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Digitalisierung der Gesellschaft: Und bist du nicht willig, so brauch ich Geduld

von , 5.7.10

Anlässlich der heutigen Anhörung der Internet-Enquete hat Peter Kruse die folgenden zehn Thesen zu den Folgen der Digitalisierung der Gesellschaft zusammengestellt:

1. Die emotional geführte Debatte um die negativen persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Medien ist Ausdruck der ganz normalen Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien.

2. Die angeblich durch die digitalen Medien ausgelöste Überforderung durch Informationsüberflutung ist eine Frage der Bewältigungsstrategien und nicht Folge des Erreichens prinzipieller Kapazitätsgrenzen.

3. Aufgrund des im Internet realisierten strukturellen und funktionalen Entwicklungsstandes entsteht ein generell wachsendes Bedürfnis der Menschen, sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.

4. Durch die enorme Vernetzungsdichte, die hohe Spontanaktivität der Nutzer und die Existenz länger kreisender Erregungen besteht im Internet eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit für Lawinen-Effekte.

5. Mit der Möglichkeit des spontanen Entstehens von Massenbewegungen durch Resonanzbildung in den sozialen Netzwerken verlagert sich die Macht grundlegend von den Anbietern auf die Nachfrager.

6. Durch die enorme Zunahme der Nutzerzahlen und die Angleichung der Altersverteilung der User an die Gesamtbevölkerung wird die Internet-Dynamik zunehmend zum Spiegel von Gesellschaftsdynamik.

7. Die durch das Internet gesteigerte Einsichtsfähigkeit in gesellschaftliche Zusammenhänge führt in Verbindung mit dem Wissen um die Macht der Resonanzbildung zur Re-Politisierung der Öffentlichkeit.

8. Das erstarkende öffentliche Interesse am Spiel der Kräfte zwischen unterschiedlichen Stakeholder-Perspektiven fordert von Unternehmen und Institutionen maximale Transparenz und Nachhaltigkeit ab.

9. Die Machtverschiebung durch das Internet stellt eine große kulturelle Herausforderung dar für alle Organisationen mit primär auf Systemkontrolle und Wettbewerb ausgerichteten Handlungsstrategien.

10. Das im Internet bestehende Missverhältnis zwischen der erlebten Flüchtigkeit von Interaktionen und der dauerhaften Speicherung hinterlassener Spuren erhöht systembedingt das Risiko von Missbrauch.

Erläuterung der 10 Thesen im Detail:

1. Die emotional geführte Debatte um die negativen persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Medien ist Ausdruck der ganz normalen Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien.

Dass das Neue nicht einfach ist, ist einfach nicht neu. Die Auseinandersetzung der Menschen mit technischen Innovationen, die spürbar in den Alltag eingreifen, ähnelt keineswegs zufällig den fünf Phasen der Bewältigung bei der Diagnose einer chronischen Krankheit: Verleugnen, Auflehnen, Verhandeln, Resignation und Annahme.

Natürlich ist der Vergleich des Internets mit einer chronischen Krankheit nicht wirklich passend. Der Vergleich ist eher eine unzulässige Verharmlosung. Krankheitsverläufe sind bekannt. Es gibt Beispiele, Geschichten, Wahrscheinlichkeiten. Die Unsicherheit bezieht sich nur auf den individuellen Fall.

Beim Internet ist das anders. Hier ist die Unsicherheit ein gesellschaftliches Phänomen und konkrete Vorhersagen können angesichts fehlender Erfahrungen im Grunde nicht mehr sein, als der berühmte Blick in die Glaskugel. Bei dem Versuch einer Technologiefolgeabschätzung kommt es daher schnell zu Lagerbildungen, in denen oft die Vehemenz der Einnahme des eigenen Standpunktes den Mangel an tragfähigen Argumenten wett zu machen versucht.

Je nachdem in welcher Phase der persönlichen Bewältigung des Neuen sich der jeweilige Protagonist gerade befindet, wird entweder Bedeutung in Frage gestellt „Kein Schwein interessiert das“ (taz.de 15.09.2007), Wertigkeit angezweifelt „Macht das Internet doof?“ (Spiegel 33/08), Reglementierung angemahnt „Warum das Internet neue Regeln braucht“ (Spiegel, 33/09), Überforderung beklagt „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ (Spiegel Online 16.11.2009) oder volle Akzeptanz signalisiert „Eine Kulturform, die auf Begeisterung aufsetzt“ (Faz.net 18.06.2009). Die Standpunkte zum Internet beschreiben oft weniger das Phänomen als vielmehr den emotionalen Umgang damit (s. auch Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik, Merkur 727/09).

2. Die angeblich durch die digitalen Medien ausgelöste Überforderung durch Informationsüberflutung ist eine Frage der Bewältigungsstrategien und nicht Folge des Erreichens prinzipieller Kapazitätsgrenzen.

Dass die Geschwindigkeit der Erzeugung neuer Informationen in der modernen Gesellschaft selbst im eng umrissenen Suchraum von Fachexperten inzwischen größer ist, als die individuelle Aufnahmefähigkeit, ist eigentlich eine Binsenweisheit. Aber mit dem Internet erreicht die Flutwelle nun ungefiltert das Alltagsleben. Ohne die ordnende Hand redaktioneller Bearbeitung und ohne die „Kanalisierung“ durch die Massenmedien wird für jedermann spürbar, was eigentlich längst selbstverständlich ist.

Im Internet verlagert sich die Aufgabe der Komplexitätsreduktion und der Bewertung radikal vom Sender auf den Empfänger. Trifft der ungefilterte Echtzeitstrom von Information, der 24 Stunden am Tag weltweit erzeugt wird, auf Rezeptionsgewohnheiten, die anhand von Rundfunk, Fernsehen und Printmedien gebildet worden sind, ist ein Gefühl völliger Überforderung unvermeidlich.

Das sich ergebende Bedürfnis nach Rauschunterdrückung und nach Möglichkeiten, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen, hat die Suchmaschinen zur ersten wirklichen Killerapplikation im Internet gemacht. Ohne automatisches Sprachverstehen bleibt allerdings die inhaltliche Bewertung durch den einzelnen Menschen letztlich die einzig wirklich tragfähige Form der Reduktion von Komplexität. Der Vermittlung von Kompetenzen zum angemessenen Umgang mit den neuen Medien ist entsprechend die höchste gesellschaftliche Priorität einzuräumen. Ein Schulsystem, dessen pädagogische Grundausrichtung immer noch eher vertikale, fakten- und wissensorientierte Lernstrategien bevorzugt, erscheint angesichts der neuen Herausforderungen wenig angemessen.

Es spricht viel dafür, gezielt Formen des Umgangs mit Information zu fördern, bei denen es mehr um die horizontale Verbindung von Fakten zu Mustern und um das Herstellen von Zusammenhängen geht. Es lässt sich leicht ermessen, welch radikales Umdenken das in einem Bildungssystem bedeutet, das immer noch glaubt, seine Leistungsfähigkeit über die Ergebnisse von Pisa-Studien nachweisen zu können. Die Effizienzkriterien industrieller Optimierung sind als Leitidee pädagogischer Arbeit in der Schule und für die Gestaltung universitärer Lernwege denkbar ungeeignet. Netzwerkintelligenz braucht die Fähigkeit zum Querdenken und zur einordnenden Bewertung von Wissen, das außerhalb des eigenen Spezialisierungsbereiches liegt.

3. Aufgrund des im Internet realisierten strukturellen und funktionalen Entwicklungsstandes entsteht ein generell wachsendes Bedürfnis der Menschen, sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.

Zugang zum Internet, jederzeit und von überall, wird immer mehr zur selbstverständlichen Erwartungshaltung der Menschen in der Gesellschaft. Ein Ausfall der Informations- und Kommunikationsnetze würde heute wahrscheinlich bereits zu ähnlicher Entrüstung führen, wie ein Stromausfall, wie Wassermangel oder wie eine Einschränkung in der individuellen Mobilität durch Mängel in der Verkehrsinfrastruktur. Zugang zum Internet entwickelt sich im Erleben der Bürger zunehmend zu einem Teil der fundamentalen Fürsorgepflicht des Staates.

Gleichzeitig sorgt die neue Generation der Endgeräte, von Smartphone bis Tablet-Computer, für eine enorme Verringerung der individuellen Nutzungsschwelle. Der Zugang zum Netzwerk ist sicherlich nur noch bedingt ein Problem der individuellen Befähigung. Die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe und die Gefahr einer digitalen Spaltung der Gesellschaft ist mehr eine Frage ökonomischer Möglichkeiten und sollte Gegenstand entsprechender Sozialleistungen werden.

Die Allgegenwart eines Netzwerkes, das es jedem ermöglicht, sich schnell und aktiv in laufende Prozesse einzuklinken, beginnt ein breites Bedürfnis nach aktiver Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen zu erzeugen.

In vielen der von uns durchgeführten Studien zum Wandel der kulturellen Wertepräferenzen in Deutschland wird deutlich, dass das Angebot der Menschen, Verantwortung zu übernehmen, inzwischen viel stärker ausgeprägt ist, als von der Seite der professionellen Anbieter wahrgenommen oder auch gewünscht wird. Ob im Bereich von Finanzdienstleistung, Medizin oder Politik, der Stern des Experten hat in der Einschätzung der Kunden, Patienten oder Wähler deutlich an Glanz verloren.

Die bloße Existenz des Internets erzeugt Erwartungshaltungen bezogen auf Beteiligung, die zu ignorieren, sich weder die Wirtschaft noch die Politik leisten kann. Die Entwicklung von Mehrwert stiftenden Instrumenten der Einbeziehung der Menschen in Ideenfindungs- und Entscheidungsprozesse sollte Gegenstand entsprechender Forschungsförderung sein. Die Leitfrage zu dieser Thematik wurde bereits 2006 vom Massachusetts Institute of Technology zusammengefasst:

How can people and computers be connected so that – collectively – they act more intelligently than any individuals, groups, or computers have ever done before?

4. Durch die enorme Vernetzungsdichte, die hohe Spontanaktivität der Nutzer und die Existenz länger kreisender Erregungen besteht im Internet eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit für Lawinen-Effekte.

Das Internet als technisches System zu verstehen, käme einer Wiederholung des Versuchs gleich, die Reichhaltigkeit des menschlichen Erlebens und Verhaltens auf die Analyse neuronaler Vorgänge im Gehirn reduzieren zu wollen. Das Internet faszinierte von Anfang an als ein soziales Netzwerk, in dem das Geschehen mehr durch die Beteiligungsmotivation der Interaktionspartner getrieben wird, als von der Hard- und Softwareentwicklung.

Der erste Internet-Boom in den 90er Jahren wurde von der Möglichkeit des schnellen, unkomplizierten und kostenlosen Informationszugangs ausgelöst. Man berauschte sich an der Vielfalt des Dargebotenen und über die Suchbewegungen der User explodierte die Vernetzungsdichte im World Wide Web. Alles wurde mit allem verlinkt.

Mit dem Web 2.0 ist nun zu dieser Explosion der Konnektivität (Kanten) eine dramatische Erhöhung spontan aktiver Elemente (Knoten) im Netzwerk hinzugekommen. Die Existenz nicht-linearer Rückkoppelungseffekte wird damit immer wahrscheinlicher und die Vorhersagbarkeit von Entwicklungen nimmt ab. Zusätzlich angeheizt wird diese dynamische Charakteristik durch die Existenz kreisender Erregungen im System, wie sie von der durch die Twitter-Nutzer eingeführten „Re-Tweet“-Funktion begünstigt werden.

Das Internet ist ein sich selbst organisierendes System, das aufgrund seiner Eigenschaften nah am Instabilitätspunkt arbeitet und daher eine hohe Bereitschaft besitzt, sich plötzlich autokatalytisch aufzuschaukeln. Hypes sind im Internet ein alltägliches Phänomen. Der Versuch einer steuernden Kontrolle ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Die einzige Chance, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten, ist der Eingriff über Zugangsbeschränkung, Indizierung oder Zensur.

Man kann das Internet abschalten, aber man kann es nicht beherrschen. Aufgrund der Fähigkeit zur spontanen Ausbildung von Massenphänomenen kann das Internet sogar nachhaltig verändernd in Machthorizonte eingreifen, die sich bislang weitgehend erfolgreich gegenüber externen Einflüssen abgeschottet haben.

5. Mit der Möglichkeit des spontanen Entstehens von Massenbewegungen durch Resonanzbildung in den sozialen Netzwerken verlagert sich die Macht grundlegend von den Anbietern auf die Nachfrager.

Der eigentliche, vom Internet ausgelöste Paradigmenwechsel bezieht sich auf die fundamentale Neugestaltung von Kommunikation. Das bislang stillschweigend akzeptierte Sender-Empfänger-Modell verliert dramatisch an Gültigkeit. Vor dem Internet musste sich jede Botschaft, die Gehör finden wollte, in erster Linie Gedanken über die Verstärkung ihrer Sendeenergie machen. Wirkung war entweder eine Frage des Budgets von Werbemaßnahmen oder der Fähigkeit, die Aufmerksamkeit der Massenmedien auf sich zu lenken. Die Demonstration auf der Straße war das zentrale Prinzip der Verbreitung alternativer, noch nicht mainstreamfähiger Ideen. Der Protest gegen die deutsche Volkszählung im Mai 1987 sorgte besonders kreativ für seine Verbreitung, indem er sich auf Geldscheinen artikulierte.

Mit dem Internet ist diese Situation nun eine gänzlich andere. In den Netzwerken entscheidet nicht mehr die Stärke eines Sendeimpulses darüber, wie viele Menschen erreicht werden, sondern einzig und allein die Resonanzfähigkeit beim potentiellen Empfänger. Eine Botschaft wird nicht passiv empfangen, sondern aktiv ausgewählt.

Im Web 1.0 war die Währung noch spontane Aufmerksamkeit; im Web 2.0 ist es bewusst gegebene Anerkennung und Interesse. Durch die Digitalisierung verlagert sich die Macht irreversibel von den Anbietern auf die Nachfrager. Ein aufwändig gemachtes Musikvideo kann völlig wirkungslos verhallen, während ein verwackeltes Handyfilmchen der Performance eines 12-jährigen Grundschülers in wenigen Tagen weltweit 20 Millionen Mal angesehen wird.

Trifft etwas auf Resonanz, dann greift die im Netzwerk weder zeitlich noch räumlich beschränkte Selbstverstärkung durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Werden dabei wichtige Netzwerkknoten (Hubs) einbezogen, kann sich eine kleine Erregungswelle in kürzester Zeit zu einem Tsunami aufschaukeln. Resonanzbildung ist der Treiber hinter dem Prinzip des Long Tail, d.h. hinter der Möglichkeit, auch aus einer Nische heraus interessierte Nachfrager zu erreichen und ökonomisch erfolgreich zu sein.

Die Bedeutung, die die Machtverlagerung zum Nachfrager im Kontext von Agenda-Setting und Interessensvertretung vermutlich erreichen wird, ist erst in Ansätzen zu erahnen. Um bei der Einschätzung der Wirkpotentiale der neuen Formen der Netzwerkkommunikation nicht völlig daneben zu liegen, sind Ursache-Wirkungs-Betrachtungen sorgfältig zu vermeiden.

Die nicht-lineare Dynamik der Netzwerke begünstigt das als Schmetterlings-Effekt bekannt gewordene chaostheoretische Prinzip „kleine Ursache – große Wirkung“. Die Studenten, die in Wien mit der Besetzung des Audimax der Universität begonnen haben, waren nicht die Verursacher der europaweiten Proteste, aber sie haben den Stein ins Rollen gebracht. Zu behaupten, dass ein einzelner Tweet den Rücktritt von Bundespräsident Köhler ausgelöst hat, ist unsinnig – zu behaupten, dass das Internet nur eine marginale Rolle dabei gespielt hat, aber auch.

6. Durch die enorme Zunahme der Nutzerzahlen und die Angleichung der Altersverteilung der User an die Gesamtbevölkerung wird die Internet-Dynamik zunehmend zum Spiegel von Gesellschaftsdynamik.

Keine andere Informationstechnologie hat so schnell so viele Menschen erreicht, wie das Internet. Das Radio brauchte 38 Jahre bis zur Einbeziehung von 50 Millionen Nutzern, das Fernsehen 13, das Handy 11 und das Internet noch ganze 4 Jahre. Facebook hat die doppelte Größenordnung von 100 Millionen Usern bereits nach 9 Monaten hinter sich gelassen.

Am Anfang der Entwicklung waren es dabei die sogenannten Digital Natives, die Generation, die mit den neuen Medien aufgewachsen ist, die in die sozialen Netzwerke drängten. Es konnte der Eindruck entstehen, dass Facebook, Twitter, Youtube und Co. eine Art virtuelles Jugendzentrum sind. Doch inzwischen zeigen die Fakten, dass sich die Altersverteilung den Gegebenheiten in der Gesamtbevölkerung angenähert hat. Facebook hat über 540 Millionen Nutzer und ist rein rechnerisch zur drittgrößten Nation der Welt avanciert.

Durch die enormen Zuwachsraten, durch den Grad aktiver Beteiligung und die Diffusion in alle Bereiche des täglichen Lebens wird das Internet von einer abgekoppelten „Virtual Reality“ zum hoch auflösenden Spiegelbild gesellschaftlicher Gegenwart. Die von den Menschen im Internet hinterlassenen Spuren bilden einen Rohstoff, der in den nächsten Jahren wohl einen Wert gewinnen wird, der selbst die im Begriff des Data-Minings angelegten Assoziationen zu Edelmetallen in den Schatten stellt.

Instrumente, die vergleichbar zu den bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung einen analysierenden Zugang zu Aktivitätsmustern im Internet ermöglichen, sind vielleicht die aussichtsreichsten Kandidaten für einen nächsten Internet-Boom. Sorgfältig zu beobachten sind in diesem Zusammenhang die Fortschritte in der automatischen Sprachverarbeitung. Je besser die Analyseinstrumente werden, desto drängender wird das Problem des Datenschutzes und desto größer werden die prinzipiellen Missbrauchsmöglichkeiten.

Neben der Entwicklung Mehrwert erzeugender Formen der Nutzung kollektiver Intelligenz über das Internet, stellt sich die Forschung im Zusammenhang mit Meta-Analysen von Internet-Daten als zweiter besonders aussichtsreicher Förderschwerpunkt dar. Solange die Instrumente einer systematischen Datenanalyse allerdings noch so rudimentär sind wie heute, gilt für alle gesellschaftlichen Akteure: „Dabei sein ist alles!“. Wer selbst im Wasser schwimmt, gewinnt immer noch den besten Eindruck von den jeweilig wirksamen Strömungsverhältnissen. Einfühlungsvermögen muss ersetzen, wozu Analysen noch nicht in der Lage sind.

7. Die durch das Internet gesteigerte Einsichtsfähigkeit in gesellschaftliche Zusammenhänge führt in Verbindung mit dem Wissen um die Macht der Resonanzbildung zur Re-Politisierung der Öffentlichkeit.

Ob aus der Perspektive des interessierten Einzelnen oder der Perspektive einer interessierten Öffentlichkeit, das Real Time Web ist eine historische Chance zur Reflexion und zur Veränderung gesellschaftlicher Entwicklung. Durch die enormen Zuwachsraten, den Grad aktiver Beteiligung und die Diffusion in alle Bereiche des täglichen Lebens wird das Internet zunehmend von der „Virtual Reality“ zum hoch auflösenden Spiegelbild der Gegenwart.

Dass die Diskussion um das Internet mit besonderer Schärfe von den Vertretern der „alten“ Massenmedien geführt wird, ist beileibe kein Zufall. So wie die Fotografie die Erkenntnis individueller Identität gefördert hat, so steigert das Internet das “Selbst“-Bewusstsein einer Gesellschaft. Der professionelle Journalismus wird in seiner Bedeutung relativiert. Das Internet wird mehr und mehr zum Leitmedium, dessen Themensetzungen von den anderen Publikationsorganen aufgegriffen und verstärkt werden.

Für die Lebendigkeit demokratischer Prozesse ist die Entwicklung ein echter Glücksfall. Es zeigt sich immer mehr, dass die vielzitierte Politikverdrossenheit nur ein Ergebnis zunehmender Distanz gegenüber den etablierten Institutionen politischen Handelns ist und keineswegs ein allgemein abnehmendes Interesse an politischen Fragestellungen signalisiert. Der überraschende Mobilisierungsgrad bei der gerade gelaufenen Bundespräsidentenwahl ist nur die Spitze eines Eisbergs mit durchaus tragfähigem Tiefgang.

Bei emotionalisierenden Themen und insbesondere im überschaubaren Rahmen regionaler Fragestellungen entsteht Beteiligung jenseits von Parteigremien und Wahlzyklen. Im Rottal-Inn-Kreis erreichte ein Bürgerentscheid gegen die Privatisierung von Krankenhäusern eine 90%-Beteiligungsquote, obwohl sich die CSU-Mehrheit explizit für die Privatisierung ausgesprochen hatte. In Thüringen haben Parteilose erstmals drei Viertel aller Bürgermeisterposten besetzt.

Es ist Aufgabe der Parteien, diese Entwicklung aufzugreifen, und die sich andeutende Re-Politisierung der Bevölkerung in eine Trendwende bezogen auf die Bewertung demokratischer Institutionen und die Beteiligung an Wahlen um zu münzen. Die von uns durchgeführten qualitativen Interviews legen nahe, dass eine derartige Aktivierung aller Voraussicht nach nur gelingen kann, wenn sie über das Aufgreifen resonanzfähiger Themen und die Öffnung kurzfristig wirksamer, direkterer Beteiligungsformen unterstützt wird.

Wenn es nicht gelingt, eine Verbindung zwischen den Plattformen, Kampagnen und Initiativen im Internet mit den formalen demokratischen Entscheidungsprozessen herzustellen, droht die digitale Spaltung einer ganz anderen Art. Ohne Experimentierfreude, die weit über die Installation der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hinausgeht, wird der von Max Winde formulierte Tweet „Ihr werdet Euch noch wünschen wir seien politikverdrossen“ wohl schneller Wirklichkeit werden, als es den Parteien lieb sein kann.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es über die sozialen Netzwerke gelingt, auch jenseits von Lagerbildung und Stammwählerschaften durchaus relevante Mehrheiten zu erzeugen und in das politische Geschehen einzugreifen, ist bereits heute hoch und dürfte weiter steigen.

8. Das erstarkende öffentliche Interesse am Spiel der Kräfte zwischen unterschiedlichen Stakeholder-Perspektiven fordert von Unternehmen und Institutionen maximale Transparenz und Nachhaltigkeit ab.

Angesichts vieler Millionen Blogger und Microblogger, die sich im Internet fast täglich zu Wort melden, ist inzwischen auch dem letzten PR-Strategen klar geworden, dass in den Netzwerken eine Steuerung von Kommunikation so gut wie unmöglich ist. Was die Machtverlagerung von Anbieter zum Nachfrager faktisch bedeutet, haben viele Unternehmen und Institutionen bereits mehr oder weniger schmerzhaft erfahren müssen.

Der jüngste, von Greenpeace provozierte PR-Gau bei Nestlé hat erst aufgrund der Steuerungsversuche des Konzerns die Schwelle zur Selbstaufschaukelung überschritten – Krisenintervention als Brandbeschleuniger. Die Netzwerke erzwingen Authentizität und Transparenz. Alle gesellschaftlichen Akteure stehen unter permanenter Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit, der neben den Profis des investigativen Journalismus ein schier unbegrenztes Reservoir an fein verteilten, nicht kontrollierbaren Messfühlern zur Verfügung steht.

Studenten der Universität Potsdam haben gerade ein Analyseverfahren entwickelt, das die Aufgabe hat, aus frei verfügbaren Daten im Internet Verbindungen zwischen Politikern und Unternehmen aufzuspüren, um Interessenskonflikte sichtbar zu machen. Das ist erst der Anfang ähnlicher Versuche. Bei den Unternehmenslenkern steigt das Bewusstsein, dass die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und die Förderung von CSR-Projekten mehr ist als Marketing und Imagepflege.

In einer vernetzten Welt und in Anbetracht der Notwendigkeit über einen attraktiven Employer Brand im War for Talents zu punkten, ist es ebenso wichtig, Reputation zu gewinnen, wie es leicht ist, sie zu verspielen. Statt in Werbebudgets zu investieren, engagiert sich beispielsweise der Softdrink-Produzent Pepsi auf der Internetplattform „www.refresheverything.com“ mit mehreren Millionen US-Dollar für soziale Projekte und für die Förderung von Ideen zur Bekämpfung der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko.

Nachhaltigkeit in seiner sozialen, ökologischen und kulturellen Dimension ist ein Thema, das in den Netzwerken grundsätzlich eine hohe Resonanzfähigkeit besitzt. Dabei wird die Glaubwürdigkeit um so höher sein, je besser es Unternehmen und Institutionen gelingt, vom klassischen Sponsoring und von der Orientierung auf den Stifterwillen zu Grassroot-Konzepten zu kommen, bei denen die Menschen frühzeitig in die Projektentwicklung und in die Mittelvergabe einbezogen werden.

9. Die Machtverschiebung durch das Internet stellt eine große kulturelle Herausforderung dar für alle Organisationen mit primär auf Systemkontrolle und Wettbewerb ausgerichteten Handlungsstrategien.

Das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke des Web 2.0 sind aufgrund der nicht-linearen Dynamik und der parallelen Informationsverarbeitung prinzipiell ein Angriff auf jede hierarchisch geprägte Organisationsform. Im Internet ersetzt das Vertrauen auf Kommunikation die Vertraulichkeit von Kommunikation.

Bei einer SMS oder einer E-Mail besitzt der Empfänger Exklusivität. Die Verbreitung eines Tweets oder eines Blog-Beitrages liegt dagegen weder im Ermessen des Absenders noch kann ein einzelner Empfänger die Verbreitung gezielt einschränken. In Kulturen, in denen die Verbindlichkeit von Beziehungsnetzen noch eine zentrale Rolle spielt, kann die Transparenz und Unkontrollierbarkeit der neuen Medien nur als Fehler und Störung aufgefasst werden. Angesichts der wachsenden Dynamik in Wirtschaft und Gesellschaft, sowie angesichts der Komplexität der anstehenden Problemlagen werden jedoch Handlungsstrategien, die auf Systemkontrolle und Wettbewerb ausgerichtet sind, in Zukunft wohl immer mehr mit einem abnehmenden Grenznutzen zu kämpfen haben.

Bereits in den 50er Jahren hat der Britische Kybernetiker William Ross Ashby in seinem „Gesetz gegengleicher Komplexität“ darauf hingewiesen, dass die Zahl der möglichen Zustände in einem Kontrollsystem immer größer sein muss, als die Zahl der möglichen Zustände im zu kontrollierenden System – oder kurz ausgedrückt:

In einer komplexen und dynamischen Welt ist die Bildung von Netzwerken sowohl das Problem, als auch die Lösung des Problems. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, vorherzusagen, dass das Thema von Machtausübung und Führung in den nächsten Jahren immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses rücken wird.

In vielen Unternehmen laufen bereits Bemühungen, die vorherrschende leistungsorientierte Wettbewerbskultur über eine Kultur der Kooperation und der Vernetzung zu erweitern. Die Unternehmen in den entwickelten Marktwirtschaften sind sich zunehmend darüber im Klaren, dass sie im internationalen Wettbewerb auf Dauer nur bestehen können, wenn sie weit über die bisherigen Bemühungen im Supply Chain Management hinaus alle Potentiale horizontaler und vertikaler Kollaboration ausschöpfen. In diesem Zusammenhang wird unter dem Stichwort „Enterprise 2.0“ einige Hoffnung auf den Kultur verändernden Einfluss der Einführung der neuen Kommunikationstechnologien gesetzt.

Wie wir in einer unserer Studien nachweisen konnten, wird sich der notwendige kulturelle Wandel allerdings nicht im Selbstlauf über einen Generationenwechsel ergeben. Auf der Basis von 200 qualitativen Interviews mit Menschen, die das Internet intensiv nutzen (heavy user), konnten wir keinen Zusammenhang zwischen der altersabhängigen Erfahrung mit dem Internet (Digital Natives) und persönlichen Wertepräferenzen feststellen, die einen Umgang mit selbstorganisierenden Netzwerken begünstigen.

10. Das im Internet bestehende Missverhältnis zwischen der erlebten Flüchtigkeit von Interaktionen und der dauerhaften Speicherung hinterlassener Spuren erhöht systembedingt das Risiko von Missbrauch.

Die Leichtigkeit der persönlichen Kontaktaufnahme und der Interaktionen im Internet suggeriert dem Nutzer die Flüchtigkeit des Gesprächs und führt psychologisch zu einer eklatanten Unterschätzung der Risiken, die sich durch die hinterlassenen Daten ergeben. Zusätzlich verdeckt die in alltäglichen Kommunikationssituationen gemachte Erfahrung, dass der Empfänger einer Information meistens aktiv adressiert werden muss, den irritierenden Umstand, dass im Internet die Verbreitung einer Information nicht durch die Anbieter sondern die Nachfrager bestimmt wird. Für eine realistische Abschätzung der Auswirkungen von Kommunikation in Netzwerken fehlt den Menschen aus psychologischer Perspektive einfach jede Intuition.

Entsprechend groß ist dann die Überraschung, wenn die Veröffentlichung einer Partyeinladung in einem sozialen Netzwerk gleich mehrere tausend Gäste anlockt, wenn man durch einen einzelnen Tweet unversehens ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird oder wenn einem die Bilder längst vergangener Jugendsünden eine aktuelle Karriereperspektive verhageln. Während Eingriffe in die Inhalte oder Beschränkungen des Zugangs zum Internet so weit als möglich vermieden werden sollten, ist eine Kontrolle des Umgangs mit den gespeicherten Daten zum Schutz der Nutzer unbedingt erforderlich.

Insbesondere, wenn sich die Möglichkeiten der Analyse der im Internet hinterlassener Spuren tatsächlich zum nächsten Internet-Boom entwickeln sollte, ist zu hoffen, dass die Durchsetzung von Regeln und Kontrollmechanismen Schritt halten kann. Um für das aller Voraussicht nach unvermeidliche Wettrennen angemessen gerüstet zu sein, sollte darüber nachgedacht werden, ob die Auswirkungen des Internets auf die Innovationskraft und Organisation der Gesellschaft nicht die dauerhafte Etablierung eines unabhängigen Instituts rechtfertigt.

Beitrag zur öffentlichen Anhörung am 5. Juli 2010 der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft
Prof. Dr. Peter Kruse, geschäftsführender Gesellschafter der nextpractice GmbH Bremen

Die Stellungnahme als PDF.

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