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Pull Prosperity: Perspektiven für den Wohlstand des 21. Jahrhunderts

von , 13.9.10

So schnell dürfte es in Amerika keinen richtigen Aufschwung geben – denn die derzeitige US-Stagnation ist mehr als eine Nullachtfünfzehn-Rezession: Sie ist wohl eher eine Krise überkommener Institutionen: Unternehmen, Konten, Jobs, Märkte, sogar “Profit” – allesamt Überbleibsel aus dem Industriezeitalter.

Der Wohlstand kann nicht nur mit Bailouts, Konjunkturpaketen oder besserer Führung wiederhergestellt werden, sondern braucht auch die Kunst des Aufbauens: die Kunst, Institutionen zu erneuern, damit sie zum turbulenten und fragilen 21. Jahrhundert besser passen.

Und nun? Wie wollen wir denn nun damit anfangen – hier und jetzt in der richtigen Welt? Ganz vereinzelt stoße ich auf ein Buch, dass mich wirklich umhaut. Das letzte war Gary Hamels bahnbrechendes Buch Future of Management. Das neueste ist The Power of Pull, von John Hagel, John Seely Brown, und Lang Davison. Darum möchte ich es hier kurz rezensieren:

Die ungeschminkte Wahrheit ist, dass es zwar Berge von Büchern gibt über Produkte, Service und auch neue Businessmodelle. Es sind auch jede Menge Chroniken der großen Wirtschaftskrise verfasst worden. Aber es gibt nur eine Handvoll Bücher über die Erneuerung von Institutionen. Die Kunst steckt noch in den Kinderschuhen, aber es ist genau die Kunst, die wir meistern müssen, wenn wir die Große Stagnation überleben wollen. Pull ist nicht nur eine Chronik der Vergangenheit oder eine Reihe von Vorhersagen über die Zukunft: Es ist eine Pionierleistung, ein maßgeblicher Ratgeber, um die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts neu zu denken, um neue Institutionen ins Leben zu rufen, um Dinge mit Mehrwert zu schaffen und – vielleicht – um den Wohlstand wiederherzustellen.

Die reichhaltigsten, nuanciertesten Bücher sind am schwersten zu beschreiben. Der Versuch, Pull zu rezensieren ist wie der Versuch, den Wind einzufangen. Lassen Sie mich trotzdem versuchen, einige der wichtigsten Lektionen zu skizzieren, denen ich zustimme.

Flows statt Güter. Ökonomen teilen die Welt in Güter und Zu- und Abflüsse ein. Das kann man sich sinnbildlich vorstellen wie mehrere Haufen mit verschiedenen Gütern und das, was reinkommt oder herausgeht. Wie ein roter Faden zieht sich durch Pull die Idee, dass das 20. Jahrhundert vor allem durch das Anhäufen von Gütern bestimmt wurde. Der Vorteil des 21. Jahrhunderts wird darin bestehen, reichhaltigere, intensivere und schnellere Fließbewegungen (Flows) in Gang zu setzen und Zugang zu ihnen zu bekommen.

Beziehungen statt Transaktionen. Man kann Güter in bestimmten Mengen als isolierte Transaktion zwischen zwei Handelspartnern kaufen oder verkaufen. Um aber auf den Flows zu surfen, braucht man normalerweise vertiefte, lange zurückreichende und vertrauensvolle Beziehungen. Flows sind nämlich wie dauerhaft eingeschaltete Transaktionen, die ständig ablaufen, eingebettet in eine soziale und kulturelle Matrix.

Entwicklung statt Planung. Der Zugang zu den Beziehungen, die den Flows zugrundeliegen, kann nicht technokratisch geplant oder erzwungen werden. Der Zugang entwickelt sich. Meine Beziehung zu Ihnen hängt ab von Ihrer Beziehung zu Sophie, Joe und Abdul. Die Herausforderung ist also ungleich größer als “Business Development Manager einstellen, Liste von Kontakten erstellen, Kontakte herstellen.” Zugang zu den Flows zu bekommen ist vielmehr nichtlinear, komplex, nicht reduzierbar, dynamisch. Dazu muss man gründlich über komplexe Anreiz- und Belohnungssysteme nachdenken und über den Aufbau seines Netzwerks in Zusammenarbeit mit anderen. Kurzum, es geht darum: Wie können wir möglichst große Anreize für alle schaffen, den Wohlstand für alle zu vergrößern?

Zufallsentdeckungen statt Determinismus. “Unerwartete Begegnungen, die überraschen und erfreuen”, so beschreiben die Autoren “glückliche Zufälle” (serendipity). Sie treffen ein, wenn die oben erwähnte Faktoren alle stimmen. Wenn Erfolg darin besteht, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, dann sollten wir glückliche Zufälle als etwas ansehen, das man fördern kann, indem man sein Netzwerk so optimiert, dass diese Zufälle mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit eintreffen werden. Wenn eine Organisation das schafft, kann sie die dazu nötigen Ressourcen in Echtzeit besorgen, anstatt vorsorglich Güter quartalsweise, Jahre oder gar Jahrzehnte im voraus anzuhäufen.

Potenzial statt “Produkt”. Wenn glückliche Zufälle eintreffen, wächst Ihr Potenzial – Ihre Fähigkeiten und Kapazitäten. In meinem Blog habe ich vielleicht manchmal ein bisschen zu leidenschaftlich argumentiert, dass die Erfolge von morgen an den Parametern von gestern zu messen, der sichere Weg ist um in der Vergangenheit stecken zu bleiben. Pull ist keine langwierige, gewundene Anleitung, wie man mit den oben beschriebenen Mitteln noch mehr hohle Erfolge der Vergangenheit schaffen kann, sei es das Bruttoinlandsprodukt, der Profit oder der Shareholder-“value”. Vielmehr argumentieren die Autoren, dass das Potenzial entscheidend ist – und das eine der größten Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts darin besteht, unsere Denkweise weg vom Alten auf das Neue, auf das Potenzial, auszurichten.

Wie sind wir überhaupt in die Große Rezession hineingeraten? Vielleicht, weil wir immer noch dem Dogma von gestern anhängen. Wenn ich es an etwas festmachen müste, würde ich sagen: Ein Dogma, bestehend aus drei Doktrinen: Objektivismus, Mechanismus und Statik. Im alten Dogma geht es immer darum, “jetzt” “objektive” Wege zu einer besseren Leistung zu finden.

Was ist das Ergebnis dieser drei großen Doktrinen? Eine Wirtschaft, die darauf beruht, nahtlos, ununterbrochen und ohne nachzudenken immer mehr “Produkte” auszustoßen und den Shareholder-Value innerhalb von Nanosekunden zu steigern. Die wirkliche Welt, die Zukunft und unsere Werte können dabei ruhig in Flammen aufgehen. In anderen Worten: Es könnte einen Zusammenhang geben zwischen dem stumpfsinnigen Dogma von gestern und der heutigen bleiernen, trübsinnigen Depression.

Anstatt dieses vergammelte Paradigma unsere Schlunde hintunter zu stopfen – in der Hofnung, dass wir es vor lauter interessanten Beispielen, blumiger Prosa oder jeder Menge Jargon nicht merken – machen die Autoren etwas Radikales. Sie fordern unser altes Dogma mit einer neuen Perspektive heraus. Es ist eine Perspektive, die – meiner eigenen nicht unähnlich – kompromisslos konstruktivistisch, humanistisch und dynamisch ist.

Sie sagt: Wirtschaft ist das, was wir jeden Tag erschaffen, jede Entscheidung, die wir treffen. Wir können in kleinen Schritten und mit großen Träumen eine bessere Wirtschaft kreieren. Diese Perspektive ist verankert im Erschaffen realer, nachhaltiger Werte, indem wir Dinge tun, die wirklich etwas bedeuten in dieser unordentlichen, komplexen – und sehr verletzlichen – menschlichen Welt.

Lesen Sie also Pull nicht einfach nur, um gesagt zu bekommen, was Sie als nächstes tun sollten. Lesen Sie es, weil es ein nuanciertes, unwiderstehliches Bild davon zeichnet, warum Sie etwas tun sollten. Es wird Ihnen helfen, die Konturen eines neuen Paradigmas für den Wohlstand des 21. Jahrhunderts zu sehen, und wichtiger noch: zu fühlen.

John Hagel, Lang Davison, John Seely Brown: “The Power of Pull: How Small Moves, Smartly Made, Can Set Big Things in Motion”. Basic Books, 6. Mai 2010, 288 Seiten. (Partnerlink)

Disclaimer: Zwei Autoren des Buchs bloggen für HBR.org. Diese Rezension war meine Idee. Die Ansichten, die ich hier verbreite, sind natürlich meine eigenen.

Carta dankt Ulrike Langer sehr für die Übersetzung.

Dieser Beitrag erschien im englischen Original als “The Power to Pull Prosperity” in Umair Haques Blog bei Harvard Business Review // Translated and republished with permission. © 2010 by Harvard Business Publishing; all rights reserved.

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