#Direkte Demokratie

Über die Zeitkrise im Superwahljahr 2011

von , 5.1.11

Die Zeitkrise des Politischen treibt auch das Superwahljahr 2011 an. Denn verschiedene Zeitstrukturen stehen in einem Wettbewerb zwischen der repräsentativen und der direkten Demokratie. Die Bundeskanzlerin formulierte selbstkritisch: „Das Amt des Bundeskanzlers verlangt eine unglaubliche Komplexität von Entscheidungen und Einschätzungen pro Zeiteinheit“.

Der Rohstoff Zeit ist zunächst elementar für jede Strategie. Zeitarmut ist eine wichtige Einschränkung von Strategiefähigkeit. Regieren im Minutentakt kennzeichnet das Politikmanagement der Spitzenakteure. Gleichzeitig nehmen die Komplexität und das nicht wissensbasierte Entscheiden unter Bedingungen der Unsicherheit zu. Politiker entkommen dieser Beschleunigungsspirale häufig mit dem Schein der Kohärenz. Die Pragmatiker des Augenblicks umgeben sich mit programmatischer Darstellungspolitik – Chefsachen-Thema! – oder mit präsidentieller Moderation. Doch die Zeitkrise des Politischen lässt sich damit nicht anhaltend austricksen. Denn Politik hat immer weniger Zeit, um Entscheidungen mit immer längerer Wirkungszeit und immer längeren Implementationsphasen zu treffen: Gegenwartsschrumpfung wird politisch alltäglich.

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Entschleunigte Beratung oder beschleunigte Entscheidung

Das ist im Superwahljahr umso problematischer, weil sich hier die repräsentativ-parlamentarische Demokratie in ihrer schwächsten Phase zeigt. Entscheidungsstärke ist in Wahljahren von den Parteien nicht zu erwarten. Jede Entscheidung könnte polarisieren und eine Gegen-Mobilisierung entfachen. Doch gerade die repräsentative Demokratie müsste 2011 auftrumpfen, um den „Wutbürger 2010“ zu befrieden. Solange jedoch Wahlbürger die jeweiligen Gesetzgeber nur noch als Gesetz-Entgegennehmer und Anhängsel der Politik – schlimmstenfalls auch als Anhängsel von Lobbyisten –  wahrnehmen, lässt sich der potentielle Konflikt nicht entschärfen.

Dabei geht es auch um Zeitfragen. Denn die repräsentative Demokratie arbeitet absichtsvoll mit Entschleunigung: Parlamente sollen deliberativ durch sorgfältige und lang andauernde Beratung mit Mehrheitsregel zu einem Ergebnis kommen. Das ist der Verfahrens- und Institutionenkern der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie, der sich gegen das primäre dezisionistische und direkt-schnellere Prinzip entschieden hat: Entschleunigte Beratung steht über der beschleunigten Entscheidung.

Demokratische Politik ist grundsätzlich nur beschränkt beschleunigungsfähig. Die Zeitkrise des Politischen führt nicht nur konsequenterweise seit einigen Jahren zur Rücknahme des Gestaltungsanspruchs der Politik, weil sich alle anderen Lebensbereiche im Vergleich zu den Rhythmen der Legislaturperiode und des parlamentarischen Entscheidens beschleunigt haben. Nach den Erfahrungen von 2010 hat die Zeitkrise darüber hinaus auch Konsequenzen, die zu einem zugespitzten Dualismus führen: indirekte oder direkte Demokratie, Beratung oder Entscheidung, Mehrheitsregel oder partikulares Betroffenheits-Prinzip.

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Stuttgart21 als Zäsur

So ist Demokratie extrem in Bewegung. 2010 markiert eine Zäsur im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Selten waren nicht-etablierte Verfahren der Willensbildung so populär. Ungewöhnlich viele Abgänge aus der Politik – bis hin zum Rücktritt des Bundespräsidenten – deuteten auf Bewegungsspielräume der Politik. Über allem lag ein dramatischer Gewissheitsschwund: Politik als gemeinsame Verabredung von Regeln und Prioritäten scheint seine Gültigkeit für viele Wähler verloren zu haben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat viel an demokratischer Normalität aufgezehrt. In einem changierenden Fünf-Parteien-System wird Mehrheitssuche zum Kernproblem, zumal die ehemaligen Volksparteien nur noch als Volkspartei-Ruinen zu besichtigen sind. Viele mittelgroße Parteien, mehr Nichtwähler als Wähler und eine wachsende Skepsis der Bürger gegenüber der etablierten Politiker-Politik führten 2010 zu dem von Albert O. Hirschman beschriebenen Phänomen von „Exit und Voice“: Abwanderung und Widerspruch sind zwei Seiten einer Medaille, wenn man sich mit den Bewegungsrichtungen, aber auch den Zeitstrukturen in unserer Demokratie auseinandersetzt.

Als Zäsur für jedes neue Großprojekt wird die Schlichtung „Stuttgart21“ sicher wirken. Die traditionellen Planfeststellungsverfahren dienen der rechtlichen Legitimation. Die Behörden werden durch solche bewährten Verfahren rechtlich abgesichert. Bürger erhalten dadurch aber grundsätzlich nur Widerspruchsrecht, keine Alternativen. Nach „Stuttgart 21“ besteht eine Verfahrenssehnsucht, die Information und Kommunikation statt Widerspruch ins Zentrum von Beteiligungskontexten rückt.

In Hamburg agierten Bürger, als sie sich im Schulenstreit gegen das Allparteien-Gesetz mit einem Bürgervotum auflehnten. In Bayern kippte letztes Jahr eine Bürgerbewegung das Anti-Raucher-Gesetz des Landtags. Es entstehen ganz offensichtlich neue Empörungsorte im vorpolitischen Terrain für bürgerlichen Protest.

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Kundenbürger und Politik-Darsteller

Die Gesprächsstörung zwischen der politischen Elite und den Wählern hat viele Ursachen. Die Substanzverluste unserer Demokratie sind nicht zu übersehen – wie überall in Europa. Wutpolitik erweitert den Resonanzraum für Populisten. Wie kann die Zukunft des Regierens und der Parlamente aussehen, wenn die Bürger nicht mehr an das Wirkungsversprechen der Politik glauben? Wie hängt die Zeitkrise des Politischen damit zusammen?

Mitschuld an der möglichen Unregierbarkeit sind immer beide Seiten. Kundenbürger mit befristetem Engagement überfordern als Betroffenheits-Partizipierer langfristige Politikgestaltung. Und Politiker vergrößern das Unbehagen, wenn sie weder begründen noch erklären, warum eine Entscheidung fällt. Institutionelle Fantasie ist dringend gefordert, um die drei Bereiche miteinander zu verzahnen.

Die repräsentative Demokratie befindet sich sichtbar in der Krise. Weder die Legitimation noch die Akzeptanz von Parlamentsentscheidungen trifft auf anerkennendes Wohlwollen. Die direkte Demokratie kann auch kein alleiniger Ausweg sein. So eine „Anlieger-Demokratie“ bevorzugt immer unmittelbar Betroffene. Bei jeder normalen Wahl beteiligen sich, trotz insgesamt abnehmender Zahlen, noch weitaus mehr Bürger als in den Verfahren von Bürgerinitiativen, Volksbegehren etc. Grenzverschiebungen zwischen Populismus und Partizipation sind nicht auszuschließen, wenn direkte Demokratie wichtiger als repräsentative wird.

Eine dritte Variante von Beteiligungsverfahren ist aus der deliberativen Demokratie-Theorie zu gewinnen. Mit einer Bürger-Kammer, die sich repräsentativ zusammensetzt, könnte eine Gesellschaftsberatung der Parlamente durch eigene Expertisen und Voten angereichert werden, die als Ergänzung zum Beratungsprozess in Parlamenten nutzbar ist. Außerparlamentarische und parlamentarische Verfahren wären so zu kombinieren, dass die repräsentative Demokratie neue Akzeptanzbeschaffer erhält. Die Demokratie würde nochmals komplexer und weniger effizient. Doch mit einer intelligenten Verzahnung der drei Bereiche von Willens- und Entscheidungsbildung könnte neue Legitimation entstehen.

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Ein Ausweg aus der Zeitkrise

Dies wäre eine produktive Antwort, möglicherweise auch ein Ausweg aus der Zeitkrise des Politischen. Denn das zu suchende neue institutionelle Arrangement mit neuen Handlungsformen folgt dem Muster einer Demokratie mit Online- und Offline-Welten, in der bislang noch die sogenannten Alt-Analogen den politischen Ton angeben. Im Verhältnis Medien und Politik hat das Fernsehen über Jahrzehnte paradigmatisch gewirkt. Es wurde zum Format-, Takt- und Bildgeber der Politik. Auch die Online-Kommunikation wird paradigmatische Konsequenzen für die Eigenlogik der Politik entwickeln. Denn politische Willensbildung wird online-getrieben die Übergänge zwischen Dezision und Deliberation verwischen. Spielregeln, Modus und Dynamik politischer Öffentlichkeit changieren unter den Bedingungen einer Netzwerkgesellschaft und dem wachsenden Bedarf an kommunikativer Konsensfindung. Wohin das führt, bleibt bislang unklar. Aber eine Antwort auf die Zeitkrise schimmert bereits durch.

Insofern könnte 2011 eben nicht nur ein Superwahljahr sein, sondern auch ein Jahr zur Entwicklung neuer institutioneller Kommunikationsmodi. Der Wettbewerb um die dringend notwendige Akzeptanzbeschaffung für die repräsentative Demokratie hat eben erst begonnen. Wer weitere Substanzverluste der Demokratie in ihrer freiheitlichsten Verfassung aufhalten möchte, sollte Antworten zum Thema Zeit formulieren. Zeit bleibt eine elementare Messgröße der Freiheit.

Prof. Karl-Rudolf Korte ist Direktor der „NRW School of Governance“ an der Universität Duisburg-Essen

Literatur zum Thema:

– Timo Grunden, Karl-Rudolf Korte: Gesellschaftsberatung in der Parteiendemokratie, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Wie Politik von Bürgern lernen kann. Potenziale politikbezogener Gesellschaftsberatung, Wiesbaden 2011 (i.E.).

– Karl-Rudolf Korte: Strategie und Regierung. Politikmanagement unter den Bedingungen von Komplexität und Unsicherheit, in: J. Raschke, R. Tils (Hrsg.), Strategie in der Politikwissenschaft, Wiesbaden 2010, S. 211-232.

– Chantal Mouffe: Über das Politische, Bonn 2010.

– Paul Nolte: Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2011 H.1-2, S. 5-12.

– Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005.

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