#Aufdeckung

Whistleblowing · Geschichtsbücher der Zukunft

von , 11.6.13

Wenn sie es überhaupt zu einem Kapitelchen, einer Fußnote, bringen. Oder in der Wikipedia, wenn es die dann noch gibt? Oder wird so etwas wie dieses Online-Lexikon die Geschichtsbücher verdrängt haben, weil es sich fließender und unbürokratisch den politischen Erfordernissen, der gesellschaftlich gewünschten Wahrheit anpassen lässt?

»Nun schlagen wir alle mal die URL „http://de.wikipedia.org/wiki/Assange“ auf und das Karlchen liest vor! « Ein gelangweilter Lehrer – in ferner Zukunft – hinter einer bruchsicheren Glasscheibe zeigt auf einen kleinen Jungen auf der letzten Bank. Karlchen ist den Tränen nahe. Er leidet unter Lese- und Schreibschwäche – alle wissen das – und deswegen muss er jetzt auch vorlesen.

»Der Cyber-Terrorist Julian Assange …« Dann kommen so schwere Worte wie »Vergewaltigung«, »Verräter« und »bedauerlicher Flugzeugabsturz«. Karlchen hasst es, vorzulesen. Aber ein paar Reizworte bleiben doch in seinem kleinen Gehirn hängen. Terrorist und Verräter versteht selbst er, und wenn es jetzt nicht zur großen Pause geklingelt hätte, würde er noch freudestrahlend verkünden, dass es toll wäre, dass alle Cyber- und anderen Terroristen ihrer gerechten Strafe nicht entkommen können.

Karlchen ist zwar doof, aber auch sehr, sehr staatstragend.

Was über die anderen dort wohl noch steht, und ob es noch mehr Namen geworden sind? Zu hoffen wäre es, aber der Propagandaapparat wird dieselbe Qualität bekommen haben, wie die Überwachung der Gedanken. Sie gehen Hand in Hand, und so wird man dafür sorgen, dass es sich um bedauerliche Verwirrte handelte, Einzelfälle.

Edward Snowden hat dieser Tage das Ausmaß der Schnüffelei des amerikanischen NSA offengelegt. Die Veröffentlichungen seien wegen des »enormen Schadens« für die Geheimdienstarbeit »geradezu herzzerreißend«, sagte der Geheimdienstkoordinator James Clapper dem Sender NBC News. Prism sei »kein geheimes Programm zum Sammeln oder Aufsaugen von Daten, sondern ein internes Computersystem der Regierung. «

Das Adjektiv »herzzerreißend« ist geschickt gewählt, unterstellt es doch ehrlichen Glauben, wo die Fakten eine andere Sprache sprechen. Und wenn es nicht geheim ist, sollte sich der Schaden ja auch in Grenzen halten. Aber nach der Vielzahl der Mordaufrufe gegen Julian Assange ist wahrscheinlich eine weitere Eskalation der Drohungen zu befürchten.

Der Whistleblower flüchtete nach Hongkong. Snowden will »in jedem Land, das an die Meinungsfreiheit glaubt« um Asyl bitten. Namentlich nannte er Island. Es ist eine große Welt, und Island ist bemerkenswert klein. Weitere Vorschläge werden vermutlich gern entgegengenommen.

Edward Snowden hat aus dem Schicksal Bradley Mannings gelernt: Sein Gesicht und seine Geschichte erscheinen vor den regierungsseitigen Unterstellungen und Verleumdungen. Es ist seine Version der Geschichte, seine Weltsicht, die die Schlagzeilen bestimmen.

Die Propaganda-Maschine muss hinterherarbeiten, kann nicht präventiv tätig werden. Das gibt ihm einen hauchdünnen Vorsprung, aber er sollte selbst am besten wissen, welche ungeheuren Möglichkeiten in diesem Apparat stecken, jedes noch so unglaubliche Gerücht in die Welt zu setzen; mit gefälschten »Beweisen« die Öffentlichkeit beliebig zu beeindrucken. Der US-Geheimdienst steht vor einem Informationsdesaster: Man wird sich zu wehren wissen.

Was wird in den Geschichtsbüchern stehen? So etwas wie von der roten Kapelle? Dem kommunistischen Widerstand gegen den Faschismus? In der ehemaligen DDR erinnerte man wenigstens mit einer Briefmarke daran.

Island bevorzugt Vulkanausbrüche und heimatverbundene Motive auf seinen Postwertzeichen – schlechte Aussichten für Widerstandskämpfer, die dort um Asyl bitten. Und als Widerstandskämpfer einer neuen Generation muss man die Drei wohl betrachten. Diese Sorte Menschen hat es niemals zu posthumen Ehren gebracht, wenn sie allein für ethische Werte und nicht für eine gesellschaftlich relevante Gruppe auftraten. Stauffenberg starb für die verlorene Ehre des deutschen Offizierscorps, nicht für den missglückten Tyrannenmord. Wer kennt Maurice Bavaud?

Morgen – in ferner Zukunft – muss Karlchen wieder vorlesen. Das kann er, wie wir erfahren haben, nur sehr schlecht. Er wird auch nicht die komplizierten Zusammenhänge verstehen, sich nicht die Jahreszahlen merken und miteinander in Verbindung bringen.

Nur Worte wie »Terroristen«, »Al-Qaida«, »Staatsnotwehr«, »9/11« und »gerechte Strafe« werden in seinem kleinen Hirn bewirken, dass Karl auch übermorgen – in ferner Zukunft – gut funktioniert.
 

»Diese Welt wird letztendlich nur dann irgendwann wirklich demokratisch und freiheitlich werden, wenn wir es weltweit schaffen, Phänomene wie (nationale) Geheimdienste zu überwinden. […]

Solange Nationalstaaten Geheimdienste unterhalten, die mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet werden, im Verborgenen agieren dürfen und keiner effektiven Kontrolle unterliegen, solange wird man auch diejenigen hart bestrafen, die sich dieser Logik widersetzen, indem sie solche Informationen und Vorgänge öffentlich machen, die dieser merkwürdigen Geheimhaltungslogik unterliegen.«

Thomas Stadler auf seinem Internet-Lawblog

 
Crosspost von der Schrottpresse

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