#advokatorischer Journalismus

Die Werte des Journalismus: Objektivität und Zweieurofuffzich

von , 19.7.13

Im ersten Teil habe ich bereits dezente Skepsis angemeldet, ob unabhängiger Journalismus ohne Aktivismus funktionieren könnte, und wer davon wohl profitiert. Mit einer Analogie will ich das näher untersuchen: Durch seine Wertfreiheitslehre gilt Max Weber als einer der stärksten Verfechter einer wertfreien Wissenschaft, die ja nach derselben Art “Information ohne politische Agenda” sucht wie die “unabhängige Presse”, die sich etwa David Carr vorstellt.

Und so steckt in Theodor W. Adornos Kritik am auf Weber sich berufenden Positivismus, über 50 Jahre nach dem Positivismusstreit und über 100 Jahre nach Weber, der Ansatz für die Kritik des wertfreien Journalismus. Um dies nicht zu einem Adorno-Lektürekurs zu machen, verweise ich nur auf die Seiten 71–75 in Adornos “großer” Einleitung zum Positivismusstreit.*

Dort beklagt Adorno, eine unpolitische Haltung bedeute Kapitulation vor der Macht. Wertneutralität verlange Unterwerfung unter die vorherrschenden Wertsysteme, also den Verzicht auf Kritik am Bestehenden. Wie sich das im deutschen Journalismus konkret auswirkt, hat Uwe Krüger am Beispiel des außenpolitischen Sicherheitsdiskurses wissenschaftlich untersucht und festgestellt, dass einige Zeitungen dichte persönliche Netzwerke in Nato-Kreise pflegen und deren etablierte Machtposition “unkritisch bis persuasiv” wiederkäuen, bis hin zum Einsatz von “Propagandatechniken”.

Andere Zeitungen, die nicht in solche Netzwerke eingebunden sind, setzen diesem Bündnis von politischem und medialem Establishment keine eigene Haltung entgegen, daher ist auch von ihnen keine grundsätzliche Kritik zu erwarten. Ronnie Grob fasst zusammen:
 

“Statt einen offenen Marktplatz an Ideen abzubilden, vertreten Journalisten oft die Positionen der Herrschenden und Agierenden.”

 
Adorno sah 50 Jahre vorher die Lösung dieses Problems nicht in der Restauration einer Wertlehre zur besseren Orientierung, sondern lehnte die Forderung nach Wertfreiheit ebenso wie die nach Wertorientierung als zwei Seiten einer Falschmünze ab. Denn die Forderung nach Wertfreiheit basiere selbst auf einer Wertorientierung und sei daher selbstwidersprüchlich.

Was dann? Es stellt sich doch eine einfache Frage: Wie sollen Journalisten mit Wertungen umgehen? Wer nun aber sagt, da gebe es eben nur diese beiden Möglichkeiten, Wertfreiheit oder Wertorientierung, der kapituliert vor der Macht des Faktischen, ohne nach seinen Bedingungen zu fragen. Ich versuche dies hier durch eine Analyse des Begriffs “Wert”.

Das Wort hat zwei verschiedene Bedeutungen, die ich künftig zur besseren Unterscheidung mit den Indexziffern 1 und 2 versehe: Erstens ist Wert1 ein Austausch- und Vergleichsmaß für verschiedene Waren, das anhand des Produktionsaufwandes (Angebot) oder der Nutzenerwartung (Nachfrage) ermittelt wird, praktisch konkretisiert im Preis. Zweitens ist Wert2 eine ideelle Vorstellung, der eine besondere und normenbezogene Bedeutung für Individuum, Kultur oder Gesellschaft zugemessen wird. Zur Unterscheidung dieser Bedeutungen benutzt man auch die Wendungen ökonomischer Wert1 oder Tauschwert1 und ideeller Wert2 oder Wert2vorstellung.
 

Karl Marx, 1867, Foto: Friedrich Karl Wunder, Bearbeitung: Svajcr/Wikimedia

Karl Marx, 1867, Foto: Friedrich Karl Wunder, Bearbeitung: (Svajcr/Wikimedia, Public Domain)

Adorno verweist nun darauf, dass Webers Wert2freiheitslehre um 1900 als offensichtlicher Gegenentwurf zur Marx’schen Wert1theorie entstand: Weber stellte Karl Marx von den Füßen auf den Kopf, indem er statt der ökonomischen (wieder) die ideellen Verhältnisse in den Fokus rückte. Der Wert2begriff Webers war von jeder Beziehung zur gesellschaftlichen Produktion von Waren befreit, aber immer noch ein gesellschaftliches Vergleichs- und Austauschmaß. Dadurch erlaubte es die Bewert2ung von Positionen, Handlungen und Akteuren, ohne nach der Begründung der angelegten Wert2maßstäbe in der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung von Werten1 fragen zu müssen.

Während sich in der Ökonomie im 19. Jahrhundert der Wert1begriff als vergleichender Ausdruck für Eigenschaften austauschbarer Objekte etablierte, entwickelten sich parallel Wert2philosophien, die einerseits auf ewige Werte2 verwiesen, ihre Maßstäbe jedoch andererseits aus reinem Gefühl schöpfen wollten.

Entsprechende Phänomene können wir auch im Journalismus der Gegenwart feststellen: Indem Medien wie im Fall Glenn Greenwald nach den Wert2vorstellungen von Journalismus fragen und diese mit angeblichen Wert2orientierungen des Journalismus kontrastieren, indem sie nach dem Wert2, den “eine unabhängige Presse” für die Demokratie habe, und nach den Unterstützungspflichten des Staats und der Gesellschaft für diese Presse fragen, lenken sie stets den Blick ab von der eigentlichen Frage nach dem Wert1 von Journalismus, sowie seiner Erzeugung und Verteilung im gesellschaftlichen Produktionsprozess.

Wenn die Werte2 sich aber stets auf Werte1 beziehen, ideelle Vorstellungen ihre Grundlage in ökonomischen Austauschverhältnissen finden, dann bedeutet das, dass nichts Wesentliches verloren geht, wenn man statt über Werte2 im Journalismus doch besser über Journalismus als Ware und die mit seiner Produktion zusammenhängenden Werte1 spricht.

Die Erfahrung – nicht nur – der Zeitungskrise besagt doch, dass zwischen Produktionsaufwand (Angebot) und Nutzenerwartung (Nachfrage) ein Preis kaum noch gebildet werden kann, so dass allerlei Maßnahmen zur Preisstützung erforderlich erscheinen, damit überhaupt Journalismus als Ware gehandelt werden kann.

Das gilt sowohl für den Handel von Journalismus zwischen (freien) Journalisten und Verlagen, als auch für die Vermarktung zwischen Verlagen und ihren Abnehmern, seien es nun Werbekunden oder Leser. (Als “Kostenlosmentalität” soll das Problem erneut in den Bereich des rein Geistigen verschoben werden.) Entweder Preisstützungsmaßnahmen oder Untergang des Journalismus und damit auch von Öffentlichkeit und Demokratie, darin scheint die unerfreuliche Alternative zu bestehen, über die hinaus nichts denkbar ist. Doch das Dilemma ist: Weder staatliche noch wirtschaftliche Initiativen zur Preisstützung erlauben es, von unabhängigem Journalismus zu sprechen, wie er für Öffentlichkeit und Demokratie erforderlich ist.

Umso weniger lässt sich diesem Dilemma entrinnen, je mehr über Werte2 und “Information ohne politische Agenda” nachgedacht wird. Der Ausweg lautet also, das Wert1-Konzept über Bord zu werfen und das Wert2-Konzept zu ignorieren: Journalismus muss nicht von Wert2vorstellungen befreit werden, sondern von seinem Warenwert1.
 

Ngram für die relative Häufigkeit des Wortes "Wert" in deutschsprachigen Büchern des Google-Korpus

Das Wort “Wert” boomte im Deutschen zwischen 1900 und der Weltwirtschaftskrise, erneut seit der Jahrtausendwende. Ngram für die relative Häufigkeit des Wortes “Wert” in deutschsprachigen Büchern des Google-Korpus.

 
Wenn der Journalismus seinen Wert1 völlig verliert, bleiben ausschließlich Aktivismus und Public Relations übrig. Public Relations freilich in einem weiten Sinn, der die vom Bundestag selbst organisierte Liveübertragung ebenso umfasst wie die heute als “Pressemitteilung” bezeichnete Unternehmenskommunikation, die von der Presse oft kaum verändert weiterverbreitet wird.

In den genannten Fällen ist unabhängiger Journalismus bereits weitgehend ausgeschaltet. Etwas anders sieht es aus, wenn Konzerne im Rahmen sozialen Engagements unabhängige Institutionen – etwa Stiftungen – finanzieren, deren Auftrag publizistische Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht ist. Ohne solche Einrichtungen sind jedoch aufwendige Recherchen kaum mehr finanzierbar – es sei denn, als eine Art Aktivismus, der sich crowdfunded: Statt für eine Organisation entgeltlich tätig zu sein und zum Beispiel Verbraucherschutzinformationen zu sammeln und zu verbreiten, können Journalisten “für die gute Sache” bereits größere Summen durch Crowdfunding einwerben. (Crowdfunding ist übrigens Anglizismus des Jahres 2012.)

Der Journalist Jens Weinreich beispielsweise entfernte sich durch preisgekröntes Bloggen von der üblichen Verwertungsweise freier Journalisten. Weil Weinreich nicht nur kritischer Berichterstatter über Sportpolitik, sondern auch dezidierter Anti-Doping- und Anti-Korruptions-Aktivist ist, wurde er dem Deutschlandradio 2012 so unbequem, dass die Rundfunkanstalt die langjährige Zusammenarbeit aufkündigte.

Jens Weinreich bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in London 2012, Foto: Jens Weinreich, CC BY-NC-ND

Jens Weinreich bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in London 2012, Foto: Jens Weinreich, CC BY-NC-ND 3.0

Die empfindliche Einkommenslücke stopfte Weinreich zuletzt unter Ausschaltung der Redaktionen als Zwischenhändler: Direkt vom Publikum sammelte er für ein Buch über das Internationale Olympische Komitee (IOC) über 15.000 Euro ein und versilbert so seine investigative Arbeit, die direkt gegen Korruption im Sport gerichtet ist.

Wer aufgrund dieses Aktivismus’ Zweifel an der zuverlässigen Wahrheit von Weinreichs Recherchen hegt, kann beruhigt sein: Unwahrheiten kann er sich nicht erlauben, ohne in Grund und Boden geklagt zu werden. Die Ware, mit der Weinreich handelt, ist aber nicht bloße Information: De facto ist er wohl eine Mischung aus PR-Agent und Privatdetektiv für eine Position, die sonst keine Verfechter hat, jedenfalls nicht so schwerreiche wie die Gegenseite. Das Buchprojekt verdeutlicht, dass über 500 “Investoren” Weinreich zumindest auch dafür engagiert haben, dass irgendjemand dem IOC auf die Finger schaut. Den meisten war das zumindest 20 Euro wert.

Aber auch Journalismus, der völlig wert1los betrieben wird, in der Freizeit, ohne wirtschaftlichen Zusammenhang, ersetzt die “unabhängige Presse”: Das Internet macht’s möglich. Wer sich lieber bei Facebook als im Lokalanzeiger darüber informiert, was im eigenen Lebensumfeld Spannendes passiert, muss nicht viel verpassen. Obendrein gibt es “Nachrichten” und “Meldungen”, die keine Lokalzeitung bieten kann: Urlaubsfotos von Onkel Fritz aus Amerika und Rezeptideen von Tante Hilde aus Thüringen. Wer Blogs zur politischen Meinungsbildung nutzt, kann seine Informationsdiät quasi beliebig tief und beliebig breit gestreut auf die eigenen Interessen zuschneiden.

Selbst die Glaubwürdigkeitseinschätzung kann bei der spezifischen Auswahl von Informationsquellen besser gelingen als in so mancher redaktionellen Zusammenstellung namens Zeitung. Die Kostenlosmentalität ist dabei kein Problem, sondern eine historische Chance. Verschiedene Akteure veröffentlichen im Rahmen der Public Relations Informationen im Eigeninteresse. Verbreitung und Bewertung erfahren diese Informationen in Online-Communities. Die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit übt ein Shitstorm (übrigens Anglizismus des Jahres 2011) ohnehin besser aus als “die Medien” als vermeintliche Inhaber der “vierten Gewalt”.

Voraussetzung für diese Art von Öffentlichkeit, die nicht mehr wesentlich in Form von Waren produziert wird, ist die Befreiung ihrer Akteure von der Notwendigkeit, Öffentlichkeit zum Broterwerb zu betreiben. In Blogs, Foren und sozialen Netzwerken wirken bereits Millionen an der Erzeugung von Öffentlichkeit mit – ob es sich um vernetzte Teilöffentlichkeiten handelt wie bei Facebook, um eine prinzipiell weltweite Öffentlichkeit wie bei Twitter, oder um thematisch beschränkte Spezialöffentlichkeiten.

Zu den gesellschaftlichen Zielen, die sich daraus ergeben, gehört die Garantie der Grundlagen dieser Öffentlichkeit: Wirtschaftliche Sicherheit und Arbeitsverteilung, Bildung statt bloßer Berufsqualifikation, außerdem technische und rechtliche Absicherung des Internets als öffentlicher Infrastruktur. Da das Internet heute schon als Voraussetzung zur Verwirklichung der Menschenrechte auf freie Meinungsäußerung und freien Informationszugang anerkannt ist, würden seine Drosselung oder Sperrung die Betroffenen von Öffentlichkeit und Demokratie ausschließen. Auch die Software-Infrastruktur sozialer Netzwerke kann, wenn man ihrer Bedeutung für die Herstellung von Öffentlichkeit Rechnung trägt, nicht völlig ins Belieben von Privatunternehmen gestellt sein, sondern erfordert die Erfüllung von Mindestbedingungen, die rechtlich garantiert sein müssen.

 
* Seiten 71–75 in: Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf, Harald Pilot, Hans Albert, Jürgen Habermas, Karl R. Popper: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Luchterhand, Neuwied u.a. 1969
 
Im dritten Teil diskutiere ich, was das in Zukunft für die Möglichkeiten demokratischer Politik bedeutet. Hier geht es zum ersten Teil.
 

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