#Nachruf

Solitär, Anstifter, Organisator und Vordenker · Zum Tod Rolf Schwendters

von , 27.7.13

 

„Der Tod ist der Anfang eines neuen Lebens.“
Michel de Montaigne, Essais

 
Eigentlich sollte Rolf Schwendter Mitte März bei der 25-Jahr-Feier des Forschungsjournals Soziale Bewegungen in Berlin dabei sein. Zum Konferenz-Motiv „Erfolgreich Scheitern“ und den dazu passenden Referenten-Kaskaden war sein Auftritt mit situativen Spontan-Strophen von „Ich bin noch immer unbefriedigt“ bereits ein Jahr zuvor geplant. Spitze, karikierende Sentenzen zur Kindertrommel im reduzierten Sound der Stones.
 

Rolf Schwendter, Foto: W. Pichler, CC BY-SA


Rolf Schwendter
, 2007, Foto: W. Pichler, CC BY-SA

Hier hätte der Professor für Devianzforschung an der Uni Kassel (1975-2003) sein Talent ausgespielt: im Grenzbereich von Ästhetik und Wissenschaft hätte er die Wirkungsgeschichte von 25 Jahren sozialen Bewegungen entziffert, die Tabuzonen des schwächelnden Protests ausgeleuchtet und einen beherzten Blick nach vorn gewagt. „Abweichendes Verhalten“ als Produktivkraft, Kritik als Geschenk, wunde Punkte, blinde Flecke: auf die „black box“ im Denken des Mainstreams war er spezialisiert.

 
 
Hätte. Könnte. Sollte.

Dazu kam es nicht. Wenige Tage zuvor traf einer seiner typischen weißen A5-Zettel mit hellblauer Tinte und akkurater Handschrift ein. Zaghafte Hinweise auf den Gesundheitszustand, die wertvolle Ressource Zeit (im Dauerspagat zwischen Kassel und Wien) und die zu erwartenden Reiseanstrengungen. An Pfingsten war er dann doch wieder da – zum 39. Mal – auf dem open ohr-Festival in Mainz. Leiser, bedächtiger, blasser, viele Kilo leichter. Aber – wie kein anderer Referent – erfüllte er seine Pflichten, wie 39 Mal zuvor. Lesungen, Diskussionen, Moderationen – ganz gleich, welche Aufgabe die Projektgruppen ihm in vier Jahrzehnten Festivalgeschichte übertrugen: er war immer da, immer präsent, immer inspirierend.

So arbeitete er in all seinen Projekten: in der „informellen Gruppe“ Bescheidene Beharrlichkeit in Wien (1959-1969), in den (republikanischen) Clubs, den Lesetheatern, „Offenen Wohnzimmern“, Theorie-Arbeitskreisen, auf der Waldeck, den vielen Festivals, Theatern, und natürlich an der Hochschule in Kassel. Ein Dauer-Pilger, heute hier, morgen dort, im Blaumann, mit Plastiktüten voller Flugschriften und den Kopf voller Gedanken.

Zuverlässigkeit war sein besonderes Kennzeichen, ein schier unerschöpflicher Wissensfundus seine Quelle. Promovierter Jurist, promovierter Politikwissenschaftler, promovierter Philosoph bereits mit 29 Jahren: dazu zwei Dutzend Werke – von den Klassikern „Modelle zur Radikaldemokratie“ (1970) bis zur „Theorie der Subkultur“ (1971) und der „Geschichte der Zukunft in zwei Bänden (1978-1984).

Seinen Bildungsreichtum trug Rolf Schwendter nie wie eine Monstranz vor sich her. Er war schnell im Kopf, sehr schnell, seine Gedankenblitze kamen oft und unverhofft. Von Weihrauch-Schwenkern und Claqueuren hielt er jedoch nicht viel. „Anspruchslosigkeit macht frei“ war eines seiner wiederholten Leitmotive. Markant zudem sein Überschuss an Toleranz, seine Neugier aufs Neue und seine Zuwendung zu Fremden und Bekannten. Es mag in einer Ego-infizierten Welt merkwürdig abgedroschen klingen, aber er war bescheiden und pflegte nicht nur die Attitüde des Bescheidenen.

Rolf Schwendters Werk hätte es – ähnlich wie im Fall Arno Schmidts -, verdient, sorgfältig ausgewertet und editiert zu werden. Die Träume auf seinen Zetteln würden einen Stiftungsauftrag rechtfertigen, beflügeln und einen Mäzen vom Schlage Jan Philipp Reemtsmas herausfordern.

 

„Drehpunktperson“ und Bildungskoordinator

Wer Rolf Schwendter verstehen will, muss seinen Vortrag „Avantgarde und Gruppenprozesse“ lesen*, den er 1991 auf der Fachkonferenz des Forschungsjournals in Saarbrücken in der Heimvolkshochschule der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten hat. Vor gut 20 Jahren beschäftigten wir uns mit der „Politischen Klasse in Deutschland“ und stellten die „Eliten auf den Prüfstand.“ Der Sammelband erschien ein Jahr später mit Texten von Wolfgang Schäuble über Peter Glotz, Antje Vollmer und Hans-Jochen Vogel.

Und natürlich mit dem Schlüsseltext von Rolf Schwendter.

In seiner bereits vor 20 Jahren handschriftlich vorgelegten biografischen Reflexion mahnte er:
 

„Im Binnenverhältnis der sozialen Bewegungen und ihrer Drehpunktpersonen hat der `Eliten´- Begriff nichts verloren.
Brüsker formuliert: Wo soziale Bewegungen als solche fungieren, ist der ´Eliten´- Begriff gegenstandslos – und wo der ´Eliten´-Begriff in sein Recht tritt, ist dies ein untrügliches Anzeichen dafür, dass die betreffende soziale Bewegung zu existieren aufgehört hat.“

 
Sein kulturelles Kapital hatte er hier eindeutig vermessen: er verstand sich als Drehpunktperson und als Bildungskoordinator, in Anlehnung an Ivan Illich. Er sah seine Rolle in der Avantgarde, in Abgrenzung zum Elitebegriff. Aus subkulturellen Bewegungen sollte sich eine Gegenkultur als Gegenentwurf zu herrschenden Verhältnissen etablieren.

Er lebte als Radikaldemokrat, nicht als Anarchist. Theorie-Produktion war für ihn kein Gegensatz zur politischen Praxis; Praxis die andere Medaillen-Seite der Theorie.

 

Begnadeter Gastrosoph und kulinarischer Diagnostiker

Schon Ende der 60iger-Jahre verknüpfte Rolf Schwendter kulturelles und kulinarisches Kapital.

Zum Abschluss seiner „Bildungsangebote“ etwa im Republikanischen Club in Mainz gab es ein großes, gemeinsames Essen. Zwei Mal, zwanzig und dreißig Jahre später (1998 und 1999) konnten wir das umsetzen, was er in „Schwendters Kochbuch“ (1988), in „Arme Essen – Reiche speisen“ (1995) und in „Vergessene Wiener Küche“ (2004) konzipierte. Das bollito misto für 150 Personen werden weder ich, noch der Gonsenheimer Metzger oder der begleitende Sternekoch Hans-Peter Wodarz samt der vier Hilfsköche eines Sozialprojekts jemals vergessen.

Rolf Schwendter überwachte die aufwändige Prozedur, das vorsichtige Garen der Zutaten: von gepökelter junger Rinderzunge bis zum freilaufenden Bresse-Huhn einer zuvor von ihm präzise definierten Altersklasse. Er selbst verfeinerte die Kollektivspeise auf  Schloss Freudenberg in Wiesbaden am Ende mit zwei Flaschen bestem Madeira, der langsam in die zehn verschiedenen Fleischsorten einsickerte. Sechs Gänge – unendliche Überraschungen.

Wahrscheinlich war dies sein größter Koch-Einsatz, wenn auch mit einer assistierenden Profi-Brigade. Zum Dank vereinbarten wir einen Besuch in einem Sterne-Restaurant.

Daraus wurde dann ein echtes Devianz-Erlebnis. Die Kellner vermuteten einen Obdachlosen mit Zottelbart, Blaumann und ausgetretenen Latschen, wagten es aber nicht, meine Begleitung abzuweisen. Die Gäste im klimatisierten Restaurant rümpften die Nase. Aber schon nach der Sonderauswahl und Zusammenstellung eines Acht-Gänge-Menüs quer zur Speisekarte schmolz das Eis des irritiert-abweisenden Kellners.

Tee statt Wein. Kein Alkohol. Nachdem Rolf Schwendter in Anwesenheit des Oberkellners den „Gruß des Hauses“ und die Vorspeise profund sezierte, die Herkunft der Rohprodukte und die genauen Garzeiten identifizierte, neue, alternative Kombinationen entwickelte, wurden alle weiteren Gänge vom Chefkoch persönlich geliefert. Ein Wort gab das andere. Der Sternekoch hatte seine Lektion in Devianzforschung gelernt und „noch nie einen kulinarisch fachkundigeren Gast bedienen und kennenlernen dürfen.“

„Das Gespräch ist meiner Ansicht nach, die lohnendste und natürlichste Übung unseres Geistes. Keine andere Lebensbestätigung macht mir so viel Freude,“ bemerkte Michel de Montaigne (1533-1592) in seinen „Essais“ (beste Edition: Die andere Bibliothek, Frankfurt 1998).

Rolf Schwendter war mit seiner Menschenfreundlichkeit, seinem Geist und seinem Werk ein Seelenverwandter Montaigne. Ein Montaigne unserer Zeit.

Er starb am Sonntag Abend (21.7.2013) in Kassel. Viel zu früh.

 


 
Avantgarde und Gruppenprozesse, von Rolf Schwendter
In: Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.)
Die politische Klasse in Deutschland · Eliten auf dem Prüfstand
Bonn, 1992: 391-404

 

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