#Bedarf

Sündenbock Gewerkschaft

von , 12.5.14

Die deutschen Gewerkschaften sind wieder wer. Nicht nur in präsidialen Sonntagsreden, auch in sozialwissenschaftlichen Analysen der Werktage wird ihnen bescheinigt, brauchbare Zeitgenossen zu sein – nicht so stark wie nötig, aber auch nicht mehr so geschmäht wie um die Jahrtausendwende in der massenmedialen Begleitmusik zu den Orgien des Finanzsystems, die das Kino jetzt aufarbeitet.

Warum sind Gewerkschaften so beliebte Prügelknaben der herrschenden Meinung?

Die Gewerkschaften sehen es so: Weil wir die Guten sind, aber böse Raffkes das Sagen haben. Der Mainstream hingegen meint, so weit sei alles in Ordnung, nur die Gewerkschaften würden den betrieblichen Frieden und den wirtschaftlichen Fortschritt stören. Wenn man weder das eine noch das andere für besonders aufschlussreich hält, kann man eine Tiefenbohrung versuchen und nach gesellschaftlichen Grundströmungen fragen. Es geht allerdings ziemlich weit hinunter.

Zu den Wurzeln kommen wir, sobald wir uns dem Schicksal der Arbeit nähern, das im 18. und 19. Jahrhundert eine große Wende erfährt. Ob wir, was dabei herauskam, moderne Gesellschaft, Kapitalismus, Marktwirtschaft oder … nennen, darüber müssen wir uns hier nicht streiten. Nehmen wir das Weichei-Wort „Moderne“. Was passiert in der Moderne mit der Arbeit und den Leuten, die sie leisten?

Dreierlei.

Erstens wird die Arbeit befreit. Weg mit Sklaverei, Leibeigenschaft und Knechtschaft. Die Einzelnen können selbst darüber entscheiden, was sie mit ihrer Arbeitskraft machen.

Zweitens wird die Arbeit zu einer Quelle des Einkommens; für die Mehrheit, die weder über Immobilien noch über Geldkapital verfügt, zur einzigen. Arbeiterfamilien haben keinen Zugang mehr zu den Abfalleimern des Feudalismus, sie müssen selbst schauen, wie sie zurechtkommen.

Die selbstständige soziale Existenz der Einzelnen wird in der Moderne an ein eigenes Einkommen gebunden, das, wie gesagt, für die meisten nur ein Arbeitseinkommen sein kann. Wer keines hat, wie die Hausfrau und Mutter, bleibt unselbständig, im Jargon der Moderne: unemanzipiert.

Drittens wird die Arbeit, nicht jede, aber inzwischen fast jede, der Wirtschaft unterworfen. Das hat den Vorteil, dass Arbeit produktiv, ständig rationalisiert wird, weil es ökonomisch ist, mit kleinem Aufwand Großes zu erreichen. Der Reichtum der Moderne, ihre „ungeheure Warensammlung“ (Marx) gründet darauf. Der Nachteil ist, dass die Wirtschaft Arbeit nur dann braucht, wenn sie sich rechnet, und nur so einsetzt, wie sie am wenigsten kostet.

Diese Drei passen aus Sicht der Arbeit nicht zusammen.

Einerseits soll sie denen, die sie leisten, eine selbständige soziale Existenz sichern, besser noch, ein gutes Leben erlauben. Andererseits soll sie der Wirtschaft möglichst wenig kosten, am besten billig zur beliebigen Verfügung stehen, wenn sie gebraucht wird, und geräuschlos verschwinden, sobald es technisch produktivere Lösungen gibt.

Die Gewerkschaften werden ständig kritisiert, weil sie es beiden Seiten recht machen sollen. Gewerkschaften sind der Sisyphos, der beschimpft wird, weil er den Stein nicht hoch genug rollt und nicht tief genug fallen lässt. Gelobt werden sie, wie gerade wieder vom Bundespräsidenten, wenn sie kompromissbereit erscheinen, also den Stein auf einer Höhe zu halten versuchen, die sich irgendwie als Dazwischen, als goldene Mitte inszenieren lässt.

Das offizielle Selbstbild der Moderne lässt es nicht zu, das Dilemma anzuerkennen, in das sie die Arbeit gestürzt hat. Ersatzweise werden diejenigen zum Sündenbock gemacht, Bonzen und Arbeiterverräter genannt oder Radikalinskis und rote Störelemente, die sich der Aufgabe stellen, die sozialen und die ökonomischen Ansprüche an die Arbeit irgendwie miteinander verträglich zu machen.

Die linke Lösung des Dilemmas lautet, den Kapitalismus abzuschaffen. Na ja.

Vielleicht lässt sich auf beiden Seiten ansetzen. Den Wirtschafts- und Finanzorganisationen bessere soziale und ökologische Standards zu verordnen, kann für die Zukunft des Planeten nicht falsch sein. Ob es das letzte Wort der Geschichte sein muss, die soziale Existenz der Einzelnen von einer individuell zurechenbaren Arbeitsleistung abhängig zu machen, wird man ja mal fragen dürfen. Auch mit einem garantierten Grundeinkommen ließe sich das moderne Dilemma der Arbeit entschärfen.
 

 
Prof. Dr. Hans-Jürgen Arlt lehrt strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste in Berlin.

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