimmte der geführten Gespräche gebracht hatten – Gespräche über eine Menge Zahlen, die zwar Schlimmstes befürchten lassen, von deren ‘realen Auswirkungen’ aber man bislang noch nicht das Geringste sieht – geht so:

“Als es im Dezember 2004 vor Sumatra zu einem schweren unterseeischen Beben kam, zog sich das Meer zunächst weit von den Küsten zurück. Es entstand ein Moment der Stille, in dem Touristen, die das Schauspiel von ihren Hotelterrassen aus bemerkt hatten, an den Strand liefen, fotografierten und die Muscheln ansahen, die das Wasser plötzlich freigegeben hatte, bevor es dann ebenso plötzlich zurückkam.”

Bei gleich mehreren von Jauers Gesprächspartnern aber erwies sich dann vor allem die ‘Fahrt durch den Nebel’ als das Bild der Wahl sozusagen. Am deutlichsten bei Jens Weidmann, dem Wirtschaftsberater der Kanzlerin:

“Wenn er ein Bild geben müsste davon, wie er sich das Wesen der Wirtschaftskrise vorstellt, die auf die Krise des Finanzmarktes folgte, ist es das der Nebelwand. Von einem Moment auf den anderen fällt die Orientierung schwer, es ist unklar, wo die Gefahren liegen, jeder stoppt die Maschinen, alles kommt zum Erliegen. Selbst wer sich langsam vortastet, erkennt neue Hindernisse oft erst, wenn sie direkt vor seinen Augen auftauchen. Das ist das Bild, in dem Jens Weidmann agiert.”

Ein anderer drückte es etwas diplomatischer aus: “Wir fahren gegenwärtig stärker auf Sicht als in normalen Zeiten, das muss man zugeben.” Das war Jens Ulbrich, der Leiter des ‘Zentralbereichs Volkswirtschaft’ bei der Bundesbank – dessen Abteilung ihre Prognose von Ende 2008 hinsichtlich der 2009 zu erwartenden Zunahme der Arbeitslosenzahlen damals gerade deutlich nach oben korrigieren musste.

Dass es während der zwei Tage des G-20-Gipfel in London dagegen nun so schien, als habe der Nebel sich unversehens gelichtet, ja spurlos verzogen (und gerade so außerdem, als sei er nie da gewesen), dazu hat natürlich auch das Wetter nicht unerheblich beigetragen – dieser plötzliche und bruchlose Übergang von Winter zu strahlendem Sommer (und nicht nur in London, sondern auch an vielen Orten, an denen man die Bilder von dort verfolgte).

Vor allem aber schien es eben plötzlich überall (und in London selbst: drinnen wie draußen) nur noch das Problem zu geben, dass man sich zwischen verschiedenen nun ‘dringend’, ‘sofort’ und ‘unbedingt’ nötigen Maßnahmen und Reaktionen zu entscheiden hätte. Hinsichtlich der zu lösenden Probleme dagegen wurde überall längst erreichte und vollendete Klarheit suggeriert, und präsentierte sich jeder als mit stupender Gewissheit ausgestattet. Kein Gedanke dementsprechend beispielsweise auch mehr daran, dass hohes Tempo vielleicht ein Problem darstellen könnte – vor allem aber daran, dass der Nebel sich ja in Wahrheit (um im Bild zu bleiben) gerade vielmehr immer noch weiter über den Planeten auszudehnen, und besagte ‘Nebelwand’ jeden Morgen unversehens an einem neuen, weiteren (und bis dato als ‘ungefährdet’ geltenden) Ort aufzutauchen scheint.

Gemessen am Nebel-Bild muss der Druck auf die Exekutivgewalten, sich stets selbstgewiss zu präsentieren, und rasch zu handeln, überhaupt als die eigentlich größte und fatalste Risikoquellen in Krisen gelten – da dieser Handlungsdruck ihrer Logik ja zudem dummerweise auch noch inhärent ist. In Zeiten des Aufschwungs jedenfalls vermag hastige Wirtschaftspolitik diesen maximal ‘abzuwürgen’. In Krisenzeiten dagegen vermag sie die Gesellschaft schlimmstenfalls bis in Zustände wie die der 1920/30-Krisenjahre hinein zu führen – oder sogar noch darüber hinaus (was man auch dann nicht ausschließen kann, wenn man kein Anhänger marxistischer ‘Zusammenbruchstheorie’ ist).

Auf der anderen Seite hat nun allerdings auch das Nebel-Bild natürlich so seine Tücken, und hat auch die – scheinbar so viel aufrichtigere und verantwortungsbewusstere – Nebel-Rhetorik so ihre Haken.

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Strategische Produktion von Gipfel-Bildern I (Foto: Downing Street)

Zum einen scheint das Nebel-Bild zwar, zunächst einmal, eines der klügsten für das zu sein, was allen politischen Forderungen, Entscheidungen und Maßnahmen in Krisenzeiten – eigentlich – stets vorausgehen sollte: eine Idee davon, wie man in ihnen – überhaupt noch, und wenigstens halbwegs – sinnvoll, rational und verantwortlich handeln, vorgehen, entscheiden kann. Aus ihm also könnte man zumindest auch: sinnvolle Handlungsmaximen ableiten. Und da solche in Krisenzeiten (aufgrund der skizzierten Unzahl an Ungewissheiten) Mangelware sind – kommt solchen Bildern in der aktuellen Lage dann auch eine ziemlich zentrale Bedeutung zu. Und hinzu kommt dann außerdem auch noch, dass das Nebel-Bild – richtig eingesetzt – offenbar erlaubt, diese Lage und ihre spezifischen Probleme und Gefahren (und, nicht zuletzt: ihre Absurditäten) sehr anschaulich zu durchdenken.

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Strategische Produktion von Gipfel-Bildern II (Foto: AleReportage)

Das alles aber ist, wie gesagt, nur die eine Seite. Auf der anderen Seite nämlich ersparen solche Bilder es einem oft auch einfach nur, diese Probleme, Gefahren und Absurditäten ausdrücklich (und genau) zu benennen. Das Wissen um sie ist dann sozusagen da, und zugleich nicht da. So kann man sich des Nebel-Bilds zum Beispiel bedienen, und zugleich nicht sagen, dass es alle Handlungsoptionen (oder genauer: alle drei Handlungsoptionen, die es demnach in Krisenzeiten gibt) als letztlich riskant und gefährlich erweist – und es insofern eigentlich und vor allem: auf ein unlösbares Dilemma hinweist. Denn einfach gesagt: Wenn niemand mehr durchblickt, dann wird eben alles zu einem unkalkulierbaren Risiko, und alle und alles (wenn auch ganz ungewollt) zu potentiellen gegenseitigen ‘Kollisionsobjekten’.

Nimmt man das Nebel-Bild ernst, so kann demnach jedenfalls nicht nur (1) jede Wahl einer bestimmten ‘Fahrtrichtung’ (jede Entscheidung für einen bestimmten Kurs, eine bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahme) sich – sehr bald oder nach einer gewissen Zeit – als eine herausstellen, die ganz unvorhergesehene und vor allem ganz fatale Folgen hat (insofern sie/man unversehens, und heftig, mit etwas anderem kollidiert). Genau besehen lässt diese Gefahr sich im undurchsichtigen Krisen-Nebel dann nämlich vielmehr auch durch (2) langsames Fahren in Wahrheit nicht wirklich sicher ausschließen, also: auf ein ungefährliches Maß reduzieren. Außer vielleicht, man führe wirklich so langsam und vorsichtig (nähme so geringfügige wirtschaftspolitische Eingriffe vor), dass man dann aber eigentlich auch – gleich stehen bleiben kann (was unter diesen Umständen insofern also ohnehin als die zunächst klügste und gefahrenärmste Option erscheint).

Gibt es das behauptete Dilemma also vielleicht auch gar nicht? Läuft das Bild nicht – schlicht und einfach – auf diese Option hinaus: alle Motoren stoppen, das Schiff (oder den Wagen) anhalten, also jedenfalls (3) das Fahren überhaupt einstellen? (Bemerkenswerterweise gibt dies im Übrigen auch nicht nur die marktliberale Position exakt wieder. Auch aus Marx’ Sicht spricht vieles für diese Option. Am Nebel selbst jedenfalls, am eigentlichen ‘Krisenvorgang’ also sozusagen, lässt sich demnach nämlich ohnehin nichts ändern: Die in der überhitzten Konjunktur zuletzt aufgebauten ‘Überkapazitäten’ müssen – so oder so – abgebaut werden. Der Nebel selbst kann sich nur selbst auflösen.)

Tatsächlich aber ist diese Option nicht nur in der Realität schwer durchzuhalten, und wird desto unrealistischer, je länger der Nebel andauert – wächst doch beständig der Druck, doch noch irgendwie zu versuchen, selbst einen Weg aus dem Nebel zu finden, ihm aus eigener Kraft zu entkommen (und man kann gerade wieder zuschauen, wie unter diesem Druck dann auch Marktradikale immer wieder reihenweise einknicken). Entscheidend aber ist, dass man im Nebel eben auch als ‘stehendes Objekt’, und wenn man nichts tut, keineswegs außer Gefahr ist – denn es gibt nun einmal nicht nur ‘stehende Hindernisse’ im Nebel, auf die man unversehens stoßen kann, es können immer auch noch unversehens Kollisionsobjekte aus dem Nebel auftauchen: Man kann dann immer noch von anderen im Nebel umherirrenden Autos, Schiffen (und diese wiederum auch von Eisbergen – um es mal etwas weit zu treiben) etwa ‘getroffen’ werden.

Das englische ‘bump into’ (mit der Folge, irgendwohin ‘gestoßen’ und ‘gezogen’ zu werden, wo man nicht hin möchte) ist vielleicht hilfreicher, wenn man versucht, das entsprechende Problem im Bereich und im Maßstab des globalen Wirtschaftssystems wieder zu finden: So gibt es dort vor allem immer auch Länder und Schlüsselbranchen, die verspätet in die Krise geraten sowie umgekehrt auch solche, die früher wieder aus ihr herauskommen, oder es reagiert doch noch ein Land mit massivem Protektionismus – und in solchen Fällen droht dann (wenn man gar nichts tut) der jeweilige Rest der Weltwirtschaft noch einmal tiefer in die Krise hinein zu stürzen, einzelne ihrer Teile besonders tief hinein gezogen, oder auch ihr schon wieder prosperierender Teil wieder in sie zurück gestoßen zu werden. Es werden in der Krise eben immer auch schon die Karten für den nächsten Aufschwung neu gemischt und verteilt. Und es ist darum eben auch im Nebel alles weiterhin – obwohl niemand durchblickt, und es so riskant ist wie nie – in ständiger Bewegung, und drängt auch hier alles immer weiter; und erweist jeder Versuch ‘sich rauszuhalten’ sich insofern dann am Ende als ebenso riskant bis gefährlich wie alle anderen Optionen.

Solches (recht umfassende) Krisenwissen ist und bleibt in solchen Bildern zwar stets abgespeichert – wird aber oft (oder sogar in der Regel) gar nicht abgerufen, bleibt unausgesprochen – und ist dann (was die sich der Bilder Bedienenden angeht) bestenfalls noch implizit ‘mitgemeint’. Und nähme man als ‘Wirtschaftsberater’ sein eigenes Nebel-Bild wirklich ernst, so könnte man wohl auch gar nicht länger ‘Wirtschaftsberater’ sein.

Die eigentlich entscheidende Konsequenz und Folge, das eigentliche Problem, und das eigentlich Bedauerliche allerdings ist – und darum auch das, worauf die hiermit beginnende Serie vor allem zu reagieren versucht: Alles, was solche Bilder zum erwähnten ‘Durchdenken’ dessen beitragen könn(t)en, was Krisen des Kapitalismus tatsächlich bedeuten, und was sie sind und ausmacht – all das bleibt auf diese Weise dann nicht nur an solchen Stelle auf der Strecke, dieses Potential solcher Bilder bleibt vielmehr weit darüber hinaus, bleibt im Grunde regelmäßig unausgeschöpft.

Das jedenfalls ist – grob und kurz zusammengefasst – die Hintergrundidee der hiermit begonnenen Serie, in der (in lockerer Folge) einige Bilder aus dem Arsenal der heute verfügbaren ‘Krisen-Metaphorik’ einmal genauer betrachtet werden sollen; sowie auch eine Reihe von Thesen und Überlegungen, die man in aktuellen Texten zur Krise (in Zeitschriften, Blogs, Feuilletons) zwar häufig und immer wieder angespielt, angedeutet oder implizit (aber eben nur in dieser Weise) behandelt findet – und also nie einmal wirklich ausgeführt, wirklich ausformuliert, wirklich ‘zu Ende gedacht’.

Mit anderen Worten: Es geht eigentlich einfach nur darum, möglichst viel von jenem ‘impliziten Krisenwissen’ einmal zu explizieren und explizit auszuformulieren, das wir im Grunde wahrscheinlich alle miteinander teilen – das allerdings mitunter auch recht konkrete und weit reichende Schlussfolgerungen und Konsequenzen nahe legt, die erst so überhaupt sichtbar werden können, und die man sich jedenfalls auch erst so dann wirklich klar machen und deutlich vor Augen führen kann. Und insofern könnte man dann auch sagen: Es geht darum, es schwerer zu machen, diese möglichen Schlussfolgerungen und Konsequenzen zu übersehen und/oder zu ignorieren.

Und dann gibt es da schließlich auch noch einen letzten Punkt:

In Bildern wie dem von der plötzlich auftauchenden ‘Nebelwand’ – oder auch dem vom ‘sich plötzlich zurückziehenden Meer’ – suchen (beziehungsweise finden) offenbar sehr eindrückliche Erfahrung mit den widersinnigsten und irrationalsten Zügen des Kapitalismus eine Möglichkeit, sich auszudrücken. (Und so gibt es zum Meer-Bild etwa dann auch eine Parallel-Metaphorik bei Marx: demnach wiederholt die kapitalistische Entwicklung im Grunde nur, sich immer wieder abwechselnd – und man könnte wohl auch sagen: wie ein spastischer Muskel – ‘Überdehnung’ und dann ‘Kontraktion’). (Jedenfalls müsste man – angesichts der sozialen ‘Kollateralschäden’ von Rezessions- wie Prosperitätsphasen – mindestens sehr romantisch veranlagt sein, wollte man diesen Vorgang stattdessen in noch irgendwie positive Bilder fassen; also etwa als den unverzichtbaren ‘Herzschlag’ der Gesellschaft sich vorstellen, der sie am Leben hält…).

Außerdem kommt in den hier bislang genannten, tendenziell katastrophischen Bildern offenbar auch zum Ausdruck, dass die irrational-widersinnigen Züge des Kapitalismus nirgends so unmittelbar sichtbar und so überdeutlich fühlbar werden wie in und angesichts seiner Krisen – so dass man seinen Verstand schließlich deutlich einwenden hört, dass das alles doch langsam wirklich zu dumm und zu demütigend wird. Einem gesellschaftlichen Geschehen ausgeliefert zu sein, das einen so ohnmächtig und handlungsunfähig zurücklässt, das sich im Einzelnen so unberechenbar vollzieht, und zugleich im Ganzen so selbstgenügsam ‘abspult’, und vor allem auch in seiner Zerstörungskraft sich so (im Einzelnen unberechenbar wie im Ganzen zielsicher) auswirkt wie sonst nur die übelsten Naturkatastrophen – das kann doch nicht angehen. Das muss doch auch anders gehen, das muss sich doch nun wirklich irgendwie – besser hinkriegen lassen.

Tatsächlich kann der Verstand sich an und in diesem Punkt bekanntlich aber ja nur selten durchsetzen. Und als stumme Zeugen dieses Gedankens sowie dieser zweiten Demütigung (dass man den eigenen Verstand zum Schweigen bringen muss – weil dieser Gedanke sich ja angeblich nicht weiter zu verfolgen lohnt, als gefährlich gilt, oder was immer) bleiben dann eben nur – aber immerhin noch – diese Bilder übrig. Sie halten irgendwie zugleich präsent und auf Abstand, was den Gedanken ursprünglich mal ausgelöst hatte. Würde man sie wieder zum Sprechen bringen, und könnte sich an ihrem Beispiel entlang so also zugleich auch noch einmal klar machen, wie verbreitet dieser Gedanke, und vor allem: wie plausibel er halt auch einfach mal ist – so verschaffte ihm das mithin dann ja vielleicht zugleich auch noch jene berühmte zweite Chance (die bekanntlich jeder verdient).

Aber das bleibt letztlich natürlich jeder und jedem selbst überlassen.

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