#"politische Rede"

Analyse der Regierungserklärung: “Angela Alternativlos” am Scheideweg

von , 6.5.10

“Und wenn ich die Gabe der Rede aus Eingebung habe und alle Geheimnisse weiß und alle Erkenntnis, und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze, habe aber die Liebe nicht, so bin ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung austeile, und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich verbrannt werde, habe aber die Liebe nicht, so nützt es mir nichts.” (1. Korinther 13,2)

Die Bundeskanzlerin verfügt weder über die Gabe der Rede aus Eingebung noch über allen Glauben, der Schuldenberge versetzte. Ihre Regierungserklärung vom 5. Mai 2010 sehe, höre und lese ich nicht als Ökonom, nicht als Politikwissenschaftler, schon mit dem durch die Fächer zugewachsenen Wissen, aber skeptisch, ob das in einer historisch beispiellosen Situation hilft.

In der jüngeren europäischen Geschichte gab es zuletzt die Rede Winston Churchills (Blut, Mühsal, Schweiß und Tränen), die auf eine vergleichbare Situation antwortete. Helmut Kohl hat zu Recht bei seiner Rede zu seinem 80. Geburtstag darauf verwiesen, dass es eine Frage von Krieg und Frieden sei. Dieses Mal bedroht nicht die deutsche Wehrmacht das Vereinigte Königreich. Dieses Mal steht das europäische und damit auch das weltweite Finanzsystem unter dem Beschuss durch spekulative Massenvernichtungswaffen.

Ihren Medienblitzkrieg trug Angela Merkel Anfang dieser Woche im roten Feuerwehrhabit vor. Zur Regierungserklärung trug sie moosgrün. Ihr Spiel mit den Farben erscheint wie ein mimetischer Trick, wie ein Blitzableiter, wie der Versuch, “die anderen” farblich in Haftung dafür zu nehmen, was sie, nun selbst in der Regierungsverantwortung, auf den Weg bringt.

Ich hüte mich davor, mit meiner rhetorischen Analyse in die Kakophonie der Finanzmarktauguren einzustimmen, sondern werde den Text der Rede Angela Merkels nach dem mir vorliegenden vorläufigen stenographischen Protokoll des Deutschen Bundestags durchsehen. Dabei kommt mir das eine oder andere ordnende Echo aus der Berichterstattung der letzten Tage sekundierend zur Hilfe.

“Die Bundesregierung hat am Montag vor dem Hintergrund der durch Griechenland ausgelösten Krise ein Gesetz zur Stabilisierung der Währungsunion in Europa beschlossen.”

Das Parlamentsdokument insinuiert etwas Anderes. Auf dem Titelblatt der Drucksache 17/1544 steht “Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP”. Die Bundeskanzlerin ist weder Herrin des Verfahrens noch in der Lage, in der Restfunktion, die sie wahrnimmt, ihre Missachtung des Parlaments, die ihr erster Satz zum Ausdruck bringt, zu verbergen.

Als Physikerin beschreibt sie in vorsätzlicher Unschärfe, dass die Krise durch Griechenland “ausgelöst” sei. Kein Wort zu den Ursachen der Krise, kein Wort zu den Akteuren, kein Wort zur Verantwortlichkeit.

“Die Notsituation besteht darin, dass Griechenland faktisch keinen Zugang zu den Finanzmärkten mehr hat. Daraus wären Auswirkungen auf die Stabilität des Euro insgesamt entstanden. Das Vorliegen dieser Notsituation wurde durch die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und den Internationalen Währungsfonds festgestellt. Dieser Notsituation soll mit einem Programm von IWF, EU-Kommission und EZB begegnet werden.”

Das ist in höchstem Maße kodifizierter Text, mit dem nach Beschlussfassung des Deutschen Bundestags die Vertreter der Bundesregierung das Gesetz in Karlsruhe verteidigen werden. Wollte Frau Merkel den Ernst der Lage beschreiben, dem Wortlaut ihres Amtseids nach Artikel 56 des Grundgesetzes folgend, dann hätte sie an dieser Stelle die Gelegenheit gehabt, auf die Schulden Griechenlands bei deutschen Banken zu verweisen (45 Mrd. €, überwiegend bei Banken im Staatsbesitz oder mit hoher Staatsbeteiligung), auf das Risiko einer weltweiten Kettenreaktion, vergleichbar dem Fall der österreichischen Creditanstalt 1931, auf Versäumnisse der vergangenen 20 Monate, auf ihr bisher nicht eingelöstes Versprechen einer “schonungslosen Analyse”. Sie hätte mit Offenheit die Basis für eine breite parlamentarische Mehrheit geschaffen. Das scheint aber nicht ihr Anliegen zu sein.

“Wir sind heute hier zusammengekommen, weil wir in erster Lesung über ein Gesetz entscheiden müssen, das eine enorme Tragweite hat. Es ist – das kann nicht klar genug formuliert werden – von enormer Tragweite für Deutschland und für Europa. Die Überschrift dessen, was wir beraten – „Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität der Währungsunion“ –, bringt diese Tragweite unzureichend zum Ausdruck. Worum es tatsächlich geht, wenn wir in diesem Hause über Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität der Währungsunion beraten, müssen wir unmissverständlich beim Namen nennen: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft Europas und damit um die Zukunft Deutschlands in Europa. Das erlegt uns allen, die wir im Deutschen Bundestag unser Volk vertreten, sei es in der Regierung, sei es in der Opposition, eine außerordentlich große Verantwortung auf. Selten gibt es solche Situationen. Selten gibt es Situationen, in denen, erstens, ohne historisches Vorbild, zweitens, mit unmittelbarer Wirkung für den Augenblick und, drittens, mit weitreichender Wirkung für die Zukunft unseres Landes und Europas entschieden werden muss. Heute ist ein solcher Tag. Niemand kann uns, den gewählten Vertreterinnen und Vertretern unseres Volkes, diese Verantwortung abnehmen.”

Die Bundeskanzlerin beschreibt den Ernst der Lage und verfehlt im weiteren Vortrag den selbst gesetzten Maßstab, die Tragweite zum Ausdruck zu bringen.

“Ohne uns, gegen uns kann und wird es keine Entscheidung geben. Ohne uns, gegen uns kann und wird es keine Entscheidung geben, die ökonomisch tragfähig ist und den rechtlichen Anforderungen sowohl mit Blick auf europäisches Recht als auch mit Blick auf nationales Recht in vollem Umfang Genüge tut. In einem Wort: Mit uns, mit Deutschland, kann und wird es eine Entscheidung geben, die der politisch-historischen Dimension der Situation insgesamt Rechnung trägt.”

In der Wiederholung des “ohne uns, gegen uns” ist das Drama auf den Punkt gebracht. Das “mit uns, mit Deutschland” bleibt vorsätzlich hinter der gebotenen rhetorischen Funktion zurück. Der Wille ist nicht da. Die Symbolik nicht. Die persönliche Ausdruckskraft nicht. Der größte einzelstaatliche Profiteur der europäischen Währungsunion verwandelt sich aus einem (durch die Franzosen getriebenen) Schrittmacher und Partner in einen Vetoplayer. Der Koloss auf der einen Seite der Waage betrachtet es nicht einmal mehr als politische Stilübung, sein Gewicht so zu verteilen, dass der Eindruck einer Balance entsteht. Das Drama des zu dicken Kindes hat nicht in den Stilfundus der Schreibstube im deutschen Bundeskanzleramt gefunden. Da ist es nun wieder und droht durch rechthaberisches Hüpfen den fliegengewichtigen Rest Europas in den Abgrund zu katapultieren. Ganz schlechter Eindruck.

“Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eurozone keinen Schaden nimmt. Warnungen, Skepsis und Zweifel, ob es richtig war, Griechenland den Zugang zur Euro-Zone zu gewähren, hat es im Jahr der Entscheidung, also im Jahr 2000, zuhauf gegeben. Es wurde auf die schlechte Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands hingewiesen, auf eine Überforderung des Landes insgesamt, unter dem Dach der einheitlichen Währung die notwendigen Anpassungen zu vollziehen. Dennoch muss im Jahr 2000 bereits frühzeitig eine vor allem politische Vorentscheidung zugunsten des Beitritts Griechenlands zur Euro-Zone gefallen sein. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich erwähne dies nicht, um in irgendeiner Form in eine Diskussion über Schuldzuweisungen und Verantwortung einzutreten.”

Das ist der politische O-Ton, nicht von “Madame No”, sondern der drachenblutgepanzerte Duktus der “Sorge tragenden” Kanzlerin. Ihre Panzerung transportiert wie von ferne ein giftiges Echo. Angela Merkel reaktualisiert eine Dolchstoßlegende gegen die Sozialdemokratie und ihre Koalitionspartner. Das “im Felde unbesiegt” der Obersten Heeresleitung ersetzt nun “der gute Europäer”. In der Stunde beispielloser Verantwortung nimmt Frau Merkel für den Fall des Scheiterns die Verantwortlichen in Haftung. Sie liebt es, ihre Hände in Unschuld zu waschen.

“Ich erwähne diese Warnungen, diese Skepsis und die Zweifel aus einem anderen Grund (…), weil das hilft, dass wir uns über den Ernst der Lage keinerlei Illusionen mehr machen, dass wir uns dem Ernst der Lage stellen. (…) Dies kann in einem Satz zusammengefasst werden: Europa steht am Scheideweg.”

So dreht sie den Dolch in der historisch verschorften sozialdemokratischen Wunde. Sie sind nicht nur schuld am Schlamassel. Sie stehen auch nicht zu der Verantwortung. Unernst krähen sie unsortiert herum. Die Bundeskanzlerin provoziert kalkuliert den Chor der wütenden Gegenstimmen. Sie werden gewogen – und vom dicken Kind für zu leicht befunden.

Das Gift ist mythisch potenziert. Mit dem Bild des Scheidewegs erinnert Angela Merkel an den griechischen Nationalheros Herakles, der am Scheideweg zwischen Tugend und Laster zu wählen hat. Wo die eine – und wo das andere verortet ist, daran lässt die Bundeskanzlerin in der Regie dieser Passage keinen Zweifel.

“Europa muss entscheiden, ob es den Weg der Vergangenheit fortsetzen will. Dieser Weg bestand zu oft darin, dass Probleme selten direkt beim Namen genannt wurden, dass sie in der Folge nicht konsequent genug angegangen wurden, dass zu oft gehofft wurde, es werde sich schon alles regeln und irgendwie gut gehen.”

Der mythische Scheideweg wird zudem durch ein pietistisches Bild überfrachtet:

“Gehet ein durch die enge Pforte.” Während die Franzosen, François Mitterand vorneweg mit Helmut Kohl, Deutschland europäischer machen wollten, hat es Angela Merkel darauf abgesehen, Europa schwäbischer zu machen. Nicht mehr das Lotterbett mit Konkubinen, sondern das härene Lager der Eisernen Kanzlerin, einer hybriden Wiedergängerin Bismarcks und Brünings, soll es richten helfen.

Indem Frau Merkel den Verantwortungslosen die Tradition eines “wishful thinking” zurechnet, immunisiert sie sich selbst mit ihrem Vorschlag gegen den Vorwurf, ihre eigene Rechnung mit zu vielen Unbekannten zu machen. Dieser rhetorische Präventivschlag steht in einer Tradition des Freund-Feind-Denkens, die Carl Schmitt mit seiner berüchtigten Studie “Der Begriff des Politischen” geprägt hat.

“Europa muss sich entscheiden, ob es diesen Weg fortsetzen will, dazu noch unter den Bedingungen der Globalisierung des 21. Jahrhunderts, oder ob es erkennt, dass auch für die Union der 27 Mitgliedstaaten ein Zeitpunkt gekommen ist, an dem sie ihre Kräfte vielleicht überschätzen könnte, an dem sie von ihrer Substanz und über ihre Verhältnisse lebt, an dem sie von Fehlentscheidungen der Vergangenheit eingeholt wird, die sich nicht mehr verdecken lassen, sondern im Gegenteil nur noch behoben werden können durch ein konsequentes Aufdecken, durch eine schonungslose Analyse der Lage und eine daraus folgende Therapie. Ich bin der Überzeugung: Dieser Zeitpunkt ist spätestens jetzt gekommen.
Die Bundesregierung hat sich deshalb für den zweiten Weg entschieden. Sie hat sich für den zweiten Weg entschlossen, weil sie überzeugt ist: Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft und damit vielleicht nur den Anschein erweckt, als ob er das Problem lösen würde. Ein guter Europäer ist vielmehr der, der die europäischen Verträge und das jeweilige nationale Recht achtet und so dazu beiträgt, dass die Stabilität der Euro-Zone und der ganzen Europäischen Union keinen Schaden nimmt. So, aber auch nur so kann es uns gelingen, den Kreislauf sich immer schneller und immer höher auftürmender Probleme zu durchbrechen. So beenden wir das Leben von der Substanz und über die Verhältnisse. So dienen wir dem Wohl Europas und Deutschlands.”

Auch dieser Abschnitt ist kodifiziert. Unter der pietistischen Oberfläche vom breiten oder schmalen Weg, unter dem Firnis der schwäbischen Hausfrau trägt Frau Merkel, soviel guten Willen kann man an der Stelle konzedieren, eine Initiative vor, den Amtseid nach Artikel 56 des Grundgesetzes europäisch zu erweitern. Das wäre löblich, wenn unter diesem Firnis die politische Arbeitsteilung nicht zu Lasten Dritter zustande käme: auf der einen Seite das Zinsen kassierende und ihre Einnahme durch Waffenverkäufe an die Schuldnerregierung sicher stellende dicke Kind, auf der anderen Seite der Schuldner unter Austeritätsregime.

“Auf dieser Grundlage hat die Bundesregierung in den Verhandlungen mit Europa auf allen politischen Ebenen von Beginn an wieder und wieder deutlich gemacht,  dass wir Hilfen an Griechenland nur in strikter Übereinstimmung mit dem europäischen Recht und dem deutschen Verfassungsrecht, das heißt, nur unter folgenden vier Voraussetzungen leisten werden und leisten können:
Erste Voraussetzung. Der Schlüssel zur Lösung der Krise liegt in Griechenland. Wir haben darauf bestanden, dass Griechenland sich zu einer umfassenden Eigenanstrengung verpflichtet. Eine Konsolidierung ohne maximale Selbsthilfe Griechenlands hätte im Widerspruch zu den bei uns durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die europäischen Verträge abgesicherten Prinzipien der Stabilitätsgemeinschaft gestanden. (…) Griechenland verpflichtet sich zu einer umfassenden, zu einer maximalen Eigenanstrengung. (…) Dieses Programm erfüllt deshalb unsere erste Voraussetzung.
Zweite Voraussetzung. Der Internationale Währungsfonds muss eingebunden werden. Wir haben darauf bestanden, auch wenn wir mit dieser Haltung in der Europäischen Union zu Beginn in der Minderheit waren. Es ist der Internationale Währungsfonds, der mit seinen Erfahrungen einen wertvollen – ich sage: unverzichtbaren – Beitrag zu einer erfolgreichen Umsetzung des griechischen Sanierungsprogramms leistet. Ohne Deutschland wäre es zu einer Einbeziehung des IWF nicht gekommen. (…) Mit der am 26. März auf dem Rat der EU-Staats- und Regierungschefs beschlossenen Einbeziehung des IWF wurde also auch die zweite Voraussetzung erfüllt..
Dritte Voraussetzung. Griechenland ist nicht mehr in der Lage, sich selbst auf den internationalen Kapitalmärkten zu refinanzieren. Dies ist nicht allein ein Problem Griechenlands, sondern Ausgangspunkt unabsehbarer Folgen für den gesamten Euro-Raum.
Deshalb gilt als vierte Voraussetzung: Die zu beschließenden Hilfen für Griechenland sind alternativlos, um die Finanzstabilität des Euro-Gebietes zu sichern. Wir schützen also unsere Währung, wenn wir handeln. (…) Die sofortigen Hilfen sind das letzte Mittel zur Gewährleistung der Finanzstabilität im Euro-Gebiet insgesamt. Sie müssen erfolgen, damit es nicht zu einer Kettenreaktion im europäischen und internationalen Finanzsystem und zu einer Ansteckung anderer Euro-Mitglieder kommt. (…) Eine erneute Finanzkrise würde zu spürbaren Wohlstandsverlusten und zu höherer Arbeitslosigkeit auch in Deutschland führen.
Im Übrigen wird klar: So richtig es ist, alles dafür zu tun, dass hemmungslosen Spekulationen an den Märkten Einhalt geboten wird und Ratingagenturen klaren Regeln unterworfen werden, so unabweisbar ist es, der ganzen Wahrheit ins Auge zu sehen. Ursache oder Auslöser für die Lage in Griechenland und die Folgen für den ganzen Euro-Raum waren nicht allein hemmungslose Spekulationen an den Märkten und das Verhalten der Ratingagenturen. Der Tag der ganzen Wahrheit war vielmehr der 22. April dieses Jahres. An dem Tag meldete Eurostat beim griechischen Haushaltsdefizit eine nochmalige Korrektur nach oben an. Es wurde deutlich: Die von Griechenland zu zahlenden Zinsen stiegen in exorbitante Höhe. Eine Refinanzierung Griechenlands am Kapitalmarkt wurde praktisch unmöglich. Damit stand die griechische Zahlungsunfähigkeit unmittelbar bevor. Einen Tag später, am 23. April, hat Griechenland um Hilfe nachgesucht.”

Auch dieser Abschnitt ist kodifizierter Rohtext für die Schriftsätze der Bundesregierung zur Abwehr angekündigter Klagen. Die Argumentation scheint in der Sprache der europäischen Institutionen und Arrangements stark zu sein. Sie bleibt eine Scheinriesenkette.

Warum? Frau Merkel verstößt gegen die zuvor von ihr selbst aufgestellte Regeln. Die schwäbische Hausfrau ist nicht bloß die geizige Kehrwochenmamsell, die ihre Heller hortet. Die Schwaben, die ich kenne, haben die Welt gesehen und kennen ihre Geschichte. Die hellsten Schwaben hat das Genielüftle weit weg getrieben – und deshalb wissen die Schwaben, dass es noch kein Beispiel in der jüngeren Geschichte gegeben hat, dass ein so weitreichendes Austeritätsregime ohne zwei Voraussetzungen gelungen wäre: eine Restrukturierung der Schulden (mit einer substanziellen Wertberichtigung, die die künftige Leistungsfähigkeit des Landes berücksichtigt) und einer gleichzeitigen massiven Abwertung der Landeswährung, um auf den internationalen Märkten wieder wettbewerbsfähig zu werden. So lange die Griechen in der europäischen Währungsgemeinschaft bleiben, sind ihnen diese beiden Maßnahmen verwehrt. Für das von CDU/CSU und FDP eingebrachte Gesetz gilt der Vorwurf, den Frau Merkel den Verantwortlichen des Jahres 2000 gemacht hat. Es lebt von wishful thinking: Das wird schon gut gehen. Schlimer noch: Der Gesetzgeber verschließt die Augen vor der ökonomischen Gewissheit, dass das nicht gut gehen kann. Die Ausschreitungen der letzten Tage geben nur einen kleinen Vorgeschmack davon, was politisch auf dem Spiel stehen wird. Paul Krugman weiß, warum er Zuflucht unter seinem Tisch sucht.

Der IWF ist ein erfahrener Akteur, mit seinem Chef Dominique Strauss-Kahn, der gerne französischer Staatspräsident würde, aber befangen. Frau Merkel hat mit ihrem Junktim die deutsch-französische Partnerschaft aufs Spiel gesetzt. Sie erklärt damit – auch gegen von ihr selbst vorgebrachte Optionen – ein Ende für das europäische institution building. Finanzminister Schäuble hat mehr von Helmut Kohl gelernt als “sein Mädchen”.

Warum Griechenland sich nicht mehr refinanzieren konnte, werden die Finanzhistoriker erforschen. Das Wechselspiel zwischen politisch-institutionellem Mäandern und wachsender Nervosität in den Märkten war eine in Kauf genommene Einladung an Spekulanten. Die eingeschobene Warnung an Marktakteure ist schon deswegen nicht einmal zum Nennwert zu nehmen, weil trotz aller dazu bekannten Lippenbekenntnisse seit der Lehman Brothers Pleite genug Zeit dafür gewesen wäre (von stabilen Mehrheiten ganz zu schweigen), gesetzgeberisch tätig zu werden.

Warum fühlt man sich bei der Gelegenheit an Peer Steinbrücks Zitat erinnert: “Wenn es auf den Weltfinanzmärkten brennt (…), dann muss gelöscht werden, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt.” Die amerikanische Erfahrung, den Brand zu löschen, auch wenn das extrem unpopulär war (im übrigen inmitten eines Präsidentschaftswahlkampfes, nicht nur vor regionalen Posemuckel-Wahlen, sorry liebe Heimat am Rhein!), kommt ebenso in den Sinn. Am Abgrund stehen und zaudern – das geht nicht gut.

Wider besseres Wissen benennt Frau Merkel in den Ausführungen zur vierten Voraussetzung den Sündenbock des Zahlenfriseurs. Sie blendet aus, wer behilflich war. Sie blendet aus, wer auf der anderen Seite des Geschäfts beteiligt war. Sie geht mit keinem Wort auf die Forderung eines deutschen Waffenproduzenten ein, sich vorab selbst an dem griechischen Hilfspaket für die Bezahlung der Waffen schadlos zu halten, die der Sündenbock gegen die eigene rebellierenden Bürger richten soll. Dieser Absatz wird – ich erinnere wieder an Winston Churchill – in die Geschichte der politischen Rhetorik eingehen. In der Stunde der Wahrheit Zuflucht zu Halbwahrheiten zu suchen, macht das Vorhaben dieses Gesetzes zu einem Kartenhaus auf trügerischem Grunde.

In der Struktur dieser Rede entsteht mit der Erläuterung zur vierten Voraussetzung eine Unwucht, mit der Frau Merkel ihre eigene Regierungserklärung aus den Angeln hebt. Entweder steht Europa am Scheideweg, vor der Qual der Wahl – oder das Vorhaben ist alternativlos. Beides zusammen geht nicht.

Damit bin ich beim Kernproblem dieser Rede, aber auch der Rednerin selbst angekommen. Sie bemüht das historische Tremolo der Stunde der Verantwortung, aber im Falsett. Es fehlt zu viel von dem, was die Spatzen von den Dächern pfeifen. Die Wahrheit ist nicht nur zumutbar. Sie ist bekannt.

“Hinzu kommt die Klärung einer Beteiligung der Gläubiger. Die Bundesregierung will in dieser Woche eine Entscheidung, die auch die Verantwortung der Banken und anderer Gläubiger deutlich werden lässt. Der Bundesfinanzminister hat dazu Gespräche geführt. Banken und Gläubiger dürfen sich ihrer Verantwortung nicht entziehen. Deshalb begrüße ich, dass es hierzu ganz offensichtlich eine Bereitschaft bei Banken und Gläubigern gibt. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Finanzwirtschaft plant, bestehende Kreditlinien an Griechenland und griechische Banken bis 2012 aufrechtzuerhalten.
Ich füge aber hinzu: Wenn sich die Banken von einem solchen freiwilligen Beitrag erhoffen sollten, dass wir sie gleichsam als Gegenleistung bei einer Bankenabgabe oder anderen Maßnahmen entlasten, dann haben sie sich gründlich getäuscht.”

Josef Ackermann hat hierzu, wie das Handelsblatt zitiert, gesagt: “Jeder nach seinen Möglichkeiten.” Das ist ebenfalls ein in höchstem Maße kodifizierter Satz. Er redet nicht vom Wünschbaren, nicht vom Notwendigen, auch nicht von Fähigkeiten, obschon dieser Schweizer ein überaus fähiger Mann ist. In den Code dieses Satzes ist ein Echo eingebaut, das zu einem berühmten Dokument zurückführt, zu Karl Marx´ “Kritik des Gothaer Programms” und der Beschreibung des Kommunismus: “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen”.

Nach dem schmählichen Scheitern des “real existierenden Sozialismus” bringt dieser Erbschleicher im Vorstand der Deutschen Bank die Chutzpe auf, den tatsächlichen Sachverhalt dieses Dramas mit einem entstellten Marx-Zitat auf den Punkt zu bringen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, zu Lasten der Völker dieser Welt extreme Profite zu machen, jedem nach seinen Bedürfnissen die dabei entstehenden Verluste auszugleichen. Denn darauf läuft das Gesetz hinaus. Es verschafft den Banken für “freiwillige Beiträge” staatlich verbürgte Zinsen.

“Mit den jetzt zu beschließenden Maßnahmen für Griechenland kann es nicht getan sein. Die Stabilität des Euro muss langfristig gesichert werden. Wiederholungen müssen vermieden werden. Die wirtschafts- und finanzpolitische Koordinierung und die gegenseitige Überwachung in Europa müssen verbessert werden. (…) Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Europäische Währungsunion langfristig auf ein stabiles Fundament gestellt wird. Dazu gehört eine schnellere und straffere Anwendung von Sanktionen gegen Euro-Mitgliedstaaten, die ihrer Verpflichtung zur Senkung des Defizits unter 3 Prozent nicht nachkommen. Dazu gehört eine Diskussion um verstärkte und vor allem wirksame Sanktionen bei Verstoß gegen den Stabilitätspakt. (…) Für den äußersten Notfall muss auch ein Verfahren für eine geordnete Insolvenz eines Mitgliedstaates entwickelt werden.”

Der Rest der Rede ist wieder Sammlung, historisches Tremolo, Kulisse. Was Frau Merkel mit den europäisch kodifizierten Textpassagen zu errichten versucht hat, bringt sie mit diesem Absatz unwiderruflich zu Fall. Alle vorgebrachten Argumente erweisen sich nach diesem Absatz als Schutzbehauptungen. Das einzige Ziel des Gesetzes ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, Zeit zu gewinnen. In das gleiche Horn hat der große Wirtschaftsweise Rainer Brüderle gestoßen und internationales Hossa-Echo erzielt. Wer dem Schuldner Luft verschafft und ihn für gewisse Zeit aus dem Markt nimmt, gleichzeitig aber den Gläubigern signalisiert, dass sie nach der Stillhaltefrist um eine Umschuldung und Forderungsverzicht nicht herumkommen, der beschleunigt die Kettenreaktion, die er unterbinden will.

Auf dem Weg in diese Krise hat Europa ein Vertragswerk geschaffen, das aus Furcht vor dem Ausnahmezustand diesen Fall unmöglich zu machen versucht hat. Der Stabilitätspakt war ein Pakt ohne den Gegenspieler. Der Teufel des Details war ausgeblendet. Nun stürmt der Durcheinanderwürfler mit Aplomb auf die Bühne. Dagegen soll der Gesetzgeber Hokuspokus schreien.

Es gab eine Zeit, in welcher Revolutionäre auf die Uhren schossen. Nun will man von Gesetzes wegen die Wirklichkeit abschaffen. Ich empfinde es als bedrückend, dass eine “bloß rhetorische” Analyse dieser Regierungserklärung die Webfehler und realpolitischen Unwuchten aufdeckt, die die Bundesregierung mit diesem Gesetz beantworten will.

Alternativlos am Scheideweg zu stehen, geht nicht gut. Ich suche nun auch Deckung.

Crosspost aus dem Rhetorik-Blog von Hans Hütt.

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