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Lawrence Lessig, die Tea Party Patriots und die Piraten

von , 16.8.12

Als Mitt Romney, republikanischer Kandidat im US-Präsidentschaftswahlkampf, am Samstag seinen designierten Vize-Präsidenten vorstellte, tat er das vor der in Norfolk (Virginia) als Museumsschiff vor Anker liegenden USS Wisconsin. Die Kulisse des im Zweiten Weltkrieg in Dienst gestellten Kanonenboots sollte medial zweierlei befördern: einerseits eine Demonstration der Entschiedenheit und Härte des zuletzt in außenpolitischen Auftritten unglücklich bis peinlich agierenden Romney, andererseits eine Art Name-Dropping zur Beförderung der Programmatik des im Schlepptau präsentierten Vize.

Romney zog, für einige Beobachter überraschend, das vermeintliche As Paul Ryan aus dem Ärmel. Der aus Wisconsin stammende, insbesondere bei den Anhängern der Tea Party beliebte Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Repräsentantenhaus trat vor das Mikrophon und sprach: „Our rights come from nature and God, not from government.” (Reuters, 12.08.2012)

Ryans Beliebtheit in der ultrakonservativen Tea-Party-Bewegung resultiert aus einem wechselseitigen Einvernehmen: anti-tax, limited-government lautet beider Credo – kurzzeitig unterbrochen lediglich durch Ryans Zustimmung zur 700 Mrd. Dollar schweren Rettungsaktion für die Wall Street-Banken 2008.

Ryan übernahm im Januar 2011, nachdem die Republikaner zuvor bei den Zwischenwahlen die Mehrheit im Repräsentantenhaus errungen hatten, den Vorsitz des Haushaltsausschusses, und legte dort im März 2012 den Budgetplan „The Path to Prosperity: A Blueprint for American Renewal“ (pdf) vor. Finanz- und steuerpolitisch steht er für eine radikale Reduzierung der Regierungsausgaben, für strikte Steuersenkungen, für eine Privatisierung der Gesundheitsversicherung für Ältere und Behinderte (Medicare) sowie Ausgabenkürzungen bei weiteren staatlichen Sozialprogrammen.

Sein Heimatstaat Wisconsin führte unter republikanischer Herrschaft 1997 das Wisconsin-Works-Modell ein, das jeglichen Sozialhilfebezug an eine Arbeitspflicht koppelte. Es diente unter dem Motto „Arbeit statt Stütze, Sprungbrett statt Hängematte!“ seit 2002 als Vorbild der hessischen CDU unter Ministerpräsident Roland Koch. Zuletzt versuchten die Republikaner Wisconsins, die Gewerkschaften zu zerschlagen und schränkten deren Rechte im öffentlichen Dienst stark ein.

„Weniger Staat, niedrigere Steuern, radikale Reformen des Sozialsystems“ fasst Die Zeit Ryans Programmatik zusammen und bezeichnet ihn als „Kopf hinter der republikanischen Haushaltspolitik im Kongress“ und als „Liebling der ultrakonservativen Tea-Party-Bewegung“.

Doch nicht nur Romney buhlt um deren Anhänger, auch Lawrence Lessig hat sich auf das Terrain der Tea Party Patriots begeben. Der Harvard-Professor, Verfasser von „Code and Other Laws of Cyberspace“ (1999) und vormalige Obama-Unterstützer rief bereits im Herbst letzten Jahres die US-amerikanische Occupy-Wall-Street-Bewegung – „We are the 99 percent!“ – dazu auf, Allianzen mit der Tea Party zu schließen. Beide Gruppen sollten zusammenarbeiten und gemeinsam eine Kampagne zur Reform des Finanzsystems anstoßen.

Dave Zirin warf ihm daraufhin auf den Onlineseiten von The Nation „Masochismus“ vor. Die Idee, mit einer Gruppierung zusammenzuarbeiten, in der rassistische und homophobe Einstellungen vorherrschten, sei „bizarr“. Lessig allerdings bestreitet Rassismus als dominantes Kriterium bei den Anhängern der Tea Party. In einer Erwiderung am selben Ort beruft er sich auf eine Umfrage von ABC News, nach der rassistische Einstellungen keinen signifikanten Einflusswert für die Unterstützung der Tea-Party-Bewegung besäßen. Fundamentale Reformen, wie beispielsweise die Beendigung der Korruption im politischen System der USA, könnten nicht – so Lessig in einem Anflug von technokratischem Effektivitätsdenken – ohne jene 30 Prozent der Amerikaner bewerkstelligt werden, die mit der Tea Party sympathisierten und eben nicht zu dem 1 Prozent der Superreichen zählten.

Inzwischen hat Lessig, der sich selbst als Liberaler bezeichnet, seine Argumentation verfeinert. Sie ist enthalten in dem im Februar 2012 veröffentlichten, 126 Seiten umfassenden Essay „One Way Forward: The Outsider’s Guide to Fixing the Republic“ (Exzerpt). Ein Auszug daraus – knapp 14 Seiten – liegt nun unter dem Titel „Leidenschaft. Tea Party, Occupy Wall Street und der Antrieb politischer Bewegungen“ auch auf Deutsch vor, erschienen in dem von Christoph Bieber und Claus Leggewie herausgegebenen Sammelband „Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena“ (Juni 2012). Darin überträgt er sein Konzept von der passiven „Nur-Lese-Kultur“, die sich mit Digitalisierung und Internet in eine aktive „Lese/Schreib-Kultur“ verwandelte, auf das Feld der Politik. Die neuen Technologien hätten, so Lessig, die „Amateure“ – nicht zu verwechseln mit durchaus auch anzutreffendem amateurhaften Verhalten – „wieder ins Spiel gebracht“.

Zwar wägt Lessig nun die politischen Unterschiede zwischen Occupy Wall Street und Tea Party stärker ab. Doch betrachtet er beide unter einem gemeinsamen Nenner – der Leidenschaft, die sowohl bei den Anhängern von Occupy als auch bei jenen der Tea Party anzutreffen sei. Leidenschaft aber ist eine Kategorie allenfalls aus der Sprache der Werbung. Sie entstammt nicht der politischen Theorie. Das ist der Grund, weshalb Vergleich und Gleichsetzung von politischen Inhalten entleert sind. Politik ist sozusagen in der Variation Lessigs Content frei geworden. Daher kann er den Akteuren am Ende der deutschen Übersetzung lediglich noch zurufen: „There is nothing right in the Left. There’s nothing left to say to the Right.“

Warum Lessigs Aufsatz, wenngleich stark gekürzt, in einem Buch über die Piratenpartei erscheint, bleibt zunächst unklar. Mitherausgeber Bieber kündigt den Beitrag als einen „aktuellen Bericht von zwei Großbaustellen der Demokratie in Amerika“ an. Er zeige, wie neue Technologien eine aktive politische Einflußnahme von unterschiedlichen politischen Spektren her zu ermöglichen „scheinen“. Einige Autoren des Sammelbands versuchen sich allerdings weniger als Analytiker der Piratenpartei, sondern als deren Vordenker. Das scheint auch hier der Fall zu sein. Mit ihm soll konzeptionell der Umstand erfasst werden, dass die Piraten eine Verortung ihrer Partei auf dem Links-Rechts-Schema ablehnen.

Das Binärschema sei nicht mehr zeitgemäß, heißt es entsprechend immer wieder gleichlautend aus der Parteiführung. Sebastian Nerz, von Mai 2011 bis April 2012 Bundesvorsitzender, betrachtete es als „überkommen“ (Deutschlandfunk, 26.03.2012), sein Nachfolger Bernd Schlömer hält es – zuletzt in einer Diskussionsveranstaltung mit Katja Kipping – für „sinnlos“ (Tagesspiegel, 04.08.2012). Ihnen allerdings geht es nicht um eine Korrektur des Links-Rechts-Schemas oder eine möglicherweise wissenschaftlich angezeigte Ersetzung durch ein komplexeres Kategoriensystem. Verdeckt werden sollen vielmehr Leerstellen in der eigenen Programmatik und daraus resultierende Differenzen in der Mitgliedschaft.

Bekanntlich ist die Finanz- und Steuerpolitik eine solche Leerstelle. Die Piraten auf Bundesebene haben sich bislang nicht positioniert. Ihre Basis diskutiert bizarr das Für und Wider der Hundesteuer. „Hunde sind ein Gefahrenpotential und ein Luxusgut [,] also nicht volkswirtschaftlich sinnvoll [,] daher wird eine Steuer erhoben“, argumentieren sagen die Einen. Die Anderen fordern, die Steuer „in der jetzigen Form abzuschaffen“ und/oder nur ab jedem zweiten Hund zu erheben. Vorschläge zur Steuererklärung erinnern an Paul Kirchhofs und Friedrich Merz‘ Bierdeckel-Steuererklärung. Positionieren sie sich darüber hinausgehend, wie zur Landtagswahl im Saarland, sehen Parteienforscher Nähen zu Union und FDP – Positionen, die „eher wirtschaftsliberale Forderungen wie die nach deutlichen Ausgabenkürzungen zur Schuldentilgung, einer effizienten, auf dem Leistungsprinzip basierenden Verwaltung oder die zustimmende Haltung zur Leiharbeit“ widerspiegeln.

Die Piraten reflektieren mit ihrer „weder-rechts-noch-links“-Weltanschauung durchaus ein relevantes Unbehagen der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Solche werden als unsachgemäß, weil ideologisch borniert oder eigenmotiviert, wahrgenommen. Die Rechnung über die Finanzkrise aber wird zeigen, wie gerecht die politischen Großströmungen deren Lasten verteilen. Auf der einen – rechten – Seite stehen diejenigen Parteien, die große Kapitalvermögen schützen und dafür die Staatsausgaben und Löhne senken wollen, auf der anderen – linken – Seite jene, die eine Änderung der politischen und sozialen Verhältnisse anstreben und die Krisenprofiteure zur Verantwortung ziehen wollen. Bildlich gesprochen, steht die Piratenpartei vor der Grundsatzentscheidung, ob sie ihre Politik zur Unterstützung der Macht von 1 Prozent oder der von 99 Prozent ausrichten will.

Lawrence Lessig hingegen muss sich fragen, warum die Tea Party Patriots die Ernennung Paul Ryans zum Vize-Präsidentschaftskandidaten umgehend – August 11, 2012 at 9:50 am – begrüßten: „With this selection, Governor Romney and the Republican Party make it clear that they have accepted the Tea Party Patriots values of fiscal responsibility, limited government and free markets as the best course of action for economic recovery and restoring personal freedom and individual responsibility to our national values.“

Romney mag mit Ryan bei der Präsidentschaftswahl im November scheitern. Lessig ist es durch seinen Flirt mit der Tea Party bereits jetzt. Die Piratenpartei steht vor einer grundsätzlichen Entscheidung.
 
Crosspost von Digitale Linke
 

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