#Begeisterung

Das Netz hat sein Gegenüber verloren

von , 13.6.14

Viele gute, sympathisch unprätentiöse Nachrufe sind schon erschienen. Sie mussten quasi aus dem Stand formuliert werden, denn niemand hat mit diesem Todesfall gerechnet.

Schirrmacher war immer anwesend. Alle redeten über ihn, er war der Freigeist, der Blattmacher, der Debatten-Anschieber, der begehrte Interviewpartner und Redner, der enthusiastische Auskundschafter aller unvermeidlich kommenden Abgründe. Zuletzt war er – eine ganz ähnliche politische Entwicklung nehmend wie Thomas Mann zwischen 1918 und 1930 – der kompromisslose Kämpfer für eine digitale humane europäische Alternative.

Carta hat ihn – in früheren Jahren – oft kritisiert. Schirrmacher war für die Digital Natives, aber auch für die spät ins Internet eingewanderten Netzverteidiger, der einzige deutsche Publizist, an dem man sich ernsthaft abarbeiten konnte. Robin Meyer-Lucht, der früh verstorbene Carta-Gründer, hat dies – obwohl (oder weil) in punkto Liberalität und Begeisterungsfähigkeit Schirrmacher ähnlich – ebenso getan wie spätere Carta-Autoren und –Herausgeber.

Manche (auch ich) hätten ihm nur allzu gern das Etikett des Kulturpessimisten angeheftet. Aber mit den Folgen der Finanzkrise wandelte sich Schirrmacher, für viele überraschend, zu jener radikal-demokratischen Bürgerlichkeit, die im Feuilleton der FAZ härtere Abrechnungen mit dem Finanzkapitalismus zuließ, als Spiegel und Zeit je gedruckt hätten.

Dr. Frank Schirrmacher, 1959 - 2014


Dr. Frank Schirrmacher,
1959 – 2014 (Foto: © F.A.Z.)

Schirrmacher verstand es, Finanzwelt und Digitalisierung zusammenzudenken, historisch zu fundieren und die Debatten – auch wenn viele Leser eine Verschnaufpause nicht schlecht gefunden hätten – immer weiter zu treiben. Und auch bei den neu entstehenden Trusts, insbesondere beim Internetkonzern Google, ließ er nicht locker, mochten die Kollegen aus Politik und Wirtschaft über das monomanische „Dranbleiben“ des Feuilletons auch noch so sehr die Augen verdrehen.

Über die Netzszene und ihre Themen war Schirrmacher bestens informiert. Er holte von dort gezielt Leute in seine Redaktion und nannte die Geholten stolz „meine Entdeckungen“. Von anderen war er bald wieder enttäuscht; solche Sympathie-Umschwünge kamen schnell und manchmal gänzlich unerwartet.

Seine ständige Begeisterungsbereitschaft als Blattmacher hat sich auf die Autoren übertragen. Auf Beiträge reagierte er blitzschnell, manchmal sogar nachts um halb zwei, und zu ähnlich unchristlichen Zeiten regte er neue Themen an, stellte ‚naive’ Fragen, war immer neugierig und interessiert. Solche Redakteure (und ganz gewiss in dieser Position!) findet man heute selten. Nur ein Bruchteil seiner Begeisterungsfähigkeit würde jungen Medien-Projekten manchmal gut tun.

Nun fehlt uns dieses Gegenüber. Die Lücke, die Frank Schirrmacher hinterlässt, wird das Netz noch deutlich zu spüren bekommen. Man kann nur hoffen, dass andere seine Rolle übernehmen. Ersetzen können sie ihn nicht.

Michael Seemann und Christoph Kappes über FS 

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