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Verdruss in Belgien: Der Schwefelgeruch der kommenden Aufstände

von , 25.1.11

In Deutschland kreiert man von oben herab einen Begriff, der wie mit einer Fliegenklatsche gleich mehrere Funktionen erfüllt (oder erschlägt): Er diffamiert. Er verzerrt. Er verprellt. Er entwaffnet. Ein Präventionsbegriff: der Wutbürger. Rhetorische Entwaffnungsmedizin, gegen einen bürgerlichen Virus mit Moral.

In Frankreich war es der deutsche Emigrant Stéphane Hessel (ok, nach 86 Jahren in Frankreich und neun Monaten im KZ Buchenwald ist der Herkunftsnachweis irreführend), der mit dem Traktat “Indignez-vous!” die Würde der Bürger wiederherstellte, eine Operation, für die im Kleinklein der politischen Analyse keine Begriffe bereit stehen, um sie zu entwaffnen. Die Würde ist und bleibt potent.

Und nun stehen im Königreich Belgien, der Pommes-rot-weiß-Kultur, in einem dialektischen Dreisprung neuer alter Begriffe, die Scham und die Schande in neuer Blüte.

Was ist da los? Auch im achten Monat nach den Wahlen gibt es noch keine neue Regierung. Die politischen Lager und die Regionalkulturen der Flamen und Wallonen finden nicht mehr zusammen. Der König hat alles versucht: Erst berief er einen Konziliator, dann einen Mediator, dann einen Fazilitator, schließlich einen Präformator, wie die taz gestern berichtet. Das Versöhnen, das Vermitteln, das Ermöglichen und das Vorformen haben nichts gefruchtet. Auch das schönste Etikett kann einen nackten Sachverhalt nicht bemänteln: Die politische Klasse des Königreichs hat versagt.

Nun könnte man aus deutscher Perspektive einwenden, das sei doch so neu nicht, gebe es doch hierzulande sogar amtierende Regierungen, die wie verhext wirken, deren “Herbst der Entscheidungen” ein Winter des Ungenügens folgt. Wo bleibt die deutsche “Muscheln-Fritten-Revolution”? So bezeichnet der belgische Karikaturist Philippe Geluck die Großdemonstration. Am Sonntag gingen 39.000 Demonstranten unter dem Signum der Scham auf die Straße.

Dass die Politiker keine Politik mehr machen, wie ein Demonstrant sagt, trifft den Sachverhalt. Ich frage mich allerdings, ob das empört oder eher erleichtert. Simon Schama, der Historiker der Französischen Revolution, hat schon vor Monaten den Schwefel der kommenden Aufstände gerochen. Wir haben keine revolutionäre Situation, das nicht. Aber wir erleben eine politische Klasse, die versagt. Nicht nur in Belgien. Auch in Frankreich. In Deutschland. In Irland. Im Vergleich dazu scheint die griechische Regierung geradezu patent. Offenbar muss die Not erst groß genug sein.

Interessant finde ich vor allem das Zeichen der Scham, unter dem die beiden Regionalkulturen auf die Straße gingen. Um weder den Flamen noch den Wallonen einen symbolischen Vorsprung zu verschaffen, haben sie SHAME auf die Transparente geschrieben. Eine schwarzrotgold-Revolte der Generation Facebook, in wenigen Tagen von wenigen Leuten aus dem Boden gestampft. Die Tagesschau-Redaktion hat SHAME als Schande übersetzt.

Sprachhistorisch kommen beide Wörter – Scham und Schande – von dem Schaden, wie die Brüder Grimm schreiben. Schimpf und Schande gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Im Affekt der Schande und Scham ertönt erfahrene Demütigung, das Wissen der Anderen um den Fehltritt und tiefe Reue darüber. Politisch gewendet sehen wir in Belgien ein Fremdschämen, eine Fremdreue am Werk. Denn tatsächlich steht die Politik nackt und bloß am Pranger.

Die sprachliche Tradition weiß rigoroser als die politischen Skribenten und ökonomischen Analytiker, was auf dem Spiel steht, wie Walther v. d. Vogelweide schrieb:

schame, triuwe, erbermde, zuht, die sult ir (die fürsten) gerne tragen.

Für eine Revolution reicht das noch nicht.  Viel fehlt nicht mehr.

Crosspost vom Rhetorik-Blog

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