Was ist sozialdemokratische Netzpolitik?

von , 19.7.11

von Martin Oetting, Lars Klingbeil und Mathias Richel

Gemeinsam verändern das Internet und die Digitalisierung unserer Informations- und Datenflüsse mehr an der Art unseres Zusammenlebens und an unserer Gesellschaft als vermutlich alle anderen Kulturtechniken seit der Erfindung des Automobils. Daher ist Netzpolitik nicht ein Thema unter vielen, sondern muss zentraler Bestandteil und verbindendes Element einer integrierten Sozial-, Bildungs-, Wirtschafts-, Arbeits-, Familien- und Medienpolitik sein. Gerade wenn es für die SPD darum geht, einen modernen Fortschrittsbegriff zu definieren, muss die Netzpolitik zentral sein. Schüler werden ihren Lehrern nicht mehr vertrauen, wenn diese Lehrer das Internet nicht verstehen. Leser werden Journalisten nicht mehr lesen wollen, wenn diese dem Internet feindselig gegenüberstehen. Die Werktätigen der Zukunft werden in den Gewerkschaften lächerliche Relikte einer alten Zeit sehen, wenn diese nicht die modernen Möglichkeiten dezentralen Arbeitens als Chance wahrnehmen. Und die Menschen werden schließlich der Politik nicht mehr trauen, wenn sie dabei zusehen müssen, wie diese aus Unwissen die Errungenschaften und Möglichkeiten leichtfertig verspielt, die uns das Internet für eine bessere Zukunft bietet. Wenn all dieses passiert, dann scheitert nicht allein sozialdemokratische Netzpolitik – dann scheitert die Sozialdemokratie, vielleicht die Demokratie selbst.

Im digitalen Zeitalter muss die SPD daher die weitreichenden Veränderungen, die durch das Internet und die Digitalisierung der Welt entstehen, anerkennen und Ressortegoismen aufgeben. Die folgenden sechs Aufgaben beschreiben, wie das geschehen kann.

1. Demokratische Erneuerung
Unsere Demokratie hat ihre derzeitige Form, weil sie darauf angewiesen war, Abgesandte an zentrale Orte zu bringen, damit sie im Namen aller Bürger Entscheidungen treffen konnten. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert war diese Form der kollektiven Willensbildung und –ausübung die einzig sinnvoll organisierbare.

Das hat sich geändert. Heute sehen Bürger aller Orten, wenn sie sich digital bewegen, die Möglichkeit, ihre Meinung zu sagen, ihre Stimme zu erheben, ihre Wahl zu treffen – ob das im Online-Kaufhaus, auf einer Social-Networking-Seite oder in einer Meinungsumfrage ist. Sie begreifen, dass diese Art der Stimmabgabe zu mehr taugt als zu Meinungsstudien. Sie beginnen die Politik zu fragen, warum diese Art der Stimmabgabe nicht auch von der Politik anerkannt werden kann.

Jahrtausendelang war der direkten Meinungsausäußerung durch das Volk eine natürliche physische Barriere gesetzt. Diese Barriere wird mit dem Internet entfernt. Das gilt nicht allein für Entscheidungen, die heute in Parlamenten oder Ausschüssen getroffen werden. In weit größerem Maße gilt dies für die Prozesse, die innerhalb einer Partei bei der Vorbereitung lokaler, regionaler, föderaler und die Bundespolitik betreffender Entscheidungen ablaufen. Das Internet schafft erstmals die Möglichkeit, in einer Partei wie in einem Staat die politischen Entscheidungsprozesse öffentlicher, transparenter und für die Breite der Bevölkerung mitgestaltbar zu machen. Das bedeutet nicht, dass eine direktere Einflussnahme der Bürger die parlamentarische Demokratie ersetzen soll. Diese hat sich, bei aller berechtigter Kritik, ganz offensichtlich über viele Jahrzehnte bewährt. Aber die Qualität und die Akzeptanz von Entscheidungen können durch Öffnung, Transparenz und Beteiligung deutlich erhöht werden.

Die erste Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, dieses einzigartige Werkzeug gemeinschaftlicher Debatte und Meinungsäußerung als einmalige Chance zur Gestaltung eines wahrhaft demokratischen Staates zu verstehen und zu nutzen. Nur weil das Internet die direkte Demokratie nachdrücklich zur realistischen Forderung erhebt, wird diese damit sicherlich weder einfach noch unproblematisch. Direkte Demokratie kann labil sein und anfällig für Demagogie. Aber eine Partei, die mehr Demokratie wagen will, auf diese fundamentale Veränderung jedoch nicht einzugehen bereit ist, belügt sich selbst.

2. Offenheit und Transparenz
Regierungen und Parlamente sind immer und ausnahmslos Diener der Bevölkerung, die sie repräsentieren. Der Souverän ist und bleibt das Volk. Er hat Anspruch auf Wissen über das, was in seinem Namen erhoben, entschieden, bezahlt, verhindert, errichtet, zerstört, geschaffen, ignoriert und vereinbart wird. Allein technisch war es lange Zeit völlig unmöglich, alle politischen Informationen und alles politische Wissen jedem zur Verfügung zu stellen. Nicht verhehlen lässt sich dabei: es war der Politik sicher auch nicht immer unangenehm, dass Rechenschaftspflicht und Überprüfbarkeit an manchen Stellen an natürliche Grenzen stießen.

Auch diese Grenzen sind heute weggefegt. Gerade lernen wir, wie unbequem es sein kann, wenn vertraulich gewähnte Daten öffentlich werden. Und an der aktuellen Entwicklung erkennen wir auch, dass Demokratien in Rechtfertigungsnot geraten, wenn sie ihren Bürgern gegenüber zu erklären versuchen, warum manche Daten vor ihnen geheim gehalten werden müssen. Natürlich kann die Forderung nicht darin bestehen, ausnahmslos alle Daten und Informationen eines Staatsbetriebes öffentlich zugänglich zu machen. Sehr wohl aber muss das Primat der Offenheit und nicht das der Verschlossenheit gelten.

Die zweite Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, Offenheit und Transparenz als notwendiges Wesensmerkmal demokratischer Politik anzuerkennen und zu fördern. Nicht, weil das Internet sie erzwingt. Sondern weil das Internet endlich ermöglicht, worauf das Wahlvolk schon immer ein Recht hatte – seine Behandlung als echter Souverän. Die Frage darf nicht sein: warum sollten wir dieses oder jenes Dokument veröffentlichen, warum diesen oder jenen Datensatz zur Verfügung stellen? Die Frage muss immer lauten: Warum sollten wir es nicht tun? Wenn es keine handfeste, nachvollziehbare und der öffentlichen Kritik standhaltende Begründung dafür gibt, dass Daten vertraulich zu sein haben, sollten sie es nicht sein.

3. Kopieren als Wesensmerkmal
Jahrtausendelang war das Kopieren von Ideen ein nicht wegzudenkender Bestandteil zivilisatorischen Fortschritts. An der vielleicht größten Erfindung in der Geschichte der Menschheit – dem Rad – hatte niemand ein alleiniges Recht, niemand hätte Kopien davon verhindern können. Indem andere hingesehen und davon inspiriert ihr eigenes Rad gebaut haben, hat sich Fortschritt ausgebreitet und der Menschheit eine kaum vorstellbare Entwicklung ermöglicht.

Für einen sehr kurzen Zeitraum in der Geschichte menschlichen Schaffens wurde das Kopieren von Dokumenten, Ideen und Informationen zum aufwändigen administrativen Akt, der sein eigenes Rechtssystem erhalten hat. Das Urheberrecht und das Recht auf Vervielfältigung haben über eine bestimmte Zeit die Verbreitung von Wissen kontrolliert und zugleich finanzielle Anreize dafür geschaffen, Wissen und Ideen zu publizieren, ohne sie damit automatisch allen zur kostenlosen Nutzung zu schenken. Inwieweit dies die Entwicklung menschlicher Schaffenskraft zum Nutzen aller angeregt oder behindert hat, ist unter Forschern umstritten.

Ganz unabhängig davon gilt jedoch: eine identische Rechtslage in Zeiten des Internets zu fordern, ist zum Scheitern verurteilt, aus einem einfachen Grund: das Internet ist nichts anderes als eine riesige Kopiermaschine – die Nutzung einer einzelnen Website ist bereits der Akt unzähliger Kopiervorgänge: Dutzende Bestandteile der Website werden vom Webserver auf den Rechner des Nutzers kopiert, um dort angezeigt zu werden. Das Kopieren von Dateien ist ein wesensbestimmender Kern des Internets. Aus genau diesem Grund wird das Internet jede Technik, die das Kopieren von Dateien zu verhindern versucht, abschütteln. Und gerade die Nutzer, die heute mit dem Internet aufwachsen, werden nicht verstehen, warum Hürden und Erschwernisse in den Weg gelegt werden sollen, die den Sinn und Zweck des Internets zu verkennen scheinen. Man kann nicht die Errungenschaften des Internets an sich begrüßen und zugleich eines seiner Wesensmerkmale bekämpfen.

Zumal das ungehinderte Bereitstellen von Wissen und Information als zivilisatorischer Fortschritt nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wenn wir uns der Aufgabe stellen, Kreativität zu ermöglichen und Politik als das Verbessern der Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen zu sehen, muss es tiefsitzender Wunsch sozialdemokratischer Politik sein, Information, Wissen, Kultur und Kunst in so freiem, zugänglichem und demokratischem Maß wie nur irgend möglich allen zur Verfügung zu stellen. Denn aus der Kombination bekannter Ideen und Gedanken entsteht Neues – und je mehr Menschen sich daran aktiv beteiligen können, desto besser muss dies für unsere Gesellschaft sein.

Durch den Zusammenprall der aktuellen technischen Entwicklung mit einem Rechtssystem aus einer anderen Zeit ist das Urheberrecht jedoch so komplex geworden, dass der einzelne Bürger sich immer weniger in der Lage sieht, dieses Terrain rechtlich gefahrlos zu navigieren. Der risikofreie Umgang jedes einzelnen mit Medien und Medien(re)produktion muss jedoch für eine erfolgreiche künftige Entwicklung Deutschlands in kultureller wie wirtschaftlicher Hinsicht sichergestellt sein, ohne dass bei jedem Schritt sofort Anwaltsrechnungen anfallen.

Die dritte Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, das Verbreiten und Teilen von Daten und Dateien als Wesensmerkmal des Internets und seiner Nutzung anzuerkennen und als fortschrittliche Entwicklung willkommen zu heißen. Damit entsteht für die sozialdemokratische Politik eine wichtige Herausforderung: Es muss um gerechte Bezahlung und fairen Lohn für kreatives Schaffen gehen und nicht um die Aufrechterhaltung überkommener Strukturen. Genau deshalb muss genauer untersucht werden, wo betroffene Professionen tatsächlich darauf angewiesen sind, Dateien einzeln zu vertreiben und darum solidarische Unterstützung aufgrund dieses Umbruches benötigen. Und an welchen Stellen wir schlicht die Entwicklung unserer Gesellschaft behindern, indem wir willkürlich Kopierschranken zu setzen versuchen – an Stellen, die nur wenigen nutzen.

4. Zugang für alle.
Das Internet und seine grafische Benutzeroberfläche – das World Wide Web – haben binnen weniger Jahre eine enorme Vielfalt an Anwendungen ermöglicht. Der Grund für den atemberaubenden Fortschritt, den uns Internet und World Wide Web ermöglicht haben, liegt in seiner Dezentralität und in seiner Zugangsoffenheit. Es gibt keine zentrale Autorität, die das Internet kontrolliert, keine Instanz, die befragt werden muss, wenn man etwas zum Internet beisteuern möchte. Die technischen Hürden dafür, eigene Ideen und Inhalte ins Internet zu bringen, waren von Anfang an vergleichsweise niedrig, und sie sind weiter geschrumpft. So konnte und kann jeder, der über die passende Idee verfügt, selbst seinen Beitrag zu diesem wachsenden kollaborativen Gebilde leisten. Die Ideen befinden sich dabei im Wettstreit miteinander, eine Idee aus Kassel tritt an gegen eine andere aus Indonesien.

Diese Freiheit jedoch, die das Netz zu dem hat werden lassen, was es heute ist, wird akut bedroht: Medienhäuser kämpfen gegen die Freiheit, die das Web für Meinungsäußerung und Kommunikation bietet, weil ihre ureigenen Pfründe – die Hoheit über mediale Meinungsmache und Deutung – deswegen bedroht sind. Telekommunikationsunternehmen bedrohen die undiskriminierte Verbreitung unterschiedlicher Daten (Stichwort Netzneutralität) in gleicher Weise, weil sie durch größere Differenzierung zusätzliche Milliardengewinne abschöpfen können. Und die konservative Politik hierzulande bekämpft den undifferenzierten und gleichberechtigten Zugang zum Internet, weil sie zum einen die vorgenannten Interessengruppen bei ihrem Profitstreben unterstützen will, und weil sie zum anderen in der Kontrolle des Zugangs zum Internet eine Sanktionierungsmöglichkeit sieht. International ist die Freiheit des Netzes zudem auf drastische Weise in Gefahr: Diktatorische Regime bekämpfen die Offenheit und Durchlässigkeit des Internets, weil es ihre gewaltbasierte Machtposition unterminiert.

Die vierte Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, jedem Bürger einen freien und ungehinderten Zugang zum schnellen Internet zu bieten. Anstelle also wie in Frankreich den Zugang zum Internet gar als Strafmaßnahme zu entziehen, muss sozialdemokratische Politik dem Vorbild Finnlands folgen und erkennen, dass der Zugang zum Internet ein Bürgerrecht sein muss, welches keinem Menschen entzogen werden darf. Und zwar nicht deswegen, weil das Internet per se so eine phantastische Einrichtung ist. Sondern weil die Ausübung unserer Rechte als Bürger in zunehmendem Maße über das Internet geschieht – weil Behördengänge, Meinungsäußerungen, politisches Engagement und das Recht auf die Freiheit, uns zu versammeln, immer stärker digital gestützt oder digital vermittelt durchgeführt werden.

Genau deswegen muss es im Interesse sozialdemokratischer Politik liegen, jedem Bürger – unabhängig von Abstammung, Einkommen, politischer Einstellung, Art und Ort der Internetverbindung (mobil oder stationär, Wohnsitz auf dem Land oder mitten in der Stadt), oder vom verwendeten Endgerät – in gleicher Weise Zugang zu sämtlichen Angeboten zu ermöglichen, die heute über das Internet bereitgestellt werden.

5. Arbeitsplätze werden Zustände und hören auf, Orte zu sein.
Runde zweihundert Jahre lang haben zunächst sozialdemokratische Politik und dann auch die Sozialdemokratie dafür gekämpft, dass Arbeitsplätze nicht mehr Orte der Ausbeutung sind, sondern Orte der Mitbestimmung und der Sinnstiftung werden. Dabei hat der sozialdemokratische Gedanke in enger Verschränkung mit der gewerkschaftlichen Bewegung Unglaubliches geleistet für ein würdevollen Lebens der Arbeitenden in diesem Land und in der Welt. In dieser Tradition steht die Sozialdemokratie – mit Stolz und zu Recht.

Heute beginnt sich das Verständnis davon, was ein Arbeitsplatz ist, zu wandeln. Und bedeutenden Anteil daran hat das Internet. Indem wir uns in Deutschland schrittweise davon wegbewegen, eine Industriegesellschaft zu sein, und dahin bewegen, über Know-How und intellektuelles Kapital mit Erfolg an den Weltmärkten zu bestehen, hören Arbeitsplätze auf, feste Orte zu sein und beginnen, sich in Zustände zu verwandeln. Viele Menschen erleben ihren Arbeitsplatz heute immer häufiger und immer intensiver als intellektuelle Beschäftigung, als Herausforderung des Austausches und Dialogs mit anderen (oft auf anderen Kontinenten), als Kommunikations- und Wissensaufgabe. Und immer weniger als einen bestimmten Ort, an dem sie oder er sich einzufinden hat. Natürlich gilt dies nicht für alle Arbeitenden. Aber es gilt für eine stetig steigende Zahl.

Damit müssen sich auch die Anforderungen an eine sozialdemokratische Arbeits- und Sozialpolitik wandeln. An erster Stelle steht dabei, die Ermöglichung flexibler Arbeitszeiten und -orte als erstaunliche Verbesserung wahrzunehmen – sowohl im Hinblick auf die Arbeits- wie auf die Familienpolitik: wer als Wissensarbeiter selbstbestimmter arbeiten kann, schafft sich Freiheit für die Gestaltung des eigenen Arbeitsplatzes, erlebt eine größere Nähe zur Familie und damit vor allem auch die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit für Frau und Mann. Wenn ein Elternteil zu festen Uhrzeiten am Arbeitsplatz erscheinen muss, ist der andere eher gezwungen, auf das Arbeiten zu verzichten. Sobald ein höheres Maß an Eigengestaltung möglich wird, können beide viel einfacher ihren Beitrag zur Erziehung der Kinder leisten – und damit einander gegenseitig beruflich erfolgreiche und erfüllende Karrieren ermöglichen.

Die fünfte Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, ein umfassendes neues Verständnis von fairer Arbeit und sozialen Arbeitsumständen zu entwickeln, die sich für eine Gesellschaft eignen, in der Arbeitsplätze immer häufiger Zustände werden anstatt Orte zu sein.
Damit verändert sich das sozialdemokratische Verständnis von Arbeitsmarktpolitik und auch von Sozialpolitik, die sich am klassischen Normalarbeitszeitverhältnis ausrichtet. Die Bedeutung von definierten Arbeitszeiten verändert sich, und flexible Beschäftigungen müssen auf neuen Wegen abgesichert werden. Wie kann Mitbestimmung aussehen in Zeiten, in denen die Menschen vielleicht dazu neigen, “sich selbst auszubeuten“, dies aufgrund intrinsischer Motivation vielleicht auch eine Zeit lang gerne tun? Wie verändern sich angesichts der digitalen Anforderungen eigentlich die Ausbildungsberufe? Die Sozialdemokratie sieht sich hier anspruchsvollen Fragen gegenüber – denen sie sich stellen muss. Andernfalls finden andere Parteien die besseren Antworten.

6. Kommunikation mit Menschen und für Menschen.
Die Kultur der politischen Kommunikation ist geprägt durch die Kanäle, über die sie ablief. Mehr als ein Jahrhundert lang haben Politiker gelernt, sich in Codes und Formulierungen auszudrücken, die für die Instrumente der massenmedialen Kommunikation geschaffen sind. Der Umgang mit Journalisten und mit den Medien, die sie bedienen, hat dazu geführt, dass sich bestimmte Riten, Vokabeln und Ausdrucksweisen etabliert haben, die häufig nur noch sehr wenig mit dem Politikverständnis derjenigen Menschen zu tun haben, die eigentlich von der Politik betroffen sind. Vielleicht verliert die Politik auch deshalb den Kontakt zur Bevölkerung.

Aus demselben Grund tut sich die Politik mit der Kommunikationskultur im Internet noch häufig schwer. Dort wird eine andere Sprache gesprochen, die häufig direkter, ehrlicher und unverstellter ist, als sie in den klassischen Medien je sein kann. Im Web reden Menschen miteinander in der Sprache, die sie im Alltag verwenden, tauschen Banalitäten und Absurditäten ebenso miteinander aus wie berührende Dinge und intellektuelle Höhenflüge. In diesem Umfeld kann man nur glaubwürdig aktiv werden, wenn man sich diesem Umgang anpasst.

Das ist eine hervorragende Nachricht für die Politik. Sie kann im direkten Umgang mit den Menschen, die sich für die Inhalte und Themen der politischen Arbeit interessieren, einen Dialog führen, bei dem beide Seiten gleichberechtigte Gesprächspartner sind. Sie hat nun die bislang einmalige Möglichkeit, Meinungen, Stimmen, Ideen und Anregungen direkt aus der gesamten Bevölkerung zu bekommen – so ungefiltert wie im Gespräch im Wahlkreis, so vielfältig wie nur das gesamte Land es sein kann.

Das erfordert eine entsprechende Kompetenz. Stimmungen und Wellen, die durch das Internet rauschen, sind oft nicht gleichbedeutend mit Mehrheitsmeinungen in der Gesamtbevölkerung, Repräsentativität ist im Internet kein leicht hergestellter Zustand. Aber solange man dies weiß und dennoch bereit ist, sich auf die Stimmen im Netz einzulassen, entsteht daraus eine großartige Möglichkeit, Politikverdrossenheit abzubauen und wieder mehr Nähe und Vertrauen zwischen Politik und Bevölkerung zu schaffen.

Die sechste Aufgabe sozialdemokratischer Politik im digitalen Zeitalter besteht daher darin, den Menschen im Internet zur Verfügung zu stehen, sich auf echten Austausch einzulassen, zum Zuhören bereit zu sein und in einer Sprache zu sprechen, die nicht verklausuliert, sondern die vermittelt. Wer sich auf das Internet einlässt, kommuniziert nicht mehr mit Medien, sondern mit Menschen. Das ist eine phantastische Nachricht.

crosspost von http://www.das-ist-sozialdemokratisch.de/ Lizenz: (CC BY-NC-ND 3.0)

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