#Bewertung

Fußball als Leitkultur: Anmerkungen zu Thomas Hitzlsperger

von , 10.1.14

Vielmehr hat sich der ehemalige Nationalspieler (und heutige Zeit-Kolumnist) Thomas Hitzlsperger geoutet, und Hans-Olaf Henkel soll seinen Eintritt in die AfD angekündigt haben. Nun hat Hitzlspergers Outing Schlagzeilen gemacht, sogar die Bundesregierung hat sich durch den Regierungssprecher dazu geäußert. Das Interesse an Henkel hält sich dagegen in Grenzen.

Nun sollte man einmal ein Gedankenexperiment machen: Henkel hätte sich heute geoutet, und Hitzlsperger wäre der AfD beigetreten.  Das Interesse an beiden Meldungen wäre doch arg begrenzt gewesen. Niemand hält die sexuelle Orientierung des Ökonomen, Politikers und ehemaligen Verbandsfunktionärs Henkel für relevant, während gleichzeitig kein Mensch einen Cent auf die ökonomischen und politischen Erkenntnisse eines ehemaligen Fußballers setzte. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind aber natürlich identisch, etwa im Verhältnis zur Homosexualität.

Woher kommt also das öffentliche Interesse am Outing des ehemaligen Nationalspielers? Und warum interessierte sich niemand für die sexuelle Orientierung eines Hans-Olaf Henkel?

Das hat erst einmal einen simplen Grund: Es gibt bisher keinen homosexuellen Fußballer mit einer gewissen Prominenz. In anderen Teilen unserer Gesellschaft ist das dagegen kein Thema mehr, in der Politik spätestens seit dem Outing von Klaus Wowereit. Nur erklärt das bisherige Fehlen eines Namens nicht die Symbolik, die in den Medien einem offen homosexuell lebenden Spitzen-Fußballer zugewiesen wird.

Der Fußball wird als  eine Art Leitkultur betrachtet. Letztlich handelt es sich um Projektionen über gesellschaftliche Verhältnisse. Fußball bekam spätestens seit dem intellektuellen Schattenboxen um die Figur Günther Netzers diese Funktion. Er wurde zum Symbol für die Aufbruchstimmung zu Beginn der 1970er-Jahre gemacht. Seine Haare waren halt länger geworden, und es stand der berühmte Ferrari vor der Tür. Selbst der biedere Paul Breitner kostümierte sich in dieser Zeit als Maoist.

Nun waren Breitner und Netzer nie etwas anderes als konservative Geschäftsleute, wie der agile Uli Hoeneß oder Franz Beckenbauer. Der Fußball war schon immer irrelevant, wenn es um seinen Einfluss auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ging. Er hat sie lediglich mitvollzogen. Das in seiner Fußballbegeisterung seit den 1970er-Jahren erweckte Feuilleton hat den ehemaligen Proletensport Fußball zwar interpretiert. Sie hätten aber auch Feldhockey als Projektionsfläche nutzen können. Aber wer interessiert sich schon für Hockey?

Insofern sagt das Outing Hitzlsperger lediglich etwas über die gesellschaftlichen Vorstellungen derjenigen aus, die sein Handeln jetzt interpretieren. Sie haben offensichtlich die Vorstellung, in einer Homosexuellen-feindlichen Gesellschaft zu leben. Allerdings ist niemand zu lesen, der Hitzlsperger für seine sexuelle Orientierung kritisiert.

Soviel Einigkeit war nie. Der Adressat der Homophobie ist damit schlicht unbekannt. Es ist scheinbar ein anonymer Fußballfan, der allerdings den Interpreten jetzt als Objekt für gesellschaftspolitische Lernprozesse zu dienen hat. Alle erwarten vom Vorbild Hitzlsperger eine kathartische Wirkung auf den imaginären Schwulenhasser.

Das ist allerdings absurd. Sie führt lediglich dazu, den in den vergangenen Jahrzehnten erreichten gesellschaftlichen Fortschritt zu diskreditieren. Der drückte sich im Fußball schon immer verspätet aus und wurde gerade nicht durch ihn vorangetrieben. Das Ressentiment bewies historisch eine große Resistenz gegenüber der Empirie. Dem pathologischen Schwulenhasser ist der sympathische Schwule daher genauso gleichgültig wie dem Antisemiten der reale Jude.

In einem Interview mit der Zeit drückte Hitzlsperger die Folgen eines Outings schon 2012 so aus:
 

“Die Fans sind ja sehr vielschichtig, im Stadion sind fast alle Alters- und Gesellschaftsschichten vertreten. Da kann man keine Reaktion ausschließen. Ich denke aber schon, dass das für die Mehrheit kein großes Problem wäre.”

 
Warum sollte es eigentlich für die Mehrheit im Stadion ein Problem sein, wenn es für die Mehrheit in der Gesellschaft kein Problem ist, wie in den öffentlichen Reaktionen heute zu lesen ist?

Tatsächlich sollte man vielmehr eine andere Debatte führen: Ob nämlich die unausgesprochene These einer homophoben Gesellschaft überhaupt stimmt. Aber vor allem, ob nicht mittlerweile die Projektionsfläche Fußball für homosexuelle Fußballer zum eigentlichen Problem geworden ist. Sie würden schlicht von den Erwartungen und der medialen Aufmerksamkeit erschlagen werden. Eben im Gegensatz zu homosexuellen Friseuren, Maurern oder Politikern.

Dort interessiert die sexuelle Orientierung schon lange keinen mehr. Wer hat dann schon Lust, eine schlichte Banalität öffentlich zu machen? Er müsste schließlich den Preis bezahlen, auf sein Outing reduziert zu werden. (Das ist übrigens strukturell nichts Neues. Bei Netzer interessierten die Medien in seinen besten Zeiten auch mehr die Frisur und die Automarke als seine Lauffaulheit auf dem Platz …).

Dafür sind allerdings nicht die hoffnungslosen Fälle der Homophoben verantwortlich zu machen. So wäre den homosexuellen Fußballern wahrscheinlich am meisten geholfen, wenn wir den Fußball nicht mehr als Projektionsfläche für unsere gesellschaftspolitischen Vorstellungen missbrauchten.

Die Aufmerksamkeit für Thomas Hitzlsperger hat daher nur einen Grund: Wir haben schlicht vergessen, dass Fußball nur eine Nebensache ist. Meinetwegen auch die Wichtigste der Welt.
 
Crosspost von Wiesaussieht

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.