Merkels Ausflug an die Stammtische

von , 19.5.11

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bei einem CDU-Sommerfest im sauerländischen Meschede das frühe Renteneinstiegsalter und die Urlaubsregelungen in einigen Ländern Südeuropas kritisiert und damit einen europaweiten Sturm der Entrüstung ausgelöst. Mit Blick auf die Milliardenhilfen der EU für angeschlagene Euro-Staaten sagte Merkel: „Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen – das ist wichtig.“ Weiter sagte Merkel: „Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen.“

Ob Merkel mit ihren Äußerungen nun antieuropäische Ressentiments schürt, „nur um billigen Beifall vom Boulevard zu bekommen“ (Sigmar Gabriel), sei dahingestellt. Zumindest aber muss man der Bundeskanzlerin ein schlechtes historisches Gedächtnis attestieren – war es doch die Bundesrepublik, die sich den steten Rufen nach einer engeren wirtschafts- und sozialpolitischen Koordinierung in der EU Jahre lang widersetzte. Bis vor kurzem noch gehörte die kategorische Verweigerungshaltung gegenüber den französischen Forderungen nach einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ zum Kern deutscher Europapolitik und gleichsam zur bundesrepublikanischen Staatsräson.

Erst die Griechenland-Krise führte in den Reihen der Bundesregierung zu einem Umdenken, in dessen Zuge jahrzehntealte Gewissheiten über Bord geworfen wurden. Im Februar 2010 sprach sich Bundeskanzlerin Merkel erstmals für eine europäische Wirtschaftsregierung aus. Zuvor war die Forderung, der EU in Sachen Wirtschaftskoordinierung mehr Einfluss zu gewähren, von deutscher Seite stets als Versuch gewertet worden, die als sakrosankt betrachtete Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zu unterlaufen, sowie die vielfach kritisierten deutschen Leistungsbilanzüberschüsse einzuhegen.

Wenn Merkel nun die unterschiedlichen Urlaubs- und Rentenregelungen in Europa kritisiert, ist dies auch ein Resultat ihrer eigenen Politik. Die deutsche Weigerung, die Währungsunion mit einem politischen Unterbau zu versehen und auf eine Koordinierung (nicht Vereinheitlichung!) der mitgliedsstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitiken hinzuwirken, hat zu wirtschaftlichen Ungleichgewichten und sozialpolitischen Disparitäten geführt, die die gesamte Eurozone vor eine Zerreißprobe stellen. Offenbar versucht die Kanzlerin nun, ihre eigenen Versäumnisse und die mangelnde Akzeptanz der deutschen Steuerzahler für Transferzahlungen an schwache Leistungsbilanzdefizitländer mit einem Ausflug an die Stammtische wettzumachen.

Ihren zweifelsohne vorhandenen wirtschafts- und europapolitischen Sachverstand scheint die Bundeskanzlerin im Sauerland ausgeschaltet zu haben. Anders ist kaum zu erklären, dass Merkel die Forderung nach einer einseitigen Anpassung aller übrigen mitgliedstaatlichen Sozialmodelle an das deutsche Modell propagiert – nach dem altbekannten Motto: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Das Grundübel der wachsenden makroökonomischen Ungleichgewichte in der Euro-Zone verschweigt Merkel dabei. Hier wäre es nämlich das schon seit längerem in der Kritik stehende deutsche Exportmodell, welches im Rahmen einer engeren Abstimmung der Wirtschaftspolitiken innerhalb der EU unter Druck geraten würde.

Insgeheim sollen Merkels Stammtischparolen wohl darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Strategie, allein auf den (aufgeweichten) Stabilitätspakt und die Unabhängigkeit der EZB zu vertrauen, Transferzahlungen an schwächere Staaten auszuschließen und sich einseitig auf Exporte zu verlassen, durch die jüngsten Entwicklungen endgültig gescheitert ist.

/th

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