#Gouvernementalität

Der Neoliberalismus wird uns erhalten bleiben – als Technik des Selbst

von , 12.12.08

Dieser Text ist die Kurzfassung des Beitrags “Rückkehr des Politischen”, der ebenfalls auf CARTA erschienen ist.

Es war zweifellos eine der ersten und auffälligsten Folgen der globalen Finanzkrise: dass binnen weniger Wochen etwas plötzlich wieder als öffentlich diskutierbar galt, was dies im Grunde zehn, zwanzig Jahre lang nicht mehr war: “Konjunkturprogramme”. Und dass immer mehr neoliberale Denkverbote fallen, scheint überhaupt zu den nachhaltigsten Folgen der Krise zu zählen. Entsprechend häufen sich bereits die Nachrufe: Auch ein Ökonomie-Nobelpreisträger antwortete so gerade jüngst in einem Artikel zur Finanzkrise auf dessen Titelfrage “Das Ende des Neoliberalismus?” mit einem klaren “Ja“.

Noch eindringlicher sind zudem die Formen, in denen dieser Erdrutsch sich in den Medien abbildet; und vor allem die eigentümlich emblematischen Momente, die dabei immer wieder herausspringen. Wie am Abend des 11. November – als man in der ARD plötzlich “Das Kapital” in die Kamera gehalten fand. Von Sandra Maischberger. Zum Auftakt einer Talk-Sendung unter dem launigen Titel: “Marx hatte recht! Gebt uns den Sozialismus zurück”. Hier hält man sich gewissermaßen nicht lange mit Totenwachen auf. Hier wird die klaffende Lücke sofort wieder gefüllt, folgt sogleich die Wiederauferstehung Totgesagter.

Da meint man dann schon recht heftige Erschütterungs- und Schockwellen durch die gesellschaftliche Gesamtstatik rumpeln zu hören. Werden nun also auch alle öffentlichen Debatten künftig wieder ein ‘Primat der Politik’ als selbstverständlich unterstellen? Geht es bald nur noch darum, in welcher Form genau man den Wohlfahrtsstaat wieder herstellen sollte? Wie viele Milliarden zusätzlich für Bildung und Kultur aufzuwenden wären und wo der Staat sonst noch massiv investieren und eingreifen sollte? (Und nicht mehr darum, ob er das überhaupt tun sollte und darf?) Ist mit dem ganzen Neoliberalismus also nun wirklich richtig Schluss? Kommt die neoliberale Epoche nun endlich auf den Müllhaufen der Geschichte, auf den sie gehört (den für besonders heftig strahlenden Abfall)?

Versteht man unter ‘Neoliberalismus’ einfach eine ‘Wirtschaftsideologie’, so scheinen die Chancen dafür zur Zeit zunächst tatsächlich nicht schlecht zu stehen. Ein solches Verständnis aber greift deutlich zu kurz: Der neoliberale Staat und die neoliberale Wirtschaft finden sich längst durch eine Vielzahl neoliberaler ‘Selbsttechniken’ ergänzt. Und deren alltägliche Bedeutung bleibt von der Desavouierung neoliberaler ‘Wirtschaftsideologie’ nun auch erst einmal ganz unberührt. In dieser Form, als Technik des Selbst, bleibt uns der Neoliberalismus also auch weiterhin (und wohl noch für lange) erhalten.

Dies hat zudem auch Konsequenzen für die Folgen der Wirtschaftskrise – nicht zuletzt im Hinblick auf die Zukunft des Neoliberalismus selbst. Denn so weit es die neoliberalen Alltagspraktiken und Selbsttechniken angeht, so könnte die Krise ihnen sogar überhaupt erst wieder einen neuen Sinn verleihen: als (scheinbar) probates Mittel, um persönlich relativ unbeschadet ‘durch die Krise’ zu kommen.

Jedenfalls wäre unter ‘Neoliberalismus’ zunächst einmal weit mehr zu verstehen als einfach nur ‘Marktradikalismus’: als die offene Verteufelung von ‘politischen Eingriffen’ in ‘die Wirtschaft’ und die Verteilungsmechanismen des ‘reinen Marktes’. Neoliberalismus bedeutet (in der Folge) vor allem totale Privatisierung und Individualisierung. Alle Lebensrisiken und alle Fragen der persönlichen Daseinsvorsorge werden an das Individuum ‘zurückdeligiert’ – und entfesseln hier eine ungekannte Aktivität, nötigen besonders an dieser Stelle zu neuartiger Produktivität. Die Abrüstung der öffentlichen Sicherungssysteme wird sozusagen durch eine Aufrüstung des Einzelnen kompensiert.

Darum besteht das Ergebnis von dreißig Jahren Neoliberalismus dann auch vor allem in einer ungeheuren Vielfalt neuartiger Praktiken und ‘Selbsttechniken’, die inzwischen den Alltag des Einzelnen durchziehen – und nun (anstelle staatlicher Sicherungssysteme) versprechen, ihn sicher durchs Leben zu bringen, alle lauernden Untiefen clever umschiffen, und alle Probleme letztlich glücklich bewältigen zu können. Und nicht zuletzt sind es diese Mikropolitiken des Selbst, die den Neoliberalismus dann auch erst zu einem relativ stabilen Herrschaftstypus haben werden lassen.

Im Anschluss an Michel Foucaults ‘Gouvernementalitäts’-Studien (seinen Untersuchungen zur Geschichte moderner ‘Regierungstechniken’ also, könnte man vereinfacht sagen) haben sich die Analysen neoliberaler Selbst-Regierungstechniken inzwischen vielfältig verzweigt. Dabei sind ihnen immer mehr heutige Alltagspraktiken in den Blick gekommen. So nicht zuletzt auch die heutigen Möglichkeiten zu ‘selbstbestimmter’ Mediennutzung beispielsweise, die vielfältigen Möglichkeiten also, bei der Wahrnehmung des verfügbaren Angebots selbst selektiv tätig zu werden, beziehungsweise im Hinblick auf die Selektion selbst eine erhebliche Produktivität zu entwickeln (das Angebot zahlloser Sparten-Fernsehkanäle zu prüfen, einige zu abonnieren, andere nicht; die Möglichkeiten, alles rasch ‘herunterzuladen’, endlose Archive anzulegen, DVDs zu sammeln – und zu entscheiden, wann man was, in welcher Reihenfolge und mit welchen Prioritäten, ‘durchsieht’ usw.). Und in diesem Sinne ließe sich dann auch noch die Möglichkeit zur regelmäßigen Auswertung individuell zusammengestellter, auf das eigene ‘Nutzerprofil’ abgestimmter Datenmengen nennen. Oder der offenbar zunehmend selbstverständliche Rückgriff auf Motivations- und Psychotechniken, die die ‘Arbeit an sich’ in ‘Highspeed’ zu phantastischen Erfolgen zu führen versprechen.

Unendliche Möglichkeiten ‘selbstbestimmter’ Mediennutzung

In all dem deutet sich zugleich auch schon an, was nach Michel Foucault als zentraler Effekt der ‘neoliberalen Epoche’ zu verstehen wäre: dass diesen neuen Praktiken und Selbsttechniken schließlich auch noch eine neue Form von ‘Subjektivität’ (von subjektiven ‘Selbstverhältnissen’ und ‘Selbstverständnissen’) entspringt – die im Gebrauch dieser Praktiken zugleich fortlaufend reproduziert und bestätigt wird. So lange bis sie sich selbst dann ganz natürlich erscheint. Und der neoliberale Staat und die neoliberale Wirtschaft im Grunde bloß noch wie der passende und selbstverständliche Rahmen, ja geradezu als der idealste aller nur denkbaren Lebensräume für diese ‘neuen Individuen’ und ‘Subjektivitäten’ – die sich selbst nun als grenzenlos flexibel entwerfen, und ihr Leben als zu managendes Risiko.
In Gestalt seiner ‘neuen Subjekte’ und deren Alltagspraktiken hat der Neoliberalismus sich sozusagen seine eigene ‘Kultur’ erschaffen und ist seither nun insbesondere hier produktiv und höchst lebendig: als kulturell-mediale Alltagspraxis, als ‘postmoderne’ Lebensweise, als neuartige Lebensform. Und das heißt vor allem: Er hat insgesamt erheblich an Schwerkraft gewonnen, ist zu einer Art neuer Tradition geronnen und hat sich so zugleich auch zu einem geradezu epochalen Syndrom verdichtet – aus dem man darum nun auch nicht mehr so ohne Weiteres ‘aussteigen’ kann.

Was bedeutet dies alles also für die Frage nach einem möglichen Ende des Neoliberalismus? Die erste Voraussetzung dafür wäre offenkundig, dass (auch) die neoliberale Lebensform deutlich enttäuscht – sie also deutlich fühlbar und unübersehbar unattraktiv würde. Dagegen scheint sie sich nun aber schon sozusagen selbst-immanent immunisiert zu haben: Wenn man mit ihr nicht glücklich ist, nicht zum Zuge kommt, liegt es ihrer Logik nach ja stets an einem selbst (und man müsste sich also nur nochmals intensiver und kompromissloser auf sie einlassen).

Vor allem darf man aber auch ihre (tatsächliche) Attraktivität, noch einmal in einem ganz anderen Sinne, nicht unterschätzen: Mit der neoliberalen Lebensweise hat sich nämlich nicht zuletzt auch ein gemeinsamer Traditionsbestand von Liberalen und Linken gegen alle Restbestände konservativer Anthropologie durchgesetzt (die behauptete, der Mensch bedürfe ‘von Natur’ aus stets der Hilfe durch übermächtige Institutionen). Auch wenn der Neoliberalismus dabei den Sinn und die Stoßrichtung aller liberalen und linken Kritik an institutioneller Bevormundung vollends verdreht hat: Zielte die liberale und linke Kritik in diesem Zusammenhang auf die Einsicht, dass Menschen sehr wohl ein Höchstmaß an Selbstständigkeit, Selbstverantwortung und Flexibilität zugetraut und zugemutet werden könne, wenn es um ihre ‘Emanzipation’, also um echte Verbesserungen persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse geht – so sollen im Neoliberalismus nun alle auch aus reinem Selbstzweck flexibel und selbstständig sein wollen. Die Frage, ob das ihnen selbst oder irgend wem (oder irgend was) sonst wirklich etwas bringt, wird dagegen nun auf ewig verschoben. Es gibt im Neoliberalismus keine Antwort mehr darauf. Es kann sein, es kann aber auch nicht sein. Man kann es nur ausprobieren.

Diese abgründige Sinnlosigkeit führt nun zugleich auch zum entscheidenden Zug der neoliberalen Epoche. Das Fehlen jedes überprüfbaren Ziels und Zwecks des Ganzen sorgt für einen unermesslichen Bedarf nach Ersatz für solchen rationalen Sinn. Und er findet sich – wo nicht in Form von Geld oder in dem biographischen Glück, sich eine erhebliche Distanz zur neoliberalen Lebensweise schaffen und erhalten zu können – in Angst. Angst vor Altersarmut, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Angst vor Kürzungen der Sozialleistungen, Angst davor, den nächsten nötigen Karriereschritt nicht zu schaffen.

Im Hinblick auf die gerade erst beginnende globale Rezession macht dies alles klar, weshalb sie im Sinne der neoliberalen Lebensform letztlich dann leider auch so förderlich und produktiv wirken dürfte: In ihrem Gefolge dürfte die Angst bald erst recht wieder kommen, noch mehr Menschen noch unmittelbarer betreffen, und an noch mehr Stellen noch mehr verzweifelte Aktivität freisetzen.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Textes “Die Rückkehr des Politischen?“. Die ungekürzte Fassung findet sich hier.

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