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Ein typisch demokratischer Prozess

von , 11.11.12

Am Samstag entschied ich, dass Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin die beiden Spitzenkandidaten meiner Partei Bündnis 90/Die Grünen für die Bundestagswahl 2013 sind. Ich* – ich bin die Basis – bin wie mehr als die Hälfte der Mitglieder meiner Partei erst nach dem Wahljahr 2009 den Grünen beigetreten. Ich habe noch nie gegen einen Castor-Transport demonstriert; als der Kosovo-Krieg anfing, hatte ich meine Jugendweihe, und die rot-grünen Regierungsjahre habe ich in der Pubertät statt auf Bundesdelegiertenkonferenzen verbracht. Ich war nie Mitglied der Grünen Jugend, habe noch nie Joschka Fischer getroffen, und von Claudia Roth wusste ich bis vor ein paar Monaten nur, dass sie einmal Managerin der Band Ton Steine Scherben war. Die Urwahl war mein erstes historisches Ereignis als Grüner, und, wie für viele andere Parteimitglieder auch, wird die Urwahl für mich identitätsstiftend sein.

Es klingt wie ein typisch demokratischer Prozess. 59.266 grüne Mitglieder waren dazu aufgerufen, die beiden Grünen aus ihrer Mitte zu wählen, die die Partei als Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr anführen sollen. Doch dieser Vorgang war nicht typisch für eine Partei, und das erklärte auch vom ersten Tag an die Aufregung über das Thema.

Aufregung und zwei Stimmen für jeden

Einige waren aufgeregt, weil sich die bekannten grünen Politiker nicht einigen konnten, wer denn Spitzenkandidat werden sollte. Andere waren aufgeregt, da – nachdem die Idee der Urwahl geboren war -, eine Möglichkeit der direkten Teilhabe aller an dieser Entscheidung bestand. Ein attraktiver Gedanke für eine Partei, die mehr Basisdemokratie fordert – was hier vorgelebt werden konnte -, weshalb die politische Führung der Grünen die Idee auch schnell für sich entdeckte. Auf dem Länderrat, dem kleinen Parteitag der Grünen, wurde Anfang September entschieden, dass die Spitzenkandidaten, die die ″Partei im Wahlkampf in herausgehobener Position″ vertreten, durch die Urwahl ermittelt werden sollten.

Jedes Mitglied konnte zwei Stimmen vergeben, wobei nicht zwei Stimmen auf zwei männliche Bewerber entfallen (wir quotieren sehr gerne!) und nicht beide Stimmen auf eine Person vereint werden durften (wir sind für Doppelspitzen!). Alternativ konnte insgesamt mit Nein oder Enthaltung gestimmt werden, was aber kaum jemand in Anspruch nahm. Über 61 Prozent der Grünen haben an dieser Urwahl teilgenommen und mit dieser sehr hohen Wahlbeteiligung das Experiment Urwahl schon zu einem basisdemokratischen Erfolg gemacht, bevor die beiden Spitzenkandidaten feststanden. Aus einem Bewerberpool von 15 Kandidaten konnten wir als Basis unsere neue Wahlkampfspitze wählen. Dabei waren natürlich bekannte Grüne wie Claudia Roth, Renate Künast und Jürgen Trittin. Manch einer konnte sich auch noch an Katrin Göring-Eckardt auf grünen Posten erinnern, einige davon nicht sehr gerne, doch für die meisten war sie ein neues Gesicht – dazu noch irgendwie besonders: eine ostdeutsche Protestantin.

Foren, Profis und Unbekannte

Auch die anderen, bis dahin unbekannten Basiskandidaten hatten die Möglichkeit, sich auf insgesamt 11 regionalen Urwahl-Foren zu präsentieren. Ich besuchte zwei dieser Foren und machte mir, wie viele Grüne vor Ort oder mit Hilfe der Livestreams, ein persönliches Bild von diesen Herausforderern. Ich war überrascht, positiv wie negativ, von diesem bunten Querschnitt der grünen Partei. Manche Aussagen wirkten vielleicht peinlich, andere sehr ungrün, einige wiederum vollkommen chaotisch, aber diese elf Menschen haben sich etwas getraut, das sich mehr als 59.250 andere Grüne nicht getraut haben. Sie sind für etwas, an das sie glauben, und sei es an sich selbst, aufgestanden und gegen absolute Politikprofis angetreten. Mit Patrick Held und Nico Hybbeneth waren auch zwei sehr junge und sympathische Kandidaten dabei, die zeigten, dass Erfahrung nicht alles ist, wenn man etwas verändern möchte. Beide sind Mitglieder der Grünen Jugend und belegten mit Platz 5 und 7 hervorragende Ergebnisse für ihre Möglichkeiten.

Manch professionellem Politiker war der eine oder andere Auftritt der Basismitglieder vielleicht unangenehm. Meines Erachtens hat aber kein Auftritt der Partei in der Wahrnehmung geschadet, und sich mit manchem Unsinn auch auseinandersetzen zu müssen, gehört eben zur Demokratie dazu. Genauso wie die Akzeptanz des Ergebnisses, das wohl nicht nur für mich eine Überraschung war.

Mit Jürgen Trittin konnte als Spitzenkandidat fest gerechnet werden – die Berichterstattung ließ daran keinen Zweifel, was wohl auch Trittin fast schon störte. Siegessichere Presse hat schon manchem Kandidaten geschadet, aber mit 71,93 Prozent schaffte er ein sehr gutes Ergebnis. Der Sieg von Katrin Göring-Eckardt war eine Überraschung. Ich kenne sie nur von ihrem Wikipedia-Artikel, die Wahlkampf- und Werbeversuche einiger ihrer Anhänger empfand ich als peinlicher als manche Antwort auf einem der Foren, doch die Basis hat sich für sie entschieden. Viele alte Grüne nehmen ihr noch immer übel, dass sie, die ″Oberreala″, die unter ″Schwarz-Grün-Dauerverdacht″ steht, sich hinter die Hartz IV-Reformen gestellt hat, andere kennen sie nur als Bundestagsabgeordnete, die sich zuletzt redlich in der Familien- und Sozialpolitik engagierte.

Das Ergebnis mag überraschend wirken, doch vielleicht ist es das gar nicht. Vielleicht sind die Grünen durch die vielen neuen Mitglieder nicht mehr die Partei, die sie nur noch in den Köpfen älterer Mitglieder ist – eine linke Partei. Letztes Jahr gewann ein konservativer Grüner die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, letzten Monat ein ebenso konservativer Grüner die Stuttgarter OB-Wahlen und damit die erste Landeshauptstadt.

Für Katrin Göring-Eckardt sind diese Wahlsiege Ausdruck dafür, dass es kein ″klar abgrenzbares bürgerliches Lager gibt″, dass sich ″diejenigen Wählerinnen und Wähler, die sich offenbar von den Grünen vertreten fühlen″, sich längst jenseits klar definierter Lager bewegen und zumindest nicht mehr links sind, wie sie einen Tag nach Abgabefrist der Wahlunterlagen im European  schrieb. Sie nennt das die ″Grüne Bürgerlichkeit″, ein Begriff, den linke Grüne wie das ehemalige Mitglied Julia Seeliger ablehnen. Julia Seeliger verdrängte Katrin Göring-Eckardt im Dezember 2006 auf dem Parteitag, was als Linksruck, als Rückbesinnung auf die Sponti-Vergangenheit der Grünen gewertet wurde. Die Partei ist inzwischen eine andere, es gibt fast 30.000 neue Grüne, Julia Seeliger gehört nicht mehr dazu, und Katrin Göring-Eckhardt ist nun die Spitzenkandidatin.

Ein Glücksfall

Strategisch wird das Ergebnis als Glücksfall gewertet. Ein vom rechten Flügel anerkannter Linker, der seit Monaten den souveränen Staatsmann probt, und eine ostdeutsche Frau vom Realo-Flügel, die beim sozialdemokratischen Wunschkoalitionspartner hoch geschätzt wird und bürgerliche Wählerschichten anspricht, was sich in Baden-Württemberg schon als Erfolgskonzept bewiesen hat. Beide Flügel sind in diesem Spitzenduo vereint, der Wahlkampf sollte also innerparteilich harmonisch verlaufen und mit der SPD gut abstimmbar sein.

Trotzdem bleiben Fragen, die es demnächst, trotz Wahlkampfs, zu beantworten gilt. Sind wir Grüne noch eine linke Partei, oder kommt mir das nur noch in meinem Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg so vor? Sind die bürgerlichen Wählerschichten, die wir so gerne für Wahlsiege ansprechen, schon ein Spiegelbild unserer Mitglieder? Was bedeutet das für das an sich noch linke Programm der Grünen? Ich persönlich werde im nächsten Jahr gerne Themen vertreten, bei mir unbekannten Köpfen bin ich mir unsicher – eine Einstellung, die ich gestern vielen Statusupdates und Tweets von Basismitgliedern entnehmen konnte. Andere rufen nach mehr Köpfen, auch ein Ausdruck von Vielfalt.

Die Urwahl war ein Erfolg, und Steffi Lemkes Empfehlung zur Nachahmung an die anderen Parteien ist ein guter Rat. ″Grün macht Demokratie lebendig – und Demokratie macht auch Grün lebendig″, sagte die politische Geschäftsführerin der Grünen am Samstag Vormittag. Recht hat sie, lebendig sollte es auch in der Partei werden, denn es gibt Redebedarf.

Ich habe nichts gegen Jürgen Trittin oder Katrin Göring-Eckardt, dazu bin ich nicht lange genug bei den Grünen, aber ich frage mich inzwischen, in was für einer Partei ich am Samstag Morgen aufgewacht bin: Ist es die, in die ich dachte, eingetreten zu sein? Diese neue Lebendigkeit ist verwirrend – sie wäre es wohl bei jeder Partei. Peer Steinbrück wäre mit einer Urwahl sicher nicht Spitzenkandidat der SPD, Angela Merkel wäre niemals Bundeskanzlerin geworden. Beide Karrieren beruhen auf Hinterzimmerpolitik, was für Parteimitglieder zugleich eine schicke Ausrede ist. Wir Grünen haben die zum Glück nicht mehr, vielleicht haben wir aber mehr bekommen als zwei Spitzenkandidaten – vielleicht haben wir eine neue Identität entdeckt.

*Nicht nur um das Wahlgeheimnis zu wahren, möchte ich festhalten, dass ich nicht Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt gewählt, sondern ″Ich″ als Synonym für die Basis verwendet habe.

Crosspost vom Isarmatrosen. Veröffentlicht unter CC BY-SA.

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