De Maiziere ist nicht Köhler – aber betont Deutschlands Führungsanspruch in Europa

von , 22.5.11

Exekutive und Legislative sind in einer Demokratie zwei verschiedene Gewalten.

Klingt trivial? Möchte man meinen.

Thomas de Maizière: “Deutsche Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, der geografischen Lage in der Mitte Europas, den internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen des Landes sowie unserer Ressourcenabhängigkeit als Hoch-Technologie-Standort und rohstoffarme Exportnation.”

Heinemann [Moderator Deutschlandfunk]: Thomas de Maizière, und das unterscheidet sich kaum von jenem Satz, der Bundespräsident Horst Köhler vor einem Jahr zum Verhängnis wurde, als er in ein Mikrofon unseres Senders sagte…
[…]
Heinemann: Haben Sie das denn auch so wahrgenommen, dass es keinen großen Unterschied gibt zwischen der Erklärung jetzt von Thomas de Maizière und von Horst Köhler?

Westerwelle: Ja ich habe ja seinerzeit schon dem Bundespräsidenten zugestimmt, als er ja auch noch sehr scharf kritisiert worden ist, denn er hat seinerzeit ja lediglich die Fakten beschrieben.

Link: dradio.de

Jörg Lau, dessen kluge Texte ich sehr schätze, stößt ins selbe Horn:

In seiner erklärenden Rede in der Julius-Leber-Kaserne sagte de Maizière zu diesem Punkt:
“Unsere Interessen und unser Platz in der Welt werden wesentlich von unserer Rolle als Exportnation und Hochtechnologieland in der Mitte Europas bestimmt. Daraus folgt, wir haben ein nationales Interesse am Zugang zu Lande, zu Wasser und in der Luft.”
Das ist kurz und knapp genau das, was Köhler angedeutet hat. De Maizière in seiner besonnen, ruhigen Art, nimmt man ab, was einen Köhler den Kopf kostet.

Ist es nicht. Natürlich unterscheiden sich Köhlers und de Maizieres Aussagen. Deutlich sogar. Dass man dem einen die Aussage durchgehen lässt, dem anderen nicht, hat nichts mit der besonnenen Art des einen zu tun.

Köhler hatte vor bald einem Jahr gesagt:

„Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall, auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen – negativ, durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.“

Unterschied 1: Wahrung von Sicherheitsinteressen vs. Militäreinsatz

Wie ich schon seinerzeit herausgehoben habe, als wieder und wieder behauptet worden war, Köhler habe doch nur ausgesprochen, was auch im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 stünde: Köhler hat nicht nur den Welthandel, Arbeit und Einkommen als Interessen definiert, die es mit den Mitteln der Sicherheitspolitik zu wahren gelte; er hat vielmehr konkret gesagt, man müsse sich daran gewöhnen, das mit dem Mittel „Militäreinsätz” zu tun.

De Maiziere hat dergleichen nicht getan. Ich habe mir seine verteidigungspolitischen Richtlinien durchgelesen und auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte: Die Zuordnung des Mittels „Militäreinsatz” zur Erreichung des Ziels „freier Welthandel” nimmt de Maiziere nicht expressis verbis vor. 1

Köhler war da deutlicher – und damit auch angreifbarer.

Unterschied 2: Staatsnotar vs. Mitglied des Bundestags

Der eigentlich relevante Unterschied zwischen beiden Aussagen ist aber ein anderer; ein Unterschied, der auch dann noch bestünde, wenn beide wortgleich formuliert hätten: Horst Köhler war Bundespräsident, also Exekutivorgan, oberster Repräsentant der durch die Verfassung konstituierte politische Ordnung, ohne Kompetenz, die Verfassung zu ändern, und ohne Legitimation, ihren Inhalt in seinem Amt in Frage zu stellen.

Thomas de Maiziere ist als Verteidigungsminister zwar auch Mitglied der Exekutive, zugleich, als ein Resultat der deutschen Gewaltenverschränkung, aber auch Mitglied der Legislative, der gesetzgebenden Gewalt – eben des deutschen Bundestages. Genau dieser Bundestag ist gemäß Verfassung legitimiert, die Verfassung gemeinsam mit dem Bundesrat im Rahmen des Erlaubten zu ändern.

Wenn nun Bundespräsident und ein Abgeordneter ein Werturteil abgeben und sagen: diese und jene Praktik, die bisher vom Grundgesetz nicht erlaubt wird, sollte künftig erlaubt sein, dann liegt eine völlig andere Situation vor. Der Bundestagsabgeordnete darf das, es fällt ja in seine Zuständigkeit. Man kann dann die Forderung inhaltlich kritisieren, eine andere Position einnehmen, dagegen argumentieren – das ist dann eben eine normale politische Auseinandersetzung.
Der Bundespräsident darf es nicht. Er darf es vielleicht als Privatmensch denken und äußern, aber nicht in die Mikrofone der Öffentlichkeit. Es ist schlicht nicht der Job des Bundespräsidenten, solche Urteile abzugeben.

Genau wegen dieses Unterschieds in der Stellung innerhalb des politischen Systems konnte man auch zu Guttenberg nur inhaltlich widersprechen, und ihm nicht ein echtes Fehlverhalten vorwerfen, als er Ähnliches wie Köhler und de Maiziere bei der Berliner Sicherheitskonferenz vor trug.

Sein oder Sollen?

Wichtig dabei ist übrigens, dass es um eine normative Aussage geht. Anders als Westerwelle behauptet, hat Köhler damals ja eben nicht „lediglich die Fakten beschrieben“ (das wäre eine Ist-Aussage), sondern eine Sollens-Aussage getroffen: „Wir … sind auf dem Weg zu verstehen … dass wir so handeln müssen“. Und auch de Maizieres Leitlinien kann man so lesen: „Wir wollen bzw. sollten künftig so handeln, wie es hier beschrieben ist“.

Hätten wieder beide wortgleich formuliert, und ginge es wirklich um eine Zustandsbeschreibung, also um eine Ist-Aussage der Form: Deutschland setzt das Militär ein, um hierzulande Arbeit und Einkommen zu schützen, indem es den freien Welthandel gewährleistet – dann müsste sich die Kritik gegen den Minister und Bundestagsabgeordneten richten und nicht an den Bundespräsidenten.

Der Minister und Abgeordnete nämlich hätte als Teil des Bundestags den Einsatz mandatiert und wäre als Verteidigungsminister sogar Chef der obersten Kommandobehörde. Der Bundespräsident dagegen hätte quasi keine Möglichkeit, einen solchen Einsatz zu verhindern. 2

Zusammengefasst: Es besteht sehr wohl ein Unterschied zwischen den Aussagen Köhlers, zu Guttenbergs und de Maizieres.

Abschließend möchte ich noch auf zwei andere Aspekte eingehen, die mir wichtig erscheinen.

Vom Gleichen unter Gleichen zum Ersten unter Gleichen

Interessant ist, dass die inhaltliche Kritik an de Maizieres Äußerungen relativ leise artikuliert wird. Unabhängig davon, ob nun Köhler, zu Guttenberg oder de Maiziere in ihrem Amt legitimiert sind, bestimmte Forderungen vorzutragen, kann man jede politische Sollen-Aussage ja inhaltlich falsch finden und also kritisieren.

Bei Horst Köhler schien mir dieses Motiv auch verbreiteter zu sein als die Kritik an der Kompetenzüberschreitung. Anders gesagt: Die Vorstellung, Deutschland könnte seinen Wohlstand und seine Stellung in der Welt mit Waffengewalt zu sichern suchen, stieß vielen Menschen übel auf – ganz egal, ob das nun wirklich Köhlers Forderung war oder nicht, jedenfalls wurde die Debatte mit diesem Fokus geführt.

Ich habe nun den Eindruck, dass Köhler damals dazu beigetragen hat, den Diskurs geringfügig zu verschieben hin zu einem größeren Verständnis für selbstbewusste Sicherheitspolitik mit militärischen Mitteln. Viel mehr als er tat das später Karl Theodor zu Guttenberg mit seinen Reden von gefallenen Helden, von Tapferkeitsmedaillen, vom Krieg, den es endlich auch Krieg zu nennen gelte, mit seinen martialisch-heroischen Fotos in Schutzweste an der Front und mit seinen zahlreichen massenmedial in Szene gesetzten Truppenbesuchen.

Beide haben mit dazu beigetragen, dass eine Formulierung wie die de Maizieres in den verteidigungspolitischen Richtlinien auf wenig Kritik stößt. Dort steht:

Deutschlands Platz in der Welt wird wesentlich bestimmt von unseren Interessen als starker Nation in der Mitte Europas und unserer internationalen Verantwortung für Frieden und Freiheit. Deutsche Sicherheitspolitik ist den Werten und Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Ordnung des Grundgesetzes und des Völkerrechts verpflichtet. Deutschland nimmt als gestaltendes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft seine Interessen wahr und setzt sich aktiv für eine bessere und sichere Welt ein. Wir wollen als starker Partner in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.

Der innereuropäische Führungsanspruch, den Beobachter schon während der gesamten Euro-Debatte vertreten sahen, wird hier einmal mehr selbstbewusst vorgetragen: Nicht nur irgendein Teil Europas zu sein, sondern eine starke Nation in Europa zu sein, ist prägend für die deutsche Identität.

Schritt für Schritt formulieren Spitzenpolitiker seit Monaten so eine Veränderung des politischen Selbstverständnisses 3. Nicht mehr demütige und pazifistische Täternation, sondern selbstbewusster Regional-Hegemon, ein wichtiger Player in der Welt, der auch legitime Eigeninteressen vertritt, Europa hin oder her.

Deutlich wird dieser Punkt, wenn man vergleicht, wie der in der Präambel des Grundgesetzes stehende Satz hier abgewandelt wurde.
Aus: „[…] von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen […]“

wurde

„Wir wollen als starker Partner in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen.“

Vom gleichberechtigten Glied, dem Gleichen unter Gleichen, wurde der starke Partner, der Erste unter Gleichen.

Das Beispiel der Libyen-Intervention illustriert, wieso ich einer Diskursverschiebung sehe, wenngleich es hier weniger um die Identitätsfrage geht als vielmehr um die Bereitschaft, in der Welt als ordnendes „gestaltendes Mitglied“ zu agieren: Parteifreunde, Oppositionspolitiker, weite Teile der Kommentatoren in den Massenmedien geißelten Guido Westerwelle für seine Enthaltung im Sicherheitsrat, für seinen scheinbar so offenkundigen Fehler, für seinen als „Nationalpazifismus“ geschmähten Kurs, ganz so, als sei die Frage nach humanitären Interventionen, nach der konkreten Anwendung der Responsibility to Protect nicht ein normativ (gessinungsethisch wie verantwortungsthisch), politisch und völkerrechtlich höchst umstrittenes Thema. So, als könne man nicht aus allen drei Perspektiven eine Intervention kritisieren.
Dabei lassen sich sowohl für als auch gegen die Intervention gute Argumente finden. Einfach jedenfalls war die Entscheidung nicht.

Wie man diese Diskursverschiebung beurteilt – das muss jeder und jede entscheiden.

Deutsche Interessen resultieren woraus?

Ein letzter Aspekt. In de Maizieres Richtlinien steht:

Deutsche Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, der geographischen Lage in der Mitte Europas, den internationalen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen des Landes und der Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologiestandort und rohstoffarme Exportnation. Sie sind nicht statisch, sondern veränderlich in und mit internationalen Konstellationen und ihren Entwicklungen.

Es ist kein Geheimnis, dass ich die Vorstellung irgendwie natürlich da-seiender Interessen, die sich aus bestimmten Begebenheiten ableiten lassen, ja abgelesen werden können, ablehne. Das habe ich schon mehrfach geschrieben. Interessen sind nicht einfach da, sie können nicht aus dem Sein abgelesen werden, denn Interessen betreffen das Sollen, und aus dem Sein folgt kein Sollen. Im Übrigen hat ein Abstraktum wie der Staat Deutschland erst Recht keine Interessen. Die deutschen Interessen sind vielmehr jene, die in der gesellschaftlichen Debatte definiert werden.

Und ich halte die Idee, aus Geschichte, Lage, Interdependenzen und Dependenzen ergäben sich die deutschen Interessen, nicht nur für irreführend, sondern sogar für gefährlich. Denn diese vermeintliche Realpolitik, die behauptet, sie kenne die wahren Interessen (also: Ziele politischen Handelns) und sie sei dabei völlig unideologisch und orientiere sich nur an Fakten, behauptet eine Allgemeingültigkeit, eine Unverhandelbarkeit dieser Interessen und damit eine Alternativlosigkeit in Bezug auf die Wahrnehmung derselben.

Dabei ist demokratische Politik eigentlich immer Entscheidung, hat immer Alternativen, weil eben nicht nur der Weg zur Erreichung von Zielen variabel ist. Auch die Ziele selbst es sind. Das Reden von der Alternativlosigkeit kann auf lange Sicht verständlicherweise dazu führen, dass Menschen den Glauben an die Gestaltbarkeit und Gestaltungsfähigkeit von Politik verlieren. Das wiederum ist Gift für jede Demokratie.

Fußnoten:

  1. Sollte ich etwas übersehen haben: Das Kommentarfeld ist offen!
  2. Das Bundestagsmandat ist nämlich ein einfacher Parlamentsbeschluss, also kein Gesetz, das der Bundespräsident unterzeichnen müsste. Auch eine abstrakte Normenkontrollklage kann der Bundespräsident meines Wissens nicht einlegen. Inwieweit er andere konkrete Einflussmöglichkeiten hätte, weiß ich nicht genau. An dem Punkt bin ich mir nicht völlig sicher. Über klärende Kommentare bin ich immer glücklich.
  3. Auch wenn ich hier, um Verschwörungstheoretikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, gar keine geheime und geplant ausgeführte Agenda behaupten möchte.

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Crosspost von beim wort genommen.

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