#Big Society

David Camerons „Big Society“: die “große” Bürger-Gesellschaft als Leitziel

von , 30.8.10

Eines kann man der schwarz-gelben Regierungskoalition im Bund gewiss nicht vorwerfen: dass sie in der Tagespolitik Langeweile aufkommen liesse. Da sollen mal eben der Haushalt saniert, das Energiekonzept der Zukunft gefunden, die Hartz IV-Regelsätze neu justiert und die Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umgewandelt werden. Nicht wenig für eine Regierung, deren Kanzlerin sich zuletzt den Vorwurf des “strategischen Schweigens” (Juli Zeh) gefallen lassen musste. Nun also ein ganzes Paket von Großbaustellen – als wolle man dem Souverän beweisen, dass man es besser könne.

Schwarz-gelb an der Macht: Es fehlt die Überschrift

Was dieser Regierung und ihrem Handeln aber weiterhin fehlt, ist ein roter Faden – eine Überschrift, die erkennen lässt, wohin Schwarz-Gelb dieses Land, diese Gesellschaft eigentlich steuern will. Immerhin ist diese Koalition, ungeachtet des dramatischen Umfragentiefs, mit einer komfortablen Stimmenmehrheit im Deutschen Bundestag ausgestattet. Und also mit einer Gestaltungsmacht, die auch durch die neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht gänzlich zunichte gemacht wird. Aber noch immer bleibt unklar, wozu die Regierenden dieses Mandat nutzen wollen.

Dass bürgerliche Parteien durchaus die Kraft haben, ein “Projekt” zu definieren, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Dort zieht der neue Premierminister David Cameron mit einer Idee übers Land, die aufhorchen lässt: die Idee einer “Big Society”.

Cameron und seine Vordenker, darunter vor allem sein engster Berater Steve Hilton, werben offensiv (vgl. The Economist) für einen Rückzug des Staates aus einer Reihe von Lebensbereichen. Vor allem auf der lokalen Ebene soll stattdessen die Zivilgesellschaft – Bürger, Initiativen, Unternehmen – mehr Verantwortung übernehmen: Eltern sollen sich um das Management von Schulen kümmern, Ärzte um die Gesundheitsverwaltung, Betriebe um soziale Wohlfahrtseinrichtungen. Auch bei der Polizei soll es stärkere kommunale Impulse geben.

Cameron und seinem liberal-demokratischen Koalitionspartner Nick Clegg geht es um mehr gesellschaftliche Freiheit, um die Ertüchtigung kleiner sozialer Einheiten – die “Big Society” als subsidiärer, kommunitaristischer Gegenentwurf zum “big government”, dem allmächtigen, überall hinein regierenden Staat.

Cameron schiebt eine Debatte an

Zugegeben: Das britische politische System ist sehr viel zentralistischer als unsere föderale Ordnung. Manches von dem, was Cameron & Co. vorhaben, ist im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland schon Realität. Gleichwohl lohnt der Seitenblick nach Britannien aus mindestens zweierlei Gründen.

Erstens: Es ist ungemein spannend, konzeptionell darüber nachzudenken, welche Alternativen es zu dem Automatismus eines “Der Staat regelt alles” gibt. Deutschland folgt traditionell einem eher pater- (bzw. mater-)nalistischen Politikansatz. Hierzulande ist es gleichsam selbstverständlich, dass sich der Staat von der Kita über Schule und Arbeits-“Verwaltung” (!) bis zur gesetzlichen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung faktisch um sämtliche Lebensbereiche kümmert.

Jüngere Errungenschaften wie Elterngeld, Verstaatlichung von Banken oder Bildungschip sind Ausdruck dieser Philosophie einer allzuständigen Zentralinstanz. Erwägt der Staat doch einmal einen Abbau, wie jetzt bei der Bundeswehr, dann geschieht dies aus purer Geldnot. Überzeugender wäre ein proaktiver Rückbau von Staatstätigkeit, um so neue Freiräume für gesellschaftliche Kreativität und ziviles Engagement aufzumachen.

Zweitens aber zeigen die Angelsachsen wieder einmal, was Kommunikation in der Politik bewirken kann. Schon von “New Labour” ging eine unwiderstehliche Faszination aus, mit der Blair, Campbell und Mandelson die Vorherrschaft der Tories hinwegfegten. Obamas “Yes, we can” ist zwar inzwischen weitgehend diskreditiert, reichte aber aus, um einen halben Kontinent zu verzücken. Nun also die “Big Society” – wieder so eine Überschrift, die neugierig macht, Aufmerksamkeit auf sich zieht und eine Debatte in Gang setzt, die alle Bürger involviert.

Und genau das fehlt in Deutschland: ein Gesamtziel, nach welchem diese Gesellschaft sich streckt; ein “Konto”, auf das sämtliches Regierungshandeln “einzahlt”.

Hier mein Vorschlag: Angelehnt an das britische konservativ-liberale Projekt, sollten auch Merkel und Westerwelle die “Gesellschaft der Bürger”, den “Bürgerstaat”, eine “neue Bürgerlichkeit” zum Leitstern ihres Tuns erheben. Und alle Bürger dazu aufrufen, mehr Verantwortung für die Gestaltung ihrer Lebenswelten zu übernehmen, damit der Staat sich auf seine Kernaufgaben (Innere und äußere Sicherheit; Fürsorge für Bedürftige) zurückziehen kann.

Die “große” (Bürger-) Gesellschaft

Schon klar: Wenn man das Thema “neue Bürgerlichkeit” oder – provozierender noch – “Weniger Staat” beim Espresso im politischen Berlin ventiliert, schallt es einem reflexartig entgegen: “Damit gewinnst Du in Deutschland keine Wahl. Die Menschen wollen Sicherheit, und dafür ist nun mal der Staat zuständig”.

Mag ja sein. Allerdings hat diese Allzuständigkeit über die Jahre zu einer Staatsverschuldung von 1,7 Billionen Euro geführt. Völlig zu Recht ruft Wolfgang Schäuble in der FAZ deshalb zum “Maßhalten” auf. Was wir jetzt brauchen, sind politische Köpfe, die den Mut, die visionäre Kraft und das kommunikative Talent aufbringen, die “große” (Bürger-) Gesellschaft auch bei uns als Leitziel populär zu machen.

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