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Westminster hängt: Kränkung der “Vorzeige-Demokratie”

von , 7.5.10

Die Wahlnacht in Großbritannien nimmt den erwartet spannenden Verlauf. Während allmählich die Ergebnisse aus den Wahlkreisen verkündet werden und sich so die neue Sitzverteilung für das Unterhaus ergibt, zeichnen sich einige Resultate ab, die in den nächsten Tagen (oder Wochen) noch für Diskussionsstoff sorgen werden.

Hung Parliament
Zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale sieht es so aus, als würde es keine absolute Mehrheit für eine der großen Parteien geben. Was andernorts der Normalfall ist, treibt vielen Briten schon seit Tagen Sorgenfalten auf die Stirn. Eine Koalitionsregierung in Westminster wirkt wie ein politisch-kultureller Bruch, der die politische Klasse vor neue Herausforderungen zu stellen scheint. Insbesondere für die Konservativen, die das hung parliament im Wahlkampf als Schreckgespenst skizziert haben, könnte der Umgang mit der Patt-Situation zu einer Gratwanderung der Glaubwürdigkeit werden.

Das LibDem-Paradox
Eine nächste Auffälligkeit ist die Diskrepanz zwischen elektoraler Unterstützung und elektoralem Erfolg der Liberaldemokraten unter dem “gefühlten Wahlkampfsieger” Nick Clegg. Voraussichtlich erreicht die dritte Kraft einen Spitzenwert bei den Stimmanteilen, ohne allerdings die Anzahl ihrer Sitze im Unterhaus signifikant verbessern zu können. Im BBC-Exitpoll bei Schließung der Wahllokale waren sogar leichte Verluste gegenüber 2005 prognostiziert worden. Dadurch gerät das – von vielen als überholt angesehene – Mehrheitswahlrecht in den Mittelpunkt der Diskussion. Wesentlicher Kritikpunkt ist das “first past the post”-System, das den Gewinner (oder die Gewinnerin) der einfachen Mehrheit in den 650 Ein-Personen-Wahlkreisen mit dem Einzug ins Parlament belohnt. Auf diese Weise entstehen viele “wasted votes” – Stimmen für ungewählte Kandidaten meist kleiner Parteien, die nicht im Parlament repräsentiert werden. Das vermutliche Scheitern der Liberaldemokraten, die trotz einer breiten Unterstützung im Land nicht adäquat im Parlament vertreten sein werden, wird die Debatte um die Modernisierung des Wahlsystems befeuern. Es scheint naheliegend, dass künftig ein stärkerer Anteil von Elementen aus dem Verhältniswahlrecht eingefordert werden.

Missing Ballot Papers
Zusätzliche Munition dürften die Kritiker des Wahlsystems durch die vielen Berichte über Probleme und Engpässe in Wahllokalen erhalten: in den ersten Stunden nach Schließung der Wahllokale wurden mehrfach Polizeieinsätze geschildert, die enttäuschte Wählergruppen vor geschlossenen polling stations zerstreuen mussten. Die Aussagen der Wähler klingen bisweilen bizarr: “As I eventually got to the table a student was almost in tears as she thought I was going to take her place and she told me she had queued for two and a half hours!” (zitiert aus dem BBC-Liveticker). Auch scheinen handgreifliche Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen, so zeigte der Sender Sky News Bilder eines Streits von “gescheiterten Wählern” mit Mitgliedern der lokalen Wahlleitung, vereinzelt wurde auch der Abtransport der Wahlurnen blockiert. Es würde nicht wundern, wenn morgen Parallelen zur Skandal-Wahl in den USA 2000 gezogen werden – erst der umstrittene “Florida Re-Count” hatte damals die Wahlentscheidung zugunsten von George W. Bush erbracht. Schon ist die Rede von “legal consequences”, wobei eine Wahlanfechtung wohl nur in der yellow press ein größeres Thema werden dürfte.

Dennoch wird es spannend sein zu beobachten, inwiefern die “Vorzeige-Demokratie” von Westminster mit einer solchen “Kränkung” umgehen wird. Die unzureichende Ausstattung von Wahllokalen mit Papier und Personal wirkt wie ein Anfängerfehler, den OSZE-Beobachter gewöhnlich neuen Demokratien im östlichen Europa ins Stammbuch schreiben. Zugleich bietet sich hier einmal mehr an Ansatzpunkt für die Wiederaufnahme der Debatte um den Einsatz von Wahlmaschinen – genau solche Situationen könnten wohl vermieden werden, wenn automatisierte Systeme zur Erfassung von Wählerstimmen zum Einsatz kämen.

Es deutet sich an, dass die General Election auch in den nächsten Tagen noch Stoff für weiter führende Diskussionen liefern wird. Das eigentliche Wahlergebnis scheint dabei nur in zweiter Linie interessant – die tiefer liegenden Probleme wie die Möglichkeit einer Koalitions- oder Minderheitenregierung, eine Reform des Wahlrechts und die Modernisierung der Stimmabgabe dürften die bleibenden Themen des britischen Wahljahrganges 2010 sein.

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