##bytheendofseptember

Barack Obama und die “Bürde des weißen Mannes”

von , 21.8.14

Schon einmal etwas vom Südsudan gehört? Unter #bytheendofseptember macht die Welthungerhilfe auf eine bevorstehende Katastrophe aufmerksam. Jens Berger hat auf den Nachdenkseiten den Hintergrund erläutert. Kurz gesagt: Es ist die Unfähigkeit der beiden Konfliktparteien im Südsudan, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Berger weist zugleich auf die Verantwortung des Westens für die dortige Entwicklung hin.

Nun wird diese Katastrophe von den anderen Krisen medial in den Hintergrund gedrängt: Der Konflikt um die Ukraine, der Zerfall des Mittleren Ostens in Syrien und dem Irak, das Desaster in Gaza und Israel. Es braucht tatsächlich erst die Bilder von hungernden Kindern, um die sogenannte Weltgemeinschaft erneut auf den Plan zu rufen. Das wird aber nur funktionieren, falls nicht andere Katastrophen, etwa eine Ebola-Pandemie, die Aufmerksamkeit der Politik absorbieren sollten.

Der Südsudan ist aber ein Hinweis darauf, was sich in der Weltpolitik in den vergangenen Jahren verändert hat. Die Welt, bis vor kurzem noch als “globales Dorf” beschrieben, zerfällt mit dem Verlust ihres handelnden Zentrums namens USA.

Die Welthungerhilfe agiert in der gleichen Weise, wie es der Westen schon seit Jahrzehnten gemacht hat. Bei humanitären Katastrophen hat er eine Verantwortung für die Folgen zu übernehmen. In der Logik der “Neuen Kriege” war diese Form der Mitmenschlichkeit allerdings schon immer ambivalent zu betrachten. Die Katastrophenhilfe geriet zum Teil des politischen Kalküls ansonsten nicht kontrollierbarer Akteure. Die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen durch Warlords und andere Bürgerkriegsparteien musste sie nicht stören, wenn sie sicher sein konnten, dass die UN (und letztlich der Westen) zugunsten der geschundenen Bevölkerung intervenieren. Deren Geschäftsmodelle namens Krieg beruhten sogar bisweilen auf dieser Hilfe.

Der Nahost-Konflikt ist dafür das beste Beispiel.

Seit 1948 gibt es für die Palästinenser eine historisch einzigartige UN-Organisation, die nichts anderes macht, als sich um die Flüchtlinge (und heute um deren Nachkommen) des Krieges von 1948 zu kümmern. Die UNRWA garantiert die Versorgung der Zivilbevölkerung, sorgt nach einem Waffenstillstand für den Wiederaufbau der Infrastruktur und verhindert damit nur eins: Dass beide Konfliktparteien für die Folgen dieses permanenten Krieges verantwortlich zu machen sind.

Israel und die Hamas haben die Verantwortung dafür an die UN externalisiert. Ansonsten wäre dieser Krieg auch nicht mehr zu führen. Oder wollten die Hamas und die Regierung in Israel ernsthaft ein Massensterben in Gaza akzeptieren, wenn diese Hilfe in Zukunft ausbliebe? Sie müssen sich diese Frage nicht stellen, und führen daher einen Krieg, ohne dass dieser eine politische Entscheidung bringt. Der Krieg wird zum Dauerzustand und der Ausnahmezustand zur Regel. Die humanitäre Hilfe sorgt dafür, dass die eigentliche Katastrophe verhindert wird. Aber in der zynischen Logik der handelnden Akteure ist sie zugleich die Voraussetzung für die Fortsetzung des Krieges. Da sollte man sich nichts vormachen.

Die Welthungerhilfe orientiert sich in ihrer Kampagne zum Südsudan an dieser Logik der UNRWA. Sie bestimmt bis heute das westliche Selbstverständnis. Der Westen – und damit letztlich die USA – hat zwar als Hegemonialmacht imperialistische Interessen. Er sieht sich aber gleichzeitig in der Verantwortung für das, was auf dieser Welt passiert. Es ist nichts anderes als Kiplings “Bürde des weißen Mannes”, die niemand anderes als der verstorbene Peter Scholl-Latour so unübertroffen schildern konnte. Nämlich einerseits, der Welt die Segnungen der westlichen Zivilisation bringen zu wollen, sich aber zugleich dem permanenten Vorwurf der Heuchelei auszusetzen. Damit verbunden war der Anspruch des Westens, nach dem Ende der Sowjetunion als Ordnungsmacht die Stabilität des internationalen Systems garantieren zu müssen.

Damit ist es jetzt vorbei. Scholl-Latour ahnte das schon früh, im Gegensatz zu vielen anderen. Er beschrieb jene kulturellen Fliehkräfte im internationalen System, die sich der westlichen Logik widersetzen. Präsident Obama wird für seine Schwäche gescholten, aber er kann diesen Zerfall nur noch zur Kenntnis nehmen. Er führt schon längst einen Mehrfrontenkrieg, den die USA nicht gewinnen können. Gegen Russland im Konflikt um die Ukraine, im Fernen Osten gegen China mit verunsicherten Verbündeten wie Japan, im Mittleren Osten gegen die Zerstörung der bisherigen Staatenordnung im Irak und in Syrien. Deren Regionalmächte wie die Türkei, Saudi-Arabien oder Iran agieren schon längst außerhalb der Kontrolle Washingtons.

Der wie eine Monstranz vor sich hergetragene Anspruch an Obama, er müsse im Irak, in Syrien, im Nahen Osten (und womöglich sehr schnell im Fernen Osten) handeln, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Was sollen die USA machen? Den Irak und Syrien besetzen? Im Südsudan intervenieren? Israel und die Palästinenser nach Jahrzehnten gescheiterter Bemühungen zu einem Kompromiss zwingen?

Jeder erwartet von den USA, die Verantwortung für die Stabilität des internationalen Systems zu übernehmen. Aber gleichzeitig erklärt niemand, wie Obama sie durchsetzen soll. Mit Hilfe der UN? Obwohl diese nur handlungsfähig sein kann, wenn sich die Großmächte verständigen? Da müssen sich vor allem die Europäer fragen, wie sinnvoll es ist, zum gleichen Zeitpunkt einen Großkonflikt mit Russland wegen der Ukraine zu riskieren. Aber dort besteht ja laut Wolfgang Ischinger neuerdings Hoffnung auf eine Finnlandisierung.

Den realpolitischen Zynismus, etwa nach der Machtübernahme des Militärs in Ägypten, will sich auch niemand zu eigen machen. Stattdessen moralisierendes Gerede über undemokratische Verhältnisse in allen möglichen Regionen dieser Erde: Von Putins Russland über den Iran oder China bis nach Saudi-Arabien. Obama, so grotesk es klingt, hat Kiplings “Bürde des weißen Mannes” zu tragen, während ihm gleichzeitig in Ferguson der Alltagsrassismus im eigenen Land vor die Füße fällt.

Aber selbst ein Realist wird die Stabilität heute nicht mehr garantieren können. Im Südsudan müssen die Konfliktparteien selbst die Katastrophe #bytheendofseptember verhindern. Wer soll es sonst tun? Die Welthungerhilfe? Die Zukunft des Iraks oder Syriens wird nicht mehr in Washington entschieden, wie Kommentatoren in der Tradition Kiplings meinen:
 

“Langfristig, so eine Vermutung, wolle Assad demonstrieren, dass er und Amerika auf einer Seite kämpfen gegen den Islamischen Staat. Die Frage ist, ob Amerika darauf hereinfällt.”

 
Diese Frage wird sich Amerika nicht mehr stellen, sondern nur noch die, welche existentiellen Interessen berührt sein sollen, wenn sie nicht auf Assad “hereinfallen sollten”. Für die Europäer sieht das anders aus: Sie haben keinen Ozean zwischen sich und dem Nahen und Mittleren Osten. Die Flüchtlinge und Opfer der ethnischen Säuberungen (wie Yeziden und Christen im Irak), wollen nach Europa. Man wird sehen, wie die Europäer darauf reagieren.

Die “Bürde des weißen Mannes” könnte in Zukunft somit darin bestehen, sich nach dem Zerfall des weltpolitischen Zentrums USA seine Machtlosigkeit einzugestehen. Nicht nur #bytheendofseptember. Peter Scholl-Latour wusste das übrigens.

 

Updates

14:15 Uhr

Die Ermordung des amerikanischen Journalisten James Foley durch die ISIS erzeugt eine Debatte, die dem Kalkül der sunnitischen Dschihadisten wider Willen entgegenkommt.

Die von ISIS zu verantwortenden Massaker sind Teil ihrer Strategie einer ethnischen Säuberung der von ihnen kontrollierten Gebiete. Dem dient ihre Medienstrategie der Verbreitung von Angst und Terror. Das ist historisch keineswegs neu. Allerdings ist es jetzt sinnlos, die ISIS als das zu beschreiben, was sie sind: Ein Zivilisationsbruch.

Der Krieg war schon immer ein Bruch mit den im Frieden geltenden Normen zivilisierter Gesellschaften. ISIS ist in der Hinsicht keine Ausnahme. Dafür braucht man auch keinen Rückgriff auf die Frühzeit des Islam, wie bei Leon de Winter. Man kommuniziert damit nur das, was ISIS zu erreichen beabsichtigt: Sich als Vertreter des wahren Islam zu verstehen. Es gibt wohl kein besseres Argument für ISIS, als mit der Dynamik der islamischen Frühgeschichte verglichen zu werden. Dazu gehört auch die nichts beantwortende Kriegserklärung von Ulf Poschardt an ISIS.

Der Westen führt schon längst mit Hilfe der Peshmerga Krieg gegen die ISIS. Nur hat er trotzdem keine Antwort auf das Kriegsziel gefunden, das er damit erreichen will. Ein Kompromiss in Syrien mit Assad? Eine eigener Kurdenstaat gegen die Türkei? Will de Winter jetzt den Ukraine-Konflikt anders betrachten als noch vor wenigen Wochen? Da hat er das Böse bei den Separatisten gefunden.

Diese Form der Kriegserklärung gegen einen Zivilisationsfeind führt zu nichts, außer zur Gefahr, sie auf die Innenpolitik zu übertragen. ISIS zum Monster aufzubauen, nützt also nur der Gruppe selbst. Selbst wenn das Video über die Enthauptung Foleys mit guten Gründen aus den sozialen Netzwerken verbannt wird. Mit der berechtigten Empörung und dem nachvollziehbaren Entsetzen kann man keine Politik machen: Die Strategie der ISIS setzt vor allem auf den Verlust der kalten Rationalität im Westen, nicht auf die Propaganda in den sozialen Netzwerken. Der eigentliche Zivilisationsbruch bedurfte übrigens genau dieser Rationalität. Das sollte man nicht vergessen.
 
15:15 Uhr

Poroschenkos schlimme Lage. Niemand muss de jure die Krim aufgeben. Das weiß Putin auch, so nehme ich einmal an.
 
Crosspost von Wiesaussieht

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