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Evgeny Morozov: Der Irrglaube des Internetzentrismus

von , 8.4.13

Mehr denn je soll uns technischer Fortschritt den Weg in eine strahlende Zukunft weisen. Facebook verspricht ein friedlicheres Zusammenleben aller Menschen, Google will das Kompendium menschlichen Wissens sein, und mithilfe von Smartphone-Apps kontrollieren wir unseren Kalorienverbrauch und die tägliche Schrittzahl.

Was aber ist dran an diesem Versprechen? Können wir unser Leben mithilfe digitaler Technologien und Apps tatsächlich grundlegend verbessern? Diesen Fragen geht der gebürtige Weißrusse Evgeny Morozov in seinem neuen Buch „To Save Everything Click Here“ nach. Auf über 400 Seiten beleuchtet er die Ideologien des Internetzeitalters und zeigt deren Auswirkungen auf unser Handeln und unser soziales Zusammenleben auf.

 

Solutionism und Internet-centrism

Den Ausgangspunkt von Morozovs Überlegungen bilden zwei Strömungen, die aus seiner Sicht den Diskurs über das Internet maßgeblich bestimmen: der „Solutionism“ des Silicon Valleys auf der einen und der „Internet-centrism“ auf der anderen Seite.

Den Begriff „Solutionism“ entleiht Morozov der Architektur und der Stadtplanung. Der Ansatz verspricht, mithilfe „smarter“ technologischer Produkte und der Auswertung gigantischer Datenmengen („Big Data“) selbst komplexeste Probleme unseres kulturellen und politischen Alltags im Handumdrehen zu lösen. Der Solutionism steht dem Konzept des Social Engineerings nahe, das vor allem in den 70er Jahren populär war. Schon damals glaubte man, die Gesellschaft mit Hilfe technokratischer Lösungen optimieren zu können.

Der Solutionism zäumt das Pferd jedoch zumeist von hinten auf. Statt ein Problem erst einmal gründlich zu analysieren, wird dieses einfach vorausgesetzt und dann auf vermeintlich effiziente Art technisch gelöst – noch bevor die dafür notwendige Analyse erfolgt ist.

In Morozovs Worten ist der Solutionism daher in erster Linie
 

„an unhealthy preoccupation with sexy, monumental and narrow-minded solutions – the kind of stuff that wows audiences at TED conferences – to problems that are already extremely complex, fluid, and contentious.“ (S. 6)

 
Somit überrascht es wenig, dass die „Silicon Valley“-Lösungen aus Sicht Morozovs im Ergebnis eher schaden, als zur Lösung eines Problems beizutragen. Als Beispiel führt Morozov die Einführung von Online-Kursen an amerikanischen Universitäten an. Zwar könnten diese den Studierenden durchaus eine Fülle an Wissen beibringen, kritisches Denken können sie jedoch nicht vermitteln – „they won’t organize your thoughts into a coherent argument“ (S.9) .

In dem Versuch von Start-Up-Unternehmen, klassische Lernangebote durch E-Learning zu ersetzen, erkennt Morozov daher auch vor allem „a rather explicit mismatch between the idea of education embedded in the proposed set of technological solutions and the time-honored idea of education still cherished at least by some colleges.“ (S.9) Besonders fatal ist es aus seiner Sicht, wenn das Versprechen auf vermeintlich effiziente Lösungen hilfreiche und möglicherweise kostspieligere Reformen verhindert.

Der Solutionism des digitalen Zeitalters ist überzeugt, dass insbesondere das Internet völlig neuartige Lösungen für gesellschaftliche Probleme bereithält. Diese von Morozov als „Internet-Centrism“ bezeichnete Sichtweise folgt der Überzeugung, „that we are living through unique, revolutionary times, in which the previous truths no longer hold, everything is undergoing profound change, and the need to ‚fix things’ runs as high as ever.“ (S. 15 f.)

Der euphorische Optimismus des Internet-centrism und die Optimierungsbestrebungen des Solutionism gehen längst Hand in Hand. Die vermeintlich effizienten Patentlösungen im Internet müssen nur noch ihren Weg in die ineffiziente „analoge“ Welt finden. Das schlichte Credo lautet: Was Wikipedia, Google und Facebook im Internet so erfolgreich macht, soll nun auch unsere Bildung, unsere Demokratie und das Leben jedes Einzelnen optimieren.

 

Die normative Kraft des Internets

Das Netz steht damit im Zentrum einer neuen Meta-Erzählung, die gleichsam religiöse Züge annimmt. Denn zum einen betrachten es seine Anhänger als etwas Kohärentes: Für sie besitzt das Internet eine eigene Natur und folgt seiner ganz eigenen Logik. Zum anderen werden ihm allein technische Errungenschaften zugeschrieben – vom Crowd-Sourcing über kollaboratives Handeln bis hin zur Datenkomprimierung.
 

„It’s that history itself is deemed irrelevant, for „the Internet“ is seen as representing a distinct rupture with everything that has come before – a previously unreachable high point of civilization.“ (S. 44)

 
Eben hier liegt für Morozov eine wesentliche Ursache für den Erfolg des Solutionism. Weil seine Vertreter das Internet als „revolutionär“ und zugleich losgelöst von historischer Kontinuität betrachten, fällt es ihnen leicht, die technologischen Entwicklungen von der sozialen Sphäre zu trennen – und zugleich normativ aufzuladen:
 

„One of the greatest misconceptions of the last few decades has been the idea that technology ought not to intrude on questions of morality, that it ought to tread its own carefully delineated path, separate from that of humans and their political projects, like liberalism. Morality here, technology there: the two should never overlap.“ (S. 323)

 
Aus Sicht des Solutionism erfordert der technische Fortschritt eine Anpassung des individuellen Verhaltens, der zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch der politischen Prozesse. Morozov weist nach, wie der Solutionism bereits erfolgreich Einfluss nimmt auf die Kriminalitätsprävention, den Kampf gegen die Erderwärmung oder die „Optimierung” politischer Prozesse.

Dem Internet werden dabei ironischerweise Eigenschaften zugeschrieben, die der sozialen Welt entnommen sind: Demokratisierung, Partizipation und Transparenz. Gerade Offenheit wird als zuverlässige Lösung für nahezu jedes Problem propagiert. Statt jedoch zu diskutieren,
 

„how openness may be fostering or harming innovation, promoting or demoting justice, facilitating or complicating deliberation (…) ‘openness’ in networks and technological systems is presumed to be always good and its opposite – it’s quite telling that we can’t quite define what that is – always bad.“ (S. 90)

 
Die „Diktatur der Offenheit“ führt aus Sicht Morozovs jedoch zu zwei Problemen. Da der Internet-centrism zumeist den politischen Kontext seiner Forderungen außer Acht lässt, bestimmen fortan Google und Facebook, was noch als privat gilt. Zum anderen übersehen – oder ignorieren – seine Anhänger die Reboundeffekte, die zum Beispiel die Forderung nach totaler Transparenz erzeugt. (So kann beispielsweise die geforderte Offenlegung von Wahlkampfspenden einzelner Bürger Verunglimpfungen und Diskriminierungen nach sich ziehen.)

 

Die Macht der Algorithmen oder: Das Ende des Narrativs

Für diese Entwicklung macht Morozov einen ausgeprägten technologischen Defätismus sowie einen getrübten Blick auf die Technologie selbst verantwortlich. Weil Solutionists technische Errungenschaften als „neutral“ bewerten und erst deren Gebrauch darüber entscheide, ob sie zum Schaden oder zum Nutzen verwendet werden, betrachten sie auch das Internet unabhängig von gesellschaftlichen Kontexten – und damit: unabhängig von sozialen und politischen Machtverhältnissen.

Aus diesem Grund fällt es „Technoneutrals“ leicht, kommerziellen Anbietern ihre Vorlieben und Interessen preiszugeben, um Empfehlungen für Bücher, Filme und neue Freunde zu erhalten. Sie begrüßen es sogar, wenn ihnen Algorithmen Entscheidungen abnehmen und eine eigene Abwägung nicht länger abverlangt wird.

Dahinter steht die Überzeugung, dass die technischen Prozesse es schon irgendwie richten werden – selbst wenn die Nutzer nicht auf Anhieb erkennen, wie es zu den Empfehlungen kommt. Eine solche Einstellung nennt Morozov – nach dem französischen Philosophen Bruno Latour – „double click“:
 

„As regular computer users, we have become used to the idea that information can appear effortlessly in our browsers in a matter of clicks.“ (S. 72)

 
Wenn der einzelne Bürger jedoch nur noch Entscheidungen abnicken muss, kommt ihm – so Morozov – die „narrative imagination“ und am Ende möglicherweise sogar die eigene Begründbarkeit seines Handelns abhanden.
 

„Narrative imagination (…) knows that most present practices, norms, and commitments are not timeless and that, by claiming to be the only way of doing things, they usually conceal many other alternatives. It acknowledges that even facts can be revised; one day we might think that being overweight is very bad for your health, and just a few years later we might discover that the extra weight could actually protect you from many serious diseases.“ (S. 261)

 

Wider die Internetideologie: Die Macht der Deliberation

Vor diesem Hintergrund plädiert Morozov für einen radikalen Perspektivwechsel. Statt technologische Entwicklungen neutral zu betrachten, müssten wir diese immer auch als Teil sozialer Kämpfe um gesellschaftliche Teilhabe begreifen, in die wir alle verwickelt sind. Aus Sicht eines „Technostructuralist“ erklärt sich daher die Wirkung einer bestimmten Technologie „deduced from analyzing how particular aspects of a given technology (…) might restructure political and social relations, introducing entirely new classes of actors into the game.“ (S. 170)

Technologie und Gesellschaft müssen aus Morozovs Sicht demnach wieder zusammen gedacht und von vermeintlich objektiven Anforderungen befreit werden. (So wie es beispielsweise bei der Bewertung der Atomenergie längst üblich ist.) Weder das Internet noch die ihm scheinbar innewohnenden Ideen sind einfach so vom Himmel gefallen, sondern sozial konstruiert. Es gibt daher für Morozov auch keinen stichhaltigen Grund, warum Transparenz und Offenheit Werte sein sollen, die fortan automatisch verbindlich für das menschliche Zusammenleben gelten sollen.
 

„Unless we are prepared to trace how such construction happens, not only will we write bad history of technology, but we will end up with extremely confused policy making that treats contingent and fluid phenomena (which of course might be worth defending) as permanent and natural fixtures of the environment.“ (S. 93)

 
Morozov fordert daher, dass wir wieder über das Internet hinausblicken. Nur so können wir erkennen, wie Technologien produziert werden, welche Entwicklungen ihnen zugrunde liegen und welche Auswirkungen sie auf unser Zusammenleben haben. Wir müssen das Internet betrachten
 

„as a socially constructed concept that could perhaps be studied by sociologists, historians, and anthropologists – much as they study the public life of ideas such as ‘science’, ‘class’ or ‘Darwinism’ – but that tells us nothing about how the world works and even less about how it should work.“ (S. 355)

 
Bei der Säkularisierung der Technologiedebatten sind wir ausgerechnet auf die ineffiziente Form demokratischer Deliberation angewiesen. Aus Morozovs Sicht ist es – den Grundüberzeugungen des Solutionism zum Trotz – gerade die „unbequeme“ Ineffizienz unseres politischen Systems und unseres Rechtssystems, die die notwendigen gesellschaftlichen Reibungen herbeiführt und damit den Weg zu gesellschaftlichem Wandel ebnet:
 

„When inefficiency is the result of a deliberative commitment by a democratically run community, there is no need to eliminate it, even if the latest technologies can accomplish that in no time.“ (S. 314)

 
Morozov hofft, dass die Verfechter technologischer Lösungen auf diese Weise ihre Entwicklungen und deren Ziele zur Debatte stellen müssen – und damit in deliberativen Rechtfertigungszwang geraten. Im Ergebnis wäre technologischer Fortschritt nicht länger reiner Selbstzweck, sondern müsste sich gesellschaftlichen Zielen unterordnen. Und gerade diese Forderung nach einer Politisierung der Technologiedebatten begründet den aufklärerischen Wert des überaus lesenswerten Buchs von Evgeny Morozov.
 

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