##btw13

Der Stinkefinger · Plötzlich bin ich Steinbrück-Fan

von , 14.9.13

Ich mochte ihn nicht. Seine arrogante Art, seinen steifen Stolz, seine Selbstverliebtheit, die überdies so gar nicht passten zu seiner politischen Pannen-Vita. Seit dem Stinkefinger-Titel im SZ-Magazin ist das anders.

Das Netz und die politische Konkurrenz tun empört. Ich finde Peer Steinbrück seitdem großartig. Seine leckt-mich-Geste ist das erste authentische Argument in dem von Medienberatern und Wahlkampfstrategen völlig entseelten und zu Tode demoskopierten Eiapopeia-Wahlkämpfchen. Kampf kann man das, was wir bisher erlebt haben, wirklich nicht nennen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin selbst Medienberater, ich bringe seit mehr als zehn Jahren Politikerinnen und Politikern bei, auf kritische Fragen zu antworten. Anders als viele Kollegen aus der PR-Branche meinen, geht es meines Erachtens darum, Fragen ehrlich zu beantworten und trotzdem seine Botschaft zu setzen. Das ist viel einfacher gesagt als getan, die Angst vorm medialen Glatteis ist riesengroß, und lieber verlieren sich Politiker in sinnfreien Phrasen, als einmal ehrliche Selbstkritik zu üben.

Ich sehe das anders, Schwächen zugeben kann auch ein Zeichen von Stärke sein, und dennoch: Niemals hätte ich Peer Steinbrück nach all den Pannen und Peinlichkeiten der letzten Monate geraten, Deutschland den Stinkefinger zu zeigen. Ich hätte es ihm verboten. Genau das hat sein Pressesprecher auch getan. Steinbrück war das egal. Und egal, was die Stinkefinger-Kritiker jetzt unken, diese Geste war nie und nimmer inszeniert.

Der Stinkefinger war und ist Steinbrück pur. Ein Finger als Ausrufungszeichen. Keine Wählerbeschimpfung. Keine wohlfeile Politphrase. Keine zuvor zu Tode analysierte und einstudierte Geste. Sondern eine wohltuende Unverschämtheit. Politisch absolut inkorrekt. Ohne vom Meinungsumfragennavigator definiertes Ziel. Und darum eine umso genialere Botschaft.

Gerade weil sich „so was doch nicht gehört.“ Die Unerhörtheit als politisches Manifest. In einer Republik, die seit Jahren auf Kredit der Reformen von einst lebt und in der keine Partei sich auch nur traut, die wirklich drängenden Fragen zu denken – von einer überfälligen Steuerreform über den Umbau der Sozialsysteme bis zur Gretchenfrage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich in 20 Jahren leben sollen – ist solch ein unverschämter Zeigefinger schon mehr als nur eine klare Botschaft.

Es ist ein Lebenszeichen. Gerade weil die Geste so unmöglich ist, ist sie menschlich. Allzu menschlich.

Um es mit dem Ur-Medienberater und Gründer der Rhetorik, Aristoteles zu sagen: „Das Wesen der Redekunst ist es, zu untersuchen, was an den Dingen Glaubwürdiges vorhanden ist.“

Steinbrücks Mittelfinger sagt: Gar nix.

Ob er es als Kanzler besser und anders machen würde als Angela Merkel, weiß ich nicht. Aber den Mut, mit einem einzigen Foto alles zu riskieren, braucht Rückgrat. Ganz besonders nach einem derart versemmelten SPD-Wahlkampf und den aktuellen Prognosen, die den Sozialdemokraten am 150sten Geburtstag leichten Aufwind und zumindest eine respektvolle Niederlage in Aussicht stellten.

Mut ist in der deutschen Politik zum Fremdwort geworden, seit Mutti Merkel regiert. Man mag sie mögen, man mag sie bewundern oder auch wählen, sie handelt beeindruckend apolitisch und strategisch klug so, wie es der Mainstream gerade will. Atomausstieg, Energiewende, Ende der Wehrpflicht, Mindestlohn. Was bitte ist daran eigentlich noch christdemokratisch und konservativ? Welche mutigen Ziele verfolgt sie?

Plastisch wird es, wenn man ihre als „Raute der Macht“ oder „Merkelschaukel“ berühmt gewordene Handhaltung mit dem gestreckten Finger von Steinbrück vergleicht.
Wer mag, kann das Experiment selbst wagen. Aufstehen, hinstellen, die Arme hängen lassen, sich ungewohnt unwohl fühlen und dann mit Hilfe der Merkelschaukel Schultern und unteren Rückenbereich in eine aufrechte und stabile Position bringen.

Die aus dem Yoga stammende Übung, die Fingerkuppen gegeneinander zu pressen, hat eine lange Tradition. Nur, dass jemand vergessen hat, Angela Merkel zu sagen, dass man die Hände auch wieder loslassen kann, wenn man die Position einmal eingenommen hat …

Im Ernst. Merkel, so zumindest meine Analyse, verharrt so penetrant in dieser Haltung, weil sie Angst hat. Angst vor den Medien, Angst vor der Öffentlichkeit, Angst vor der Reaktion.

Wer die amtierende Kanzlerin einmal jenseits der TV-Kameras erlebt hat, lernt eine charmante, humorvolle, geistreiche und kluge Frau kennen. Mit Esprit und der Fähigkeit zuzuhören. Sobald Kameras laufen, versteckt sie sich hinter der Raute und wird zur Mutti der Nation. Und genauso ist ihre Politik. Unerträglich einschläfernd. Ein Ölfilm aus Gleichgültigkeit. Der suggerierte Wohlstand ist in Wirklichkeit Stillstand. Mutlos. Mutti. Merkel. Und diese Troika ist auf Dauer gefährlich.

Ja, Steinbrücks Stinkefinger ist politisch inkorrekt.
Ja, Steinbrücks Stinkefinger ist missverständlich.
Ja, Steinbrücks Stinkefinger ist hochriskant.

Geil.

Endlich wagt mal jemand mal was. Vielleicht fällt er damit komplett auf die Nase. Aber er hat etwas gewagt. Und für völlig unerwarteten Zündstoff gesorgt. Der Stinkefinger spaltet die Republik. Gut so!

Peer Steinbrück, seit dem Mittelfinger bin ich dein Fan. Und nun: Zeig’s mir.
 
Christian Stahl betreibt stahlmedien.com und bloggt auf sagwas.net
 

Zustimmung, Kritik oder Anmerkungen? Kommentare und Diskussionen zu den Beiträgen auf CARTA finden sich auf Twitter und auf Facebook.