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Der Social-Media-Redakteur – das überschätzte Wesen?

von , 22.6.14

Die Homepage ist tot oder stirbt zumindest. Das ist das Ergebnis des New York Times Innovation Report. Jetzt bleibt die Frage, wie Journalisten und Redaktionen damit umgehen. Wird der Social-Media-Redakteur damit zur zentralen Person in jeder Redaktion, weil immer mehr Traffic über Facebook und Co. kommen und die Gewichtung der Artikel auf der Homepage an Bedeutung verliert?

Das ist die These meines WSJ.de-Kollegen Jörgen Camrath, der damit selbst einen Social-Media-Erfolg landete. Social-Media-Redakteure seien „Community-Editor, CvD, Grafiker, Bildredakteur, Fotograf und Autor in einer Person“ und damit die „Blattmacher des Internetzeitalters“, schreibt er in seinem Blog.

Mein Schluss aus der Erkenntnis ist ein anderer: Den Blattmacher gibt es heute zunehmend gar nicht mehr.

 

Redaktionen entgleitet die Kontrolle

Natürlich ist es wichtig, dass Inhalte für das Social Web aufbereitet werden – das sollte inzwischen jeder Journalist verstanden haben. Natürlich kommt dem Social-Media-Redakteur dabei eine wichtige Aufgabe zu. Doch die Sicht, dass dieser damit zur personifizierten Steuerungszentrale der Redaktion wird, verkennt meines Erachtens eine wichtige Entwicklung: Der Redaktion insgesamt entgleitet im Onlinezeitalter zunehmend die Kontrolle darüber, was von den eigenen Inhalten beachtet wird, und was nicht.

Beispiel: Ich weiß aus einem Gespräch mit einem Social-Media-Verantwortlichen bei Bild.de, dass der im Social Web erfolgreichste Bild.de-Artikel aller Zeiten niemals von irgendeinem Redakteur dort verbreitet wurde. Es handelt sich um eine kurze, Emotionen ansprechende Meldung über einen in einer Mülltonne ausgesetzten Welpen (wenn ich mich recht erinnere). Der Artikel stammt aus einer der Bild-Regionalausgaben und wurde weder aktiv von der Redaktion im Social Web verbreitet, noch an irgendeiner Stelle der Bild.de-Homepage je gezeigt.

 

Reizworte sind im Social Web Trumpf

Auch aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass es weniger darauf ankommt, wie die Redaktion selbst Inhalte ins Social Web einstellt – viel wichtiger sind dabei Themen, die Emotionen oder Ängste wecken, oder Schlagworte, die dafür sorgen, dass Inhalte ganz ohne eigenes Zutun von Internetnutzern rasant verbreitet werden.

Unser jüngster Smash-Hit von WSJ.de auf Facebook trägt den Titel „Mecklenburg-Vorpommern bricht den Fracking-Bann“ und wurde auf Facebook bislang über 3.000 Mal geliked beziehungsweise geteilt. Ich hatte Dienst, als der Artikel in dieser Woche online gegangen ist, und habe die Dynamik miterlebt: Noch bevor ich über unsere offiziellen Kanäle an irgendeiner Stelle im Social Web auf den Artikel aufmerksam gemacht hatte, stieg die Zahl der Likes bzw. Shares (Facebook gibt nur eine aggregierte Kennzahl an) schon rasant an – innerhalb von weniger als einer Stunde waren es bereits Hunderte.

Letztlich hat dann das Veröffentlichen des Artikels auf unserer eigenen Facebook-Seite nicht mehr viel zur weiteren Verbreitung beigetragen. Diejenigen, die für den riesigen Facebook-Erfolg des Artikels verantwortlich sind, gehören meiner Einschätzung nach auch nicht zu unseren Stammlesern.

Ähnliches erlebe ich auch immer wieder bei anderen Social-Media-Erfolgsartikeln. Dazu gehört beispielsweise so gut wie alles, was über die Alternative für Deutschland (AfD) geschrieben wird. Die Außenseiter-Partei besitzt online eine stramm organisierte und eingeschworene Fan-Gemeinde, die untereinander gut vernetzt ist. Dementsprechend schnell verbreiten sich Artikel über die Partei der Eurokritiker, vor allem via Facebook – insbesondere, wenn sie wohlwollend geschrieben sind.

 

Neue Gefahr für die journalistische Unabhängigkeit

Die vorhersehbaren Mechanismen des Social-Media-Erfolgs bringen damit auch ganz neue Gefahren der Beeinflussbarkeit von Journalisten mit sich.

Gerieten Journalisten früher bei ihrer Berichterstattung vielleicht in Versuchung, sich von für sie wichtigen Kontakten oder für das Medium wichtigen Werbekunden beeinflussen lassen, besteht inzwischen die Gefahr, dass sie sich von gut organsierten Teilen ihrer Leserschaft zu bestimmten Artikeln verleiten lassen. Im Grunde sehe ich diese Gefahr sogar als noch größer und offensichtlicher an als den möglichen Einfluss von Werbekunden: Während Redaktion und Vertrieb in allen wichtigen Redaktionen Deutschlands getrennt arbeiten, bekommt der einzelne Journalist das Social-Media-Feedback sofort und unmittelbar.

Und der Erfolg von anti-journalistischen Angeboten wie der umstrittenen Website Heftig.co zeigt, dass im Social Web vor allem das funktioniert, was sämtliche Qualitätsstandards über Bord wirft.

Auch für Werbekunden erfordert die wachsende Bedeutung von Social Media ein Umdenken: Kann der Werbekunde, der eine Anzeige bei Handelsblatt Online oder dem Wall Street Journal bucht, wirklich noch sicher sein, dass diese die Zielgruppe erreicht? Vermutlich immer weniger, je größer der Anteil von Lesern wird, der eher zufällig auf der Website landet, weil ein einzelner Artikel zum Facebook-Hit wird – wenn er ein Reizthema behandelt, oder das Thema einer gut vernetzten Gruppe.

Crosspost vom Online-Journalismus-Blog

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