#Ägypten

Transformationen, Demokratie und der Nahe Osten: Was wird aus Ägypten?

von , 31.1.11

Nach­dem in Tune­sien sich eine Trans­for­ma­tion des poli­ti­schen Sys­tems deut­lich abzeich­net, ist nun auch in Ägyp­ten eine solche  in greif­bare Nähe gerückt. An die­ser Stelle ist bewusst nicht die Rede von »demo­kra­ti­schen Revo­lu­tio­nen,« weil die­ses Trans­for­ma­ti­ons­pa­ra­digma in sei­ner Beschrei­bung eine frag­wür­dige Per­spek­tive dar­stellt. Die durch Samuel Hun­ting­ton popu­lär gewor­dene Meta­pher von den Wel­len der Demo­kra­ti­sie­rung ent­puppt sich bei genaue­rem Hin­se­hen als wenig hilf­reich. Ihre Defi­ni­tion von Demo­kra­tie ist beschränkt auf die pro­zess­fi­xierte Dimen­sion des Wahlvorgangs.

The ›demo­cra­tic method,‹ he said, ›is that insti­tu­tio­nal arram­ge­ment for arri­ving at poli­ti­cal deci­si­ons in which indi­vi­du­als acquire the power to decide by means of a com­pe­ti­tive struggle for the people’s vote.‹

Schum­pe­ter, zitiert durch Huntington

Die durch diese Linse wahr­ge­nom­me­nen Wel­len der Demo­kra­ti­sie­rung führ­ten dazu, dass eine große Anzahl auto­kra­tisch geführ­ter Staa­ten kur­zer­hand die Bedin­gun­gen pro­zes­su­ra­ler Demo­kra­tie ein­führ­ten, um als »Demo­kra­tien« in den Genuss von Ent­wick­lungs­hilfe oder auch nur  öffent­li­cher Aner­ken­nung zu kom­men. Wah­len sind das beste Fei­gen­blatt für Des­po­ten. Hun­ting­tons Meta­pher der demo­kra­ti­schen Wel­len ist aber so grif­fig, dass sie im öffent­li­chen Dis­kurs als »Stan­dard« der Trans­for­ma­ti­ons­for­schung wahr­ge­nom­men wird. Joseph Joffe hat das kürz­lich wie­der ein­mal demons­triert. Dabei hat die Poli­tik­wis­sen­schaft längst andere Kri­te­rien für die Demo­kra­tie­for­schung oder den Sys­tem­wan­del aufgegriffen.

Mubarak-Plakat: "Der Demos selbst poli­ti­siert sich ..."

Die Unru­hen im Nahen Osten, die sich nicht mehr auf Tune­sien beschrän­ken, sind nun der Anlass, einige Kri­te­rien der Sys­tem­trans­for­ma­tion genauer zu betrach­ten. Die Trans­for­ma­ti­ons­for­schung sucht nach Gesetz­mä­ßig­kei­ten in den Sys­tem­wech­seln, die als his­to­ri­sches Anschau­ungs­ma­te­rial die­nen. Beob­ach­tete Mus­ter, die in ver­schie­de­nen Trans­for­ma­tio­nen wie­der­keh­ren deu­ten dar­auf hin, dass es zugrunde lie­gende Wirk­me­cha­nis­men gibt. Aus der wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur ergibt sich ein Bün­del von Kri­te­rien, das einen maß­geb­li­chen Ein­fluss auf Trans­for­ma­tion hat. Neben Hun­ting­ton sind hier für die inter­es­sier­ten Lese­rin­nen und Leser Katz, Nie­meyer und Thomp­son als Urhe­ber der Kri­te­rien zu nennen.

Ist ein Sys­tem­wech­sel im Nahen Osten wahrscheinlich?

Die Wahr­schein­lich­keit, dass es in Ägyp­ten zu einem gelun­ge­nen Sys­tem­wan­del kommt, ganz gleich wel­ches Sys­tem kon­kret die aktu­ell herr­schen­den Eli­ten ablöst, lässt sich anhand die­ser Fak­to­ren vor­her­sa­gen. Eine erhöhte Wahr­schein­lich­keit bedeu­tet aller­dings nicht, dass es auto­ma­tisch zu einer gelun­ge­nen Trans­for­ma­tion kommt. Damit eine Trans­for­ma­ti­ons­hy­po­these über­prüf­bar wird, müs­sen wir die Fak­to­ren nega­tiv gewich­ten. Je wich­ti­ger ein Fak­tor his­to­risch für miss­lun­gene Trans­for­ma­tio­nen war, desto wich­ti­ger ist, dass er eine mög­li­che zukünf­tige Trans­for­ma­tion nicht aktiv verhindert.

  1. Das Mili­tär unter­stützt aktiv das alte Regime
  2. Die Effek­ti­vi­tät der poli­ti­schen Hand­lungs­fä­hig­keit des Regimes legi­ti­miert den Aus­schluss alter­na­ti­ver Regierungsformen
  3. Externe Akteure stüt­zen das aktu­elle Regime
  4. Ein nied­ri­ges all­ge­mei­nes Wohl­stands– und Bil­dungs­ni­veau ver­hin­dert die Rekru­tie­rung alter­na­ti­ver Eliten
  5. Der Vor­bil­d­ef­fekt kul­tu­rell und geo­gra­fisch nahe­lie­gen­der Staa­ten unter­stützt den Stan­dard eines auto­kra­ti­schen Regimes

Seit die­sem Wochen­ende gibt es Berichte, nach denen das Mili­tär in Ägyp­ten sich wei­gert, gegen die Demons­tran­ten vor­zu­ge­hen. Soll­te dies als zutreffend her­aus stel­len stünde der wich­tigste Fak­tor, der eine Trans­for­ma­tion ver­hin­dert, dem Umbruch nicht län­ger ent­ge­gen.

Die Legi­ti­mi­tät des Regimes ist zumin­dest frag­wür­dig. Andere Regie­rungs­for­men, die Demo­kra­tie ein­ge­schlos­sen, könn­ten womög­lich effek­ti­ver den poli­ti­schen Bedürf­nis­sen Ägyp­tens Rech­nung tra­gen. Die Alter­na­ti­ven, die mög­li­che neue Eli­ten als Nach­fol­ger des aktu­el­len Regimes anbö­ten, sind aller­dings nicht klar for­mu­liert.

Das aktu­elle Wohl­stands­ni­veau in Ägyp­ten bie­tet eine Mit­tel­schicht, aus der sich alter­natve Eli­ten zu denen des Regimes rekru­tie­ren könn­ten. Mit dem gerade statt fin­den­den Umbruch in Tune­sien wird der Sta­tus Quo der Regie­rungs­for­men in der Region zumin­dest in Frage gestellt, auch wenn es noch kein »Vor­bild« einer gelun­ge­nen Trans­for­ma­tion gibt, die den Domi­no­ef­fekt (snow­ball effect nach Hun­ting­ton) aus­lö­sen könnte.

Bleibt noch die wich­tige Frage nach den exter­nen Akteu­ren. Auf dem inter­na­tio­na­len Par­kett ist es nicht län­ger der Kampf der Ideo­lo­gieen zwi­schen Kom­mu­nis­mus und Kapi­ta­lis­mus (oder Demo­kra­tie nach west­li­chem Vor­bild) an dem sich diese Akteure aus­rich­ten. Im Nahen Osten ist der unge­fähr­dete Zugang zu den Ener­gie­res­sour­cen die ent­schei­dende poli­ti­sche Dimen­sion.

Wenn sich die USA als domi­nan­ter Akteur gegen das Regime aus­sprä­chen und eine oppo­si­tio­nelle Elite stütz­ten, könnte das zum ent­schei­den­den Züng­lein an der Waage wer­den. Zumin­dest darf gemäß den Erfah­run­gen der Ver­gan­gen­heit die inter­na­tio­nale Staa­ten­ge­meinde Muba­rak nicht stüt­zen, wenn es zu einem Umsturz kom­men soll.

Die Unru­hen im Nahen Osten sind für die Trans­for­ma­ti­ons­for­schung eine her­vor­ra­gende Gele­gen­heit, ihre Hypo­the­sen zu über­prü­fen und neue Erkennt­nisse zu gewin­nen. Für die betrof­fene Bevöl­ke­rung sind es aller­dings exis­ten­ti­elle Fra­gen, die gerade geklärt wer­den. Nach den Ent­wick­lun­gen der letz­ten Tage dür­fen jene, die den Demons­tran­ten die Dau­men drü­cken, immer­hin vor­sich­tig opti­mis­tisch sein. Zumin­dest, falls sie den Zah­len­spie­len der For­schung ver­trauen.

Ent­schei­dend bleibt wei­ter der Mut und die Mobi­li­sie­rung des Vol­kes. Der Demos selbst poli­ti­siert sich und betei­ligt sich am Wett­streit poli­ti­scher Ideen. Falls es den Demons­tran­ten in Ägyp­ten gelingt, das Regime abzu­lö­sen, ist die Frage nach der fol­gen­den Regie­rungs­form zweit­ran­gig. Demo­kra­ti­scher kön­nen Revo­lu­tio­nen nicht sein. In den Wor­ten Mark Thompsons:

Power was lite­r­ally in the streets when mil­li­ons of peace­ful demons­tra­tors brought down dic­ta­tors from Leip­zig to Pra­gue and Manila to Kathmandu.

Mark R. Thompson

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