#Demokratie

“Digitale Ortsvereine” – ein sozialdemokratisches Second Life?

von , 8.6.12

Olaf Scholz macht die SPD zur Internet-Partei“, so titelte das Hamburger Abendblatt Anfang der Woche. Auf dem Landesparteitag am Samstag wolle der Hamburger Bürgermeister ein Pilotprojekt ins Leben rufen, das Vorbildcharakter für die Bundespartei haben könnte. In jedem der sieben SPD-Kreisverbände soll es künftig einen digitalen „Distrikt“ geben, dessen Mitglieder „das Parteileben hauptsächlich in der Internetwelt organisieren und praktizieren“ sollen, so Scholz gegenüber dem Abendblatt. Warum sie das „hauptsächlich“ dort tun und sich auf Kreisparteitagen „virtuelle und reale Welt“ treffen sollen, bleibt unklar. Und so erinnert die Ankündigung zunächst an frühe, eher unbeholfene Versuche der Nutzung neuer Medien im parteipolitischen Kontext wie die virtuellen Parteitage der Nullerjahre.

Unabhängig davon, was die SPD nun auf dem Parteitag vorstellt: das Ganze wird – Medien können so ungerecht sein – natürlich schon jetzt als Versuch interpretiert, dem Erfolg der Piratenpartei etwas entgegenzusetzen. Der besteht ja nicht zuletzt darin, dass sie ihre Anhänger mit dem Versprechen auf niedrigschwellige Beteiligung und Transparenz nicht nur als potentielle Wähler, sondern als Bürger adressiert; als Bürger, die sich zusehends außerhalb traditioneller Strukturen und muffiger Vereinsräume organisieren wollen und flexible, themenorientierte Gestaltungsmöglichkeiten suchen. Den Piraten ist es, so hat es der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte formuliert, gelungen, einen „Sinnzusammenhang zwischen Lebenswelt und Politik“ herzustellen. Hierhin liegen das Versprechen, aber auch die Anmaßungen der Partei begründet. Lebens- und Arbeitswelten sind heute zusehends (aber bei weitem nicht gesellschaftsübergreifend) gekennzeichnet durch eine Dynamisierung und Flexibilisierung von Erwerbsbiografien, durch Kooperation, die Arbeit in Teams und Projekten. Diese Entwicklungen und der dazugehörende Zeitgeist haben im Internet eine ideale technisch-kommunikative Entsprechung und Verstärkung gefunden – und in der Piratenpartei einen technisch-politischen Träger. Die Piraten – sie sind der fleischgewordene Weckruf an die Politik. Ihr Fortbestand über den fast sicheren Einzug in den Bundestag 2013 hinaus hängt auch davon ab, wie schnell und überzeugend andere Parteien diese neue Perspektive, die bei weitem nicht nur mit der Nutzung des Internet zu tun hat, aufnehmen.

Je mehr sich das Internet zum alltäglichen Medium sozialer Interaktion entwickelt, desto stärker werden Anschlussfähigkeit und Erfolg politischer Parteien davon abhängen, dort präsent zu sein. Dafür bedarf es niedrigschwelliger Angebote, die Partizipation im Alltag handhabbar erscheinen lassen und in denen die Ziele und Folgen politischen Engagements real und, als eine Art „Return on Investment“, wahrnehmbar sind. Diesbezüglich können aus dem Hamburger Projekt durchaus Anstöße und Erkenntnisse entstehen. Über den Umgang mit wesentlichen Herausforderungen, wie sie sich gerade für die SPD stellen, ist damit noch nichts gesagt. Denn der Schritt zu mehr Beteiligung ist noch lange nicht vollzogen, nur weil die Technik das Potenzial dafür liefert. Vor allem werden soziale Ungleichheiten, die auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur politischen Beteiligung prägen, im Netz eben nicht automatisch ausgeglichen, sondern existieren in der Regel fort oder verstärken sich sogar.

Schließlich: wie lässt sich die Horizontalität des Netzes nutzen und in Einklang bringen mit vertikal hierarchischen Führungsmodellen, ohne die, das werden auch die Piraten noch merken, keine Partei und erst recht kein Staat zu machen ist? Antworten darauf liefern auch digitale Ortsvereine nicht. Müssen sie auch nicht. Für die Politik geht es darum, in ihren institutionellen Arrangements, ihren Arbeits- und Denkweisen Schritt zu halten mit sich rapide verändernden sozialen und technologischen Realitäten. Das ist leichter gesagt als getan und kann per se nicht ohne Irrwege, Versuch und Scheitern vonstatten gehen. Bleibt nur zu hoffen, dass daraus kein zweites Second Life wird. Denn das gab es ja bereits.

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