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Afghanistan-Protokolle: bestürzende Gesamtschau, Spiegel-Desaster und die Medienmacht von Wikileaks

von , 26.7.10

Nachdem Carta heute Morgen auf die drei von Wikileaks ausgewählten Leitmedien Spiegel, New York Times und Guardian hingewiesen hat, hier nun ein Überblick über die lesenswertesten Texte zur Veröffentlichung der Afghanistan-Protokolle.

Als Einordnung sei zuerst auf Ulrike Winkelmann verwiesen. Sie spricht im Freitag von einer bestürzenden Gesamtschau, nach der ihr ein Ausweg aus dem Einsatz in Afghanistan komplett verschüttet scheint:

Die Gesamtschau muss bestürzen. Denn auch für die Bewertung des Afghanistankriegs, über den verblüffend viele Menschen speziell in Deutschland stets immer schon alles gewusst zu haben meinen, gilt der Unterschied zwischen begründeter Vermutung und schriftlichem Beleg.

Die Berichte über offene Korruption an den Checkpoints, über interne, auch tödlich ausgetragene Machtkämpfe der afghanischen Truppen und Polizisten, über folgenlose Eingriffe der internationalen Truppen zeigen überdeutlich, dass der zahlenmäßige Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte nie und nimmer ein ausreichendes Kriterium für die angestrebte „selbsttragende Stabilität“ in Afghanistan sein kann.

Im Vergleich zu Guardian und New York Times enttäuschte der Spiegel mit seiner fehlenden Aufbereitung der Daten. Weitere Stimmen, die die Einschätzung teilen, Spiegel Online habe sich mit seiner printfokussierten Berichterstattung nicht gerade hervorgetan:

Thomas Knüwer: Die Afghanistan-Protokolle und das Scheitern des “Spiegel”

[E]s mussten mindestens zwei Medienhäuser sein, am besten zwei, die in Konkurrenz stehen. So entstand Journalismus auf der Höhe der Zeit. Denn “NYT” und “Guardian” beließen es nicht beim schlichten Berichten und Einordnen in Form von Artikeln. Die “New York Times” legte zum Beispiel offen, warum sie welche Dokumente für besonders wichtig hält. Sie lädt die Leser ein, Fragen an die Autoren zu stellen. Und es gibt eine Auswahl von Dokumenten – und natürlich eine Sonderseite auf der Homepage.

Und der “Spiegel”?

Hat seit gestern auf seinem üblichen Afghanistan-Deeplink vier Artikel veröffentlicht. Keine Leserführung, keine alternative Visualisierung, keine Interaktion. Journalismus 1.0. Diese sensationellen Enthüllungen hätte man vor 10 Jahren exakt genauso im Internet veröffentlicht.

Christian Sickendieck sieht in der Aufbereitung der Afghanistan War Logs, aber auch in der Rezeption der Geschichte aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage ein Desaster für den Spiegel:

Nicht der Spiegel, Afghanistan oder die Veröffentlichung der Dokumente bestimmen die Überschriften und Diskussionen in den Medien, in den Kantinen unseres Landes, sondern die unfassbare Katastrophe in Duisburg. Normalerweise wäre jetzt eine lange Diskussion über den Sinn und Unsinn des Afghanistan-Einsatzes entbrannt, die Bild hätte mit großen Buchstaben und Pathos flankiert und anstatt Beileidsbekundungen aus der Politik hätten zuerst Hinterbänkler ein Ende des Krieges gefordert, bevor zu Guttenberg mit ernster Miene vor die Presse getreten wäre und das Tina-Prinzip verteidigt hätte. Mittendrin der Spiegel, sich im Erfolg sonnend – in fast jedem Artikel und Bericht wäre auf die Veröffentlichung durch die Redakteure an der Brandstwiete in Hamburg verwiesen worden. So aber überschattet ein aktuelles Ereignis wochenlange journalistische Arbeit.

Fefe kommentiert zur Zukunft des Journalismus: Sie liegt für ihn in der faszinierenden Aufbereitung des Guardian, im Vergleich dazu bezeichnet er den Spiegel als armseelig.

DAS ist die Zukunft des Journalismus. Wenn jemand ein Internet-Angebot hat, das einen tatsächlich dazu bringt, sich stundenlang fasziniert durch Webseiten zu klicken. Und bei den Afghanistan War Logs schafft das nur einer: der Guardian. Die haben da ein Video, wo ein Journalist der interessierten Bevölkerung erklärt, wie man die Einträge zu lesen hat, was die Abkürzungen bedeuten. Und dann haben sie tatsächliche Einträge zum Lesen. […] Man muß genug Substanz dahinter haben, dass sich der geneigte Leser stundenlang gespannt durchklicken kann. Denn das merke ich mir als Leser. Und komme wieder.

Interessant auch die unterschiedlichen Auslegungsweisen der Dokumente in den drei Medien. Während im Guardian (Wordle) die zivilen Opfer und militärischen Zwischenfälle hervorgehoben werden, konzentriert sich die Times (Wordle) auf die Verbindung zwischen den Taliban und einem geheimen Teil des pakistanischen Nachrichtendiensts. Gut visualisiert ist dies in den Wordles, die Micah L. Sifry erstellt hat: “Wikileaks Releases Giant Trove of Secret US Documents on Afghan War“.

Ergänzend hier das Wordle für den Aufmacher-Beitrag von Spiegel Online, in dem die Bundesregierung, Afghanistan und TF (Task Force 373, Einheit in der deutschen Zone) eine wichtige Rolle einnimmt.

Aber auch über Wikileaks selbst wurde wieder viel geschrieben:

Bemerkenswert hier der Beitrag von Jay Rosen, in dem er unter anderem ausspricht, dass es sich bei Wikileaks um die erste staatenlose Nachrichtenorganisation handle:

Wikileaks is organized so that if the crackdown comes in one country, the servers can be switched on in another. This is meant to put it beyond the reach of any government or legal system. That’s what so odd about the White House crying, “They didn’t even contact us!”

Appealing to national traditions of fair play in the conduct of news reporting misunderstands what Wikileaks is about: the release of information without regard for national interest. In media history up to now, the press is free to report on what the powerful wish to keep secret because the laws of a given nation protect it. But Wikileaks is able to report on what the powerful wish to keep secret because the logic of the Internet permits it. This is new. Just as the Internet has no terrestrial address or central office, neither does Wikileaks.

Stefan Winterbauer findet, dass die Organisation künftig stärker beobachtet werden müsse, da man die weitere Motivation, wie Ruhm, Geld oder politische Agenda, der Wikileaks-Macher nicht kenne. Er sieht eine wachsende Medienmacht von Wikileaks:

Was aber sagt die Art und Weise der von Wikileaks konzertierten Veröffentlichung der Dokumente über den Medienbetrieb aus?

Wikileaks selbst hat die drei Medien ausgewählt, die nun die Info-Schätze exklusiv ausbeuten durften. Der geheimnisvolle Wikileaks-Vordenker Julian Assange hat Vertreter der drei glücklichen Medien in London getroffen, Interviews gegeben, Hof gehalten und seine Ware präsentiert. Einen Monat hatten Spiegel, New York Times und Guardian Zeit, das Material unabhängig voneinander auszuwerten. Die Veröffentlichung erfolgte dann zeitgleich. Es ist schon bemerkenswert, dass ein Mann, von dem kaum etwas bekannt ist, die Titel-Stories von drei weltweit führenden Leitmedien steuern kann.

Grundsätzlicher äußert sich Jeff Jarvis: What if there are no secrets?

I’m writing a book arguing that we are becoming more public and that’s good — and that institutions (government, companies) have no choice but to live up to our new standards of transparency and openness. But I am also examining when transparency goes too far.

[…]

In the war logs, we are learning things we should know. It’s the leakers — Wikileaks and its three media outlets — who are deciding what not to make public (with some consultation, post-leak, from government) and what should be open. So government loses the ability to decide secrets. Now leakers do. Which side do we trust to decide?

Über Hinweise zu weiteren lesenswerten Texten freuen wir uns in den Kommentaren.

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