#Echtzeit-Journalismus

Echtzeit-Journalismus als Geschäftsmodell

von , 17.12.12

Kai Diekmann hat vorgestern in einem Tweet auf diesen Artikel verwiesen. Es geht um die Veränderungen im Journalismus, die durch die sozialen Netzwerke ausgelöst werden. An dem Schulmassaker in Newtown konnte man sehen, wie soziale Netzwerke Verstärkungseffekte auslösen, die den klassischen Journalismus in das Desaster der Echtzeit-Berichterstattung treiben.

Das gilt nicht nur für die USA. So hatten sowohl Spiegel-Online als auch die Süddeutsche Live-Ticker installiert, um über neue Erkenntnisse zu berichten. Unter dem Zeitdruck des Echtzeit-Journalismus war eine Überprüfung der Fakten allerdings unmöglich. So wurden in Echtzeit zumeist lediglich Gerüchte und Falschmeldungen transportiert. Das betraf die Identität des Attentäters genauso, wie etwa die Vermutung, dass die ermordete Direktorin der Grundschule dem Attentäter Einlass gewährt habe.

Solche Live-Ticker haben keine journalistische Funktion: Sie befriedigen die Neugier des Publikums, aber können schon ihrer Natur nach keinen journalistischen Nutzen generieren. Es geht nur um Leserbindung durch Schnelligkeit in einem Wettbewerb namens Exklusiv-Nachrichten. Allerdings findet sich in dem von Diekmann verlinkten Text ein interessanter Gedanke.

“One way to do this is for journalists both pro and amateur to shift their skillset from simply reporting facts to assembling and/or fact-checking them, using the crowd for assistance as Carvin has, and focusing on the kind of approach taken by the BBC’s “user-generated content” desk and other innovative approaches to the process. In the end, we could wind up with not just a new way of building the news, but a dramatically better one.”

Nun bin ich mir nicht sicher, ob auf Plattformen wie der BBC solche Diskussionsprozesse sinnvoll zu organisieren sind. Sie werden zumeist von der Menge der dort zu findenden Kommentare schlicht erschlagen. Relevante Diskussionsprozesse, die aus Rede und Widerrede bestehen, können dort nicht mehr stattfinden. Ein zu großer Schwarm erzeugt nur noch Konformität – oder Selbstgespräche, wo jeder lediglich auf sich selbst hört.

Solche Diskurse funktionieren aber in einer Struktur, die mit einem guten Universitätsseminar vergleichbar wäre. Eine überschaubare Zahl Teilnehmer versucht die Hintergründe eines Sachverhalts zu ergründen und zugleich kontrovers zu diskutieren. Solche Debatten brauchen unterschiedliche Sichtweisen und nichts weniger als die Neigung, sich in seiner Meinung über die Welt bloß bestätigen zu lassen. Das fehlende Irritationsmoment ist nämlich zugleich das größte Defizit des Echtzeit-Journalismus. In ihm geht es nur um die Generierung von Aufmerksamkeit. Diekmanns “Bild” liefert dafür jeden Tag neue Beispiele.

Blogs sollten hier ihre Nische suchen. In der Schnelligkeit können sie nicht mit Twitter mithalten, und ihre begrenzten Ressourcen machen sie in der Konkurrenz zu großen Nachrichten-Plattformen chancenlos. Aber sie sind wahrscheinlich das einzige Format, um das einzulösen, was Mathew Ingram in dem Zitat fordert: Strukturierte Debatten über das zu ermöglichen, was gerade passiert – und/oder in dieser Gesellschaft wichtig ist. Und damit zugleich den Journalismus zu irritieren. Dass er es nötig hat, zeigte sich an der Berichterstattung über Newtown. Er verfehlt nämlich seine Funktion, wenn er die Defizite sozialer Netzwerke zur Grundlage eines neuen Geschäftsmodells zu machen versucht.

update

Darf man den Opfern des Schulmassakers ein Gesicht geben?
Crosspost von Wiesaussieht

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