#Belgien

Burkaverbot: Grundrechtsschutz auf Proportionalitätsfläschchen gezogen

von , 3.7.14

Wussten Sie, dass der Staat, um Ihnen diesen Anspruch zu erfüllen, andere Dinge strafrechtlich verbieten darf? Selbst wenn es sich dabei um Dinge handelt, die in Freiheit tun zu dürfen Teil des klassischen, in unserer Verfassungstradition tief verankerten Grundrechtebestands ist?

Doch, doch. Das haben Sie. So jedenfalls die Logik, nach der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein Urteil über das französische Burkaverbot gefällt hat.

In Frankreich ist seit 2011 verboten, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu verhüllen (in Belgien ebenfalls). Wer es doch tut, macht sich strafbar. Nominell gilt das Verbot für jeden, ob Mann oder Frau; ob Schal, Sturmhaube oder Chirurgenmaske. Aber man macht sicher keinen Fehler, wenn man vermutet, dass es faktisch hier nur um eine ganz konkrete Bevölkerungsgruppe geht: islamische Frauen, die Burka bzw. Niqab tragen.

Was ich politisch davon halte, ist hier und hier zu finden.

Verletzt das Verbot das Recht auf Privatleben (Art. 8) und das Recht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK)? Das tut es nicht, finden 15 der 17 Mitglieder der Großen Kammer. Anderer Meinung sind zwei Frauen, nämlich die schwedische Richterin Helena Jäderblom und die deutsche Richterin Angelika Nußberger.

Wobei auch die Richtermehrheit von den meisten Gründen, mit denen der französische Gesetzgeber seinen strafbewehrten Dress Code für den öffentlichen Raum rechtfertigt, nicht viel übrig lässt. Das gilt insbesondere für das Argument, es sei nötig, die betroffenen Frauen in ihrer Religionsfreiheit einzuschränken, um Frauen vor Diskriminierung zu schützen. Das würde darauf hinauslaufen, Grundrechtsträger davor zu schützen, dass sie von ihren Grundrechten Gebrauch machen.

Auch die “Menschenwürde” leuchtet dem Gerichtshof als Rechtfertigung für das Verbot nicht ein. Diese Passage ist es wert wörtlich zitiert zu werden:
 

The Court is aware that the clothing in question is perceived as strange by many of those who observe it. It would point out, however, that it is the expression of a cultural identity which contributes to the pluralism that is inherent in democracy.

It notes in this connection the variability of the notions of virtuousness and decency that are applied to the uncovering of the human body. Moreover, it does not have any evidence capable of leading it to consider that women who wear the full-face veil seek to express a form of contempt against those they encounter or otherwise to offend against the dignity of others.

 
Die “öffentliche Sicherheit” – schließlich sind wir ja alle potenzielle Verbrecher und müssen daher immer und überall unser Gesicht zur technischen face recognition bereit halten – ist für den Gerichtshof im Prinzip schon ein Argument, aber nicht ohne Bezug auf ein greifbares Risiko; als “blanket ban” findet der Gerichtshof das Verbot unverhältnismäßig.

Somit bleibt eigentlich nur noch ein einziger Faden übrig, an dem das Gesetz hängt, und diesen Faden weigert sich die Richtermehrheit in der Tat abzuschneiden: Gerechtfertigt ist der Eingriff in die Religionsfreiheit der betroffenen Frauen durch das eingangs erwähnte Recht anderer, in einem “das Zusammenleben erleichternden Raum der Begegnung” zu leben (to live in a space of socialisation which makes living together easier).

Was ist das denn für ein Recht, und wo kommt das plötzlich her?

Mir scheint, das erklärt sich erst durch das französische Konzept des vivre ensemble – eigentlich ein republikanisches Konzept und kein liberales, was erklärt, warum mir dieses angebliche “Recht” hier so deplaziert vorkommt. Nach diesem Konzept ist es das Individuum der Gesellschaft schuldig, sein Gesicht zu zeigen – das Gesicht als den Teil des Körpers, mit dem man sich identifiziert, mit dem man miteinander kommuniziert, über das wir alle miteinander zusammenhängen und ein gemeinsames Ganzes bilden. Das dürfen wir einander nicht entziehen.

Das ist es gerade, was die Burka und den Niqab so gruselig macht, und zwar gerade für laizistische Republikaner in Frankreich und anderswo: die Wahrnehmung dieser verhüllten Frauen als radikal verschlossen, als Gestalten, die mit allen um sie herum, die nicht zu ihrer Familie gehören, nichts zu tun haben, nicht mit ihnen kommunizieren, nicht mit ihnen zusammenleben wollen.

Schön und gut. Aber erstens ist dieses Unbehagen noch lange kein Grund, diesen Frauen die Polizei auf den Hals zu hetzen. Und selbst wenn es einer wäre – die Art, wie die Richtermehrheit ihr Ergebnis konstruiert, finde ich mehr als schräg.

Zum ersten Punkt sagen die beiden Minderheitsrichterinnen in ihrer Dissenting Opinion alles, was dazu gesagt werden muss:
 

It can hardly be argued that an individual has a right to enter into contact with other people, in public places, against their will. Otherwise such a right would have to be accompanied by a corresponding obligation. This would be incompatible with the spirit of the Convention.

While communication is admittedly essential for life in society, the right to respect for private life also comprises the right not to communicate and not to enter into contact with others in public places – the right to be an outsider.

 
Zum zweiten Punkt: Selbst wenn man diese vivre-ensemble-Ideologie so super findet, wie das die Richtermehrheit offenbar tut, muss man daraus noch lange kein kollidierendes Grundrecht (“rights and freedoms of others”) machen, das sich gegen das Recht auf Privatsphäre und auf Religionsfreiheit der betroffenen Frauen in Stellung bringen lässt.

Die Straßburger Richter haben vom Bundesverfassungsgericht gelernt, den Schutzbereich der Grundrechte bis auf Atomstärke auszuwalzen und staatliche Freiheitseingriffe statt dessen über die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu regulieren. Diese Lektion treiben sie hier ins totale Extrem.

Ein solchermaßen verflüssigter und auf Proportionalitätsfläschchen gezogener Grundrechtsschutz kann – wie dieses Urteil zeigt – zu jedem beliebigen Ergebnis zusammengeschüttet werden, das der Kammermehrheit gerade einleuchtend erscheint. Irgendein Fraternité-Schnullerkram, den Sarkozys Minions sich 2009 zurechtgeflunkert haben, reicht jetzt schon aus, um meine Privatsphäre und meine Religionsfreiheit wegzuproportionalisieren? Na, das stärkt jedenfalls mein Vertrauen, Zuflucht in Straßburg finden zu können, wenn es wirklich hart auf hart kommt, nicht gerade.

Apropos Frankreich und die Religionsfreiheit: Letzte Woche hat der Cour de Cassation einem privaten Kindergarten Recht gegeben, der unter Berufung auf das Prinzip der laïcité eine Angestellte gefeuert hatte, weil diese mit einem islamischen Kopftuch aus dem Schwangerschaftsurlaub wiederkam. Dem Fall werden wir sicher auch noch in Straßburg wiederbegegnen.

Und noch eine weitere Entscheidung aus der letzten Woche gehört in diesem Zusammenhang hier erwähnt: Nach einem Urteil des englischen Court of Appeal ist das französische Burkaverbot kein Hinderungsgrund, islamische Asylbewerberinnen nach Frankreich abzuschieben.
 
Crosspost vom Verfassungsblog. Der Text steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND

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