#Fußball-WM

Einigkeit und Recht und Spitzensteuersatz

von , 28.6.10

Geht es wirklich nur ums Geld, oder wieso fährt eine Mannschaft zur Weltmeisterschaft? Wieso geben junge Menschen ihren verdienten Sommerurlaub auf, um sich stattdessen im südafrikanischen Winter in die Knochen treten zu lassen? Ist ihr Antrieb die Siegprämie? Im Falle von Deutschland wurden immerhin 250.000 Euro pro Nase für den vierten Titelgewinn ausgeschrieben. Das sind 747,7 mal Hartz IV (ohne Miet- und Heizkostenzuschuss) für jeden, aber nur 12,5 Prozent des Jahresgehalts ihres Kapitäns Philipp Lahm bei Bayern München.

Es ist nicht anzunehmen, dass unsere Mannschaft schlechter gespielt hätte, wenn sie die potentielle Prämie statt zum aktuellen Spitzensteuersatz von 45 Prozent (=112.500.- Euro) mit 53 Prozent (=132.500.- Euro) hätte versteuern müssen, so wie das letzte Mal, als sie den Titel 1990 gewann. Für den Deutschen Fiskus macht das bei 23 Spielern alleine eine knappe halbe Million Unterschied aus. Beim Titelgewinn 1974 waren es sogar noch 56 Prozent Steuern, die in der Spitze zu zahlen waren.

Die elf Mann denken garantiert nicht an Geld, wenn sie auf dem Rasen stehen und die Nationalhymne erklingt. Egal, ob sie gerade Koransuren runterbeten, wie angeblich Mesut Özil, oder sich versuchen an den Text zu erinnern, so wie es manchmal bei Lukas Podolski wirkt, ihr Antrieb dort zu sein ist eine Mischung von Ehrgeiz, Ehre und Spaß.

Noch viel lieber als „Einigkeit und Recht und Freiheit“ würden die Jungs aus dem Volke sicher die geheimen Nationalhymnen mitsingen. Egal, ob Grönemeyers „Mensch“ oder Westernhagens „Freiheit“. Bei beiden Songs wäre das gesamte Team wahrscheinlich geschlossen textsicher. „Mensch“ handelt von der Sehnsucht, in Würde scheitern zu dürfen, „Freiheit“ vom Traum unvernünftig und ekstatisch zu sein. Das eine Bedürfnis ist zutiefst katholisch und passt zum gemütlich wirkenden Sänger aus dem Ruhrpott, das andere ist wie das Sprengen enger, protestantischer Fesseln und wird in Form und Auftritt des schmalen Düsseldorfer Musikers sehr glaubwürdig. Obwohl in den persönlichen Biografien einige Kilometer fehlen, um das Bild rund zu machen, wirkt es wie nördlich und südlich von Rhein und Main und beides ist trotz Glaubensgrenzen extrem Deutsch. Deshalb sind beide wohl auch so eine Art deutsche „Über-Musiker“ geworden und wurden von den Medien als Antipoden aufgebaut.

Mittlerweile kreuzen sich ihre Wege wieder. Der eine entzieht sich nicht mehr durch seinen früheren Wohnort London, den anderen trifft man nicht mehr nur in den ruhigen Seitenstraßen Hamburgs. Genauso wie die Bundesregierung sind sie immer öfter in Berlin zu sehen. Anders als diese pendeln sie dabei aber nicht zwischen Regierungsgebäuden und Amtsvillen in Zehlendorf oder Prachtwohnungen im Prenzlauer Berg, sondern begeben sich in den Kulturbetrieb, der sie mit allen Facetten Berlins versorgt. Als Künstler sind sie neugierig und erkunden jeweils auf ihre Weise Stadt und Szene. Sie haben bereits das glamouröse Berlin kennengelernt, aber auch das dreckige und prekäre.

Kein Wunder also, dass sie unabhängig voneinander zu denselben Schlüssen kommen, wenn es um das Sparpaket der Bundesregierung geht. Öffentlich bekunden sie, dass nicht einzusehen ist, dass die Krise auf den Rücken der Ärmsten ausgetragen wird, während der Spitzensteuersatz für Großverdiener wie sie unverändert auf einem historischen Tiefpunkt bleibt. Beide haben sicher auch viele Kosten, denn um sie herum sind Strukturen entstanden und daher haben beide nichts zu verschenken. Aber sie haben, genauso wie Özil, Podolski und Co den Luxus nicht nur für Geld sondern für ihre Leidenschaft zu arbeiten.

Die meisten Spitzenverdiener treten nicht nur ob des Gehaltschecks in ihren Praxen, Firmen oder auf der Bühne an. Sie wollen Menschen helfen, sich selbst beweisen, ihrer Seele Luft machen oder eben einmal in ihrem Leben Weltmeister werden. Ein paar Prozent Steuern mehr oder weniger tun ihrer Motivation keinen Abbruch und sind sozial gerecht. Es ist zu hoffen, dass sich Özils und Podolskis Traum noch erfüllt, wie er sich für Grönemeyer und Westernhagen sicher schon erfüllt hat und dass irgendwann alle mit ein paar Prozentpunkten mehr zur Gesundung der Finanzen der Gemeinschaft beitragen werden.

Dieser Text von Tim Renner erscheint auch im Motorblog.

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